Dienstag, 23. Mai 2017

Rede für eine Verstorbene

Daß wir Menschen sterben, ist ein immer wieder unverstandener Teil unseres Lebens. Sich an die Begrenztheit unserer Lebenszeit zu erinnern, kann uns innehalten lassen und uns vor oberflächlicher Lebensgestaltung, Lebenszeit-Verschwendung bewahren. Im folgenden soll die Ansprache eines Schwiegersohnes wiedergegeben werden, die er im Mai 1996 gehalten hat für seine mit 85 Jahren gestorbene Schwiegermutter. Ihre zusätzliche Bedeutung erhält diese Ansprache durch den Umstand, daß der Sprechende selbst nur vier Monate später ebenfalls - ganz unerwartet - verstorben ist. Ein Mensch charakterisiert sich durch die Art, wie er über einen anderen Menschen spricht. Hier wird deutlich, was er als wesentlich, was er als unwesentlich wahrnimmt und benennt - auch für sein eigenes Leben. Deshalb gibt er dabei immer auch ein Bild von sich selbst. Die weiteren Worte dieses Beitrages stammen - soweit nicht anders angegeben - von Hermin Leupold. (I.B.)

Traueranzeige:
Wir trauern um unsere liebe Mutter Ingeborg Sch., 22.10.1911 - 4.5.1996. Nach einem langen erfüllten Leben ist sie unerwartet von uns gegangen. Ihre große Sorge galt ihrer großen Familie und unserem Volk. 

Rede für eine Verstorbene


Musik: Langsamer Satz, Es-Dur aus der g-moll Sonate für Flöte von Johann Sebastian Bach (Yt)
Einst

Und wenn ich selber längst gestorben bin,
Wird meine Erde wieder blühend stehen,
Und Saat und Sichel, Schnee und Sommerpracht
Und weißer Tag und blaue Mitternacht
Wird über die geliebte Scholle gehen.

Und werden Tage ganz wie heute sein:
Die Gärten voll vom Dufte der Syringen,
Und weiße Wolken, die im Blauen ziehn,
Und junge Felder seidnes Ährengrün,
Und drüberhin ein endlos Lärchensingen!

Und werden Kinder lachen vor dem Tor
Und an den Hecken grüne Zweige brechen,
Und werden Mädchen wandern Arm in Arm
Und durch den Sommerabend still und warm
Mit leisen Lippen von der Liebe sprechen!

Und wird wie heut' der junge Erdentag
Von keinem Gestern wissen mehr noch sagen,
Und wird wie heut' doch jeder Sommerwind
Aus tausend Tagen, die vergessen sind,
Geheime Süße auf den Flügeln tragen!

                                  Lulu von Strauß und Torney

Musik: Langsamer Satz, h-moll, aus der D-Dur-Sonate von Händel (Yt)

Abb. 1: Ingeborg Sch., 1986
Unsere liebe Inge, unsere liebe Mutter ist nun auf ewig entschlummert.

Vor nur zwei Wochen kam Mutter nach der glatt und glücklich verlaufenen Hüftoperation weitgehend schmerzfrei zu uns zurück. Sie hoffte, nach einem baldigen weiteren Aufenthalt in der Wiederherstellungs-Klinik bald wieder mit Freund Artur in der schönen Hegaulandschaft wandern zu können.

Obwohl nach den anstrengenden Operationen öfters müde, wirkte Mutter durch die kurze Haartracht verjüngt. War es dies oder die Reife der Lebensbahn, Mutters Antlitz hatte irgendwie noch feinere und fraulichere Züge gewonnen. Sonst war sie so wie immer, las gern, erzählte viel und dies meistens mit dem halb überlegenen und halb verlegenen Lächeln, das nur ihr so eigen war.

- Ja, wie schnell, ja, eigentlich innerhalb von nur drei bis vier Tagen hat sich alles geändert ...

Obwohl wir ja alle wegen der anderen schweren Krankheit große Sorge um Mutter haben mußten, schien jede ernste Veränderung so fern ...

Ja - trotz alledem - wir müssen Mutters Tod nun tragen.

Es bleibt uns heute nur, all die schönen und auch ernsten Erlebnisse, die wir mit Mutter teilen konnten, uns zu bewahren. Das Kleine, Zufällige wird mehr und mehr absinken. Und das Wesentliche allen gemeinsamen Tuns und Erlebens, das können wir bewahren und für unser weiteres Leben fruchtbar machen.

Das ist es sicherlich, was Inge wünschen würde, für sich selbst nichts, aber alles für die hohen, bleibenden Werte!

In diesem Sinne wollen wir heute einen Rückblick auf ihre nun abgeschlossene Lebensbahn werfen. Nur weniges kann an dieser Stelle gesagt werden, aber vieles mehr wird sicherlich in diesen Tagen und später in den Gesprächen aufgeweckt werden.

Im Jahr 1911 wurde Inge als die Älteste von fünf Schwestern in Pleß in Ostoberschlesien geboren. Die Laufbahn führte in so viele Gegenden deutscher Sprache und Kultur, vom schönen Wien, wo sie die Kindheit im Elternhaus verlebte, über viele Haltepunkte im Lande Salzburg, in Hessen und schießlich hierher zum Bodensee.

Wie ja auch Helga schon sagte, Höhepunkte der Jugendzeit waren die Überlandfahrten mit dem Wandervogel, von denen eine auch zum schönen Bodensee geführt hatte. Diese Fahrten und der Geist der Gruppe war für das ganze Leben prägend; sie weckten eine lebenslange Liebe zur Landschaft, zur Natur und zu unserer gemeinsamen Kultur. Wie gern und ausführlich hat Mutter uns - sozusagen noch gestern - davon erzählt!

Mutter erhält eine Ausbildung als Krankenschwester und hat auch in diesem Beruf gearbeitet. Aber wie gern hätte sie mehr gelernt, ein Studium begonnen! Doch die wirtschaftlich karge Zeit und das entscheidende Wort des Vaters stand dem Studium entgegen.

Aber immer war Mutter geistig breit interessiert und las und lernte immer.

Nun kommt ein entscheidendes Ereignis. Inge lernt auf einer Bergwanderung einen Künstler und vor allem Maler kennen! Er ist zwar schon 19 Jahre älter und war schon einmal verheiratet. Aber von vornherein verbindet eine gemeinsame Weltanschauung, schon auf den ersten Blick an einem Abzeichen erkannt. Hinzu kommt die gemeinsame Liebe zur Natur, zu den Bergen und zur bildenden Kunst. Nun waren die Heiratsgesetze in Österreich zu jener Zeit konfessionell so einschränkend, daß ein aus einer früheren katholischen Ehe Geschiedener nicht mehr heiraten konnte. So können die beiden erst drei Jahre später die Ehe schließen, als durch den Anschluß Österreichs an das Reich im Jahre 1938 eine freiere Gesetzgebung dies erlaubte.

- Die beiden stellten ihr Leben unter eine neue und eigene Lebens- und Gottauffassung, fern von den herkömmlichen christlichen Religionen.

Nach der Eheschließung 1938 entstand in Tamsweg und dann in Zell am See im Land Salzburg schnell eine große Familie: innerhalb von etwas weniger als 10 Jahren wurden 7 Kinder geboren: 3 Mädchen und 4 Jungen.

Aber nur 12 Jahre des erfüllten Zusammenseins waren geschenkt: Wilhelm Sch. starb unerwartet im Jahre 1950, im Alter von 58 Jahren.

Wir Jüngeren bedauern alle es sehr, daß wir ihn nicht selbst näher kennen gelernt haben. Die Bilder, die er malte, sind ein Spiegel seines Wesens.

Und nun muß ich von der Haltung und Leistung Mutters berichten, die nur zu bewundern und mit Erschütterung zu erfahren ist.

Beim Tod des Vaters war der Jüngste drei und der Älteste zwölf Jahre alt.

Mutter ist es gelungen, allein und trotz sehr bedrängter wirtschaftlicher Lage die sieben Kinder zu gesunden, bescheidenen und tüchtigen Menschen heranzuziehen, die alle eine gute Berufsausbildung erhielten, und von denen zwei sogar ein Hochschulstudium durchlaufen konnten.

Was aber vor allem anrührt, ist, daß Mutter über Jahrzehnte hin immer nur die Gebende war. Immer in allen Lebenslagen mußte sie da sein, alle Fragen allein beantworten, alle Probleme allein meistern, ohne klärende Rücksprache. Immer nur gefordert - aber eigentlich nie selbst von anderen seelisch beschenkt, wie es eine Zweisamkeit ja tun kann.

So wurde Mutter zu dem nach außen etwas herben, aber immer selbstlosen, tatfreudigen Menschen, der aller Naturschönheit und allem Guten aufgeschlossen und von unbestechlicher Wahrheitsliebe geleitet war.

Mutters Tatkraft und Einsatzwille war mit der Betreuung und Erziehung der eigenen sieben Kinder noch nicht erfüllt - sie fühlte sich auch der größeren Lebensgemeinschaft, unserem Volk zutiefst verbunden und verpflichtet - nicht in Worten, nein, im Tun und Wirken!

So half sie tatkräftig bei der Errichtung, Ausstattung (z.B. mit selbstgenähten Vorhängen und Bildern von Vaters Hand) und Betreuung eines Jugendheims im Salzburger Bergland mit. Sie kochte auch für die dort und anderswo abgehaltenen Ferienlager für unsere Jugend.

Und auch später, nachdem die Kinder ihre eigenen, selbständigen Ausbildungs-, Berufs- und Familienwege gingen, war Mutter immer bereit, die Töchter oder Schwiegertöchter zu entlasten, die Kinder vorübergehend zu betreuen.

Aber nun konnte sich die ununterbrochene Verpflichtung endlich mehr und mehr auflockern. Über eine geraume Zeit hinweg, erst im Hessenlande bei ihren Töchtern und dann im Hegau konnte jetzt das eigene Lesen, Lernen und Erleben in den Vordergrund treten. Immer wieder gab es eine kleinere Reise zu Vorträgen und Tagungen. Eine beeindruckend reiche Büchersammlung erzählt von Mutters immerwährendem Wissensdrang.

In diese letzten Jahre fällt auch die gute Freundschaft mit Artur. Gleicher Lebensausblick, stiller und wohltuender Austausch von Gedanken und Herzenswärme waren noch einmal geschenkt!

- So hat sich die Lebensbahn Inge Sch.s in reichem Schaffen und Erleben vollendet. Von diesem ausgefüllten Leben zeugen hier viele Kinder, Enkel und sogar Urenkel.

Im Angesicht dieses erfüllten Lebens sollte die Naturgesetzlichkeit des Todes uns nicht mit Gram und Enttäuschung erfüllen. Viel angemessener ist doch eine tieferlebte heilige Trauer, die zwar eine nah verwandte liebe Seele unwiderruflich schwinden, aber doch die Möglichkeit sieht, sie in der Erinnerung und in gleichem Wollen und verwandten Tun in uns lebendig werden zu lassen.

So können wir das Andenken an unsere liebe Tote am ehesten dadurch in uns wachhalten, daß wir uns ihr Vorbild der Liebe zur Wahrheit, zur Schönheit und das der hieraus erwachsenen Tat- und Gestaltungskraft, Selbstlosigkeit und Anspruchslosigkeit zu eigen machen und diesem Vorbild auf unsere eigene Weise zu entsprechen versuchen, bis auch uns der Mantel der Natur im eigenen Vergehen einhüllt, und die nach uns Kommenden alles weiterführen und weitergeben werden.

*  *  *

Musik: Thema des langsamen Satzes aus Apassionata von Ludwig van Beethoven (Yt)



Abb. 2: Morgenstimmung an einem märkischen See

Samstag, 13. Mai 2017

Charlotte Berend-Corinth - Die große Liebende

Der Maler Lovis Corinth - Im Spiegel der Erinnerungen seiner Ehefrau

Mit Dank für die Bücherspende (1)
von Seiten einer verstorbenen Leserin, 
durch die dieser Beitrag angeregt worden ist.

Wer etwas über die Werke des Malers Lovis Corinth (1858-1925) (Wiki) erfahren möchte, sowie darüber hinaus auch etwas über den Menschen Lovis Corinth, der kann nicht so leicht ein besseres Buch in die Hand nehmen als jene Erinnerungen von Charlotte Berend-Corinth (1880-1967) (Wiki) an ihren Ehemann Lovis Corinth, das sie 1957 mit 77-Jahren niedergeschrieben hat (1).

Ihre Ausführungen über Lovis Corinth und über ihre Ehe mit ihm (1, 2) lesen sich fast noch eindrucksvoller als dessen eigene Autobiographie. Sie können einem den Menschen und Maler Lovis Corinth sehr nahe bringen, ja, tief ans Herz legen. Und das heißt, daß Charlotte Berend ihren Ehemann "kongenial" verstanden haben muß.

Ihr Fortleben nach seinem Tod galt bis zu ihrem eigenen Lebensende seinem Andenken und der Pflege seines Andenkens. Dies geht noch gut aus dem mit 77 Jahren geschriebenen Buch "Lovis" (1958) hervor.

Lovis Corinth hat in seinem Leben immer wiederkehrenden Phasen schwerer Depression gehabt. Diese können natürlich auch rein künstlerische, bzw. menschliche Ursachen gehabt haben. Da Lovis Corinth aber schon im Jahr 1890 Freimaurer geworden war, wird wohl auch schon einmal die Frage gestellt werden dürfen, welche Rolle die Freimaurermitgliedschaft für ihn und sein Leben gespielt hat. Kann ausgeschlossen werden, daß diese depressiven Phasen bedingt oder mitbedingt gewesen sind durch seine Mitgliedschaft in der Freimaurerei? Seine Ehefrau schreibt darüber nichts, deutet darüber auch nichts an. Wir wollen diese Frage dennoch einmal aufgeworfen haben.

Abb. 1: Lovis Corinth - Selbstportrait mit schwarzem Hut, Anfang Februar 1912
Erstes Gemälde nach seinem Schlaganfall vom 19. Dezember 1911

Charlotte Berend-Corinth schildert zunächst den nordamerikanischen Kurort, an dem sie sich aufhält zu jener Zeit, in der sie ihre Erinnerungen niederschreibt (1, S. 12):

... Welch ein hübsches Bild bietet sich mir von hier: Inmitten grüner Rasenflächen sind weiße Petunien gepflanzt, die, von der Sonne durchwärmt, ihren Duft mit der Würze der Tannen vermischen; dahinter ein kleiner See, von Weidenbäumen umstanden, und ein Säulentempelchen mitten darin, das gleich den Bäumen umgekehrt noch ein zweites Mal als zittriges Spiegelbild auf der von zwei buntfiedrigen chinesischen Enten leicht gekräuselten Wasserfläche erscheint.

Ich genieße die freundliche Idylle - doch es bedarf nur eines Wimpernschlags, und sie ist weggewischt, und ich sehe mich, eine Einundzwanzigjährige, in Berlin-Halensee, Ringbahnstraße 24, in meinem Zimmer vor dem Spiegel den kleinen schwarzen Strohhut aufsetzen und die schwarzseidene Bluse glattstreichen ...
... und sie berichtet von dem Tag, an dem sie sich mit ihren Zeichnungen bei dem Maler Lovis Corinth vorstellte, um ihn zu fragen, ob er sie als Schülerin annehmen würde. Und sie berichtet (1, S. 15):
Corinth bertrachtet die erste Seite so ernst und so intensiv, als handelte es sich um eine Zeichnung von Dürers Hand.
Wie versteht sie es, fast jedes Werk von Lovis Corinth, das sie überhaupt nur erwähnt, dem Leser ans Herz zu legen. Erwähnt sie nur in einem Nebensatz eines seiner Werke, möchte man sogleich aufspringen und es zur Hand nehmen, um es selbst zu sehen. Dieser ganze Beitrag ist verfaßt worden, weil wir ständig angeregt worden waren beim Lesen, uns die Werke von Lovis Corinth genauer anzusehen. Gleich auf der ersten Seite hatte sie geschrieben (1, S. 7):
Indes, das Herz zählt die Jahre nicht. Lovis Corinths Gestalt und meine Liebe zu ihm sind in mir nicht verblaßt. Ich werde ihn lieben, so lange ich lebe. Der Schmerz um seinen Verlust durchdrang meine ganze Existenz, verschmolz mit ihr und gab ihr die Richtung. Dies ist die einfache Wahrheit: Mit jedem Pulsschlag denke ich an ihn, der die Mitte meines Daseins war.
In ihrem ersten Buch über ihren Mann, veröffentlicht im Jahr 1948, habe sie versucht (1, S. 8),
das gemeinsame irdische Leben zurück zu beschwören. Oftmals habe ich Lovis unsichtbar in meiner Nähe gespürt. Heute, als alte Frau, bewegt mich neben diesem Menschlichen besonders, und mehr als damals, der Gedanke an sein schöpferisches Gestalten. Unausgesetzt beschäftigt mich Lovis Corinths Lebenswerk.

Wie versteht es Charlotte Berend-Corinth, in ihren Büchern der Nachwelt sowohl die künstlerische wie die menschliche Bedeutung ihres Ehemannes Lovis Corinth aufzuzeigen, ja, ans Herz zu legen. Man steht unmittelbar in ihrem Leben, unmittelbar in ihren Erinnerungen, wenn man ihre Bücher liest. 

"Dies ist die einfache Wahrheit: Mit jedem Pulsschlag denke ich an ihn"

Ihr Buch "Lovis" von 1958 ist selbst ein Kunstwerk. Man könnte der Meinung sein, daß es unter die großen Werke der Weltliteratur einzuordnen ist. Sie hat es mit 77 Jahren verfaßt. Und aus ihm geht hervor: Ihr Leben war auch noch 30 Jahre nach dem Tod von Lovis Corinth eben dieser Lovis Corinth. Und die Erinnerung an ihn. Berend-Corinth ist sich selbst bewußt, wie wenig ihre eigene Haltung und die ihres Mannes in ihr eigenes Jahrhundert paßte. So schreibt sie über ihn (1, S. 138):

"So liebte keiner wie Du" - dies Gedicht des jungen Hölderlin kommt mir in den Sinn -, "die Erd und den Ozean und die Riesengeister, die Helden der Erde umfaßte Dein Herz. Und die Himmel und alle die Himmlischen umfaßte Dein Herz. Auch die Blumen, die Bien auf der Blume umfaßte liebend Dein Herz!" Daß dies in unserem Jahrhundert tatsächlich möglich gewesen sein soll, scheint manch einem schwer begreiflich zu sein,
so schreibt sie und weiter:
"Und das ist nun derselbe Mann", höre ich bisweilen sagen, "der die sich auf den Betten herumwälzenden, sich auf dem Sofa in provozierender Nacktheit darbietenden buhlerischen Frauenkörper gemalt hat - Weiber, die, ob sie nun liegen oder stehen, sich beugen oder am Boden kauern, die Grundnatur der Anima personifizieren, wie nur ein sinnenstrotzender Kerl von einem Mannsbild sie erschaut haben kann. Wie ist das nur zu vereinbaren mit seinen Kinderbildern und den religiösen Darstellungen, die Zeugnisse des profunden Ernstes dieses selben Mannes und Künstlers sind?"

Ihre Erläuterung dazu, ihre Antwort auf diese Frage kann hier nicht vollständig wiedergegeben werden.

Abb. 2: Lovis Corinth und Charlotte Berend, 1902

In ihrem Buch "Lovis" schreibt sie dann über das für Lovis Corinth schicksalsträchtige Jahr 1911 (1, S. 142):

So gingen die Jahre eines arbeitsamen, an Erfolgen reichen und von Frohsinn erfüllten Lebens dahin. Im Jahre 1911 überbot Corinth sich selbst in seiner Produktivität.
Sie zählt die viele Gemälde einzeln auf, die er allein in diesem einen Jahr geschaffen hat. Und sie schreibt weiter (1, S. 143):
Einundsechzig Ölgemälde und ungezählte Zeichnungen, Lithos und Radierungen - zum Teil Illustrationen - brachte er mit gigantischer Schöpferkraft im Lauf dieses einen Jahres hervor. Er hatte das kolossale Gemälde "Das Paradies" begonnen, als er zusammenbrach. In der Nacht des 19. Dezember erlitt Corinth einen Schlaganfall.

Diesen Mann, dem der Körper wie eines Herkules verliehen war, gefällt zu sehen gleich einer Eiche, die der Orkan zerrissen hat - dies mit anzusehen und zu ertragen, erforderte übermenschliche Kraft. Es ist mein fester Glaube, daß Gott sie mir zufließen ließ, damit ich dem so innig Geliebten eine Pflege angedeihen lassen konnte, wie sie von keiner Krankenschwester zu fordern oder zu erwarten war.

Corinth unterwarf sich der schweren Prüfung wahrhaftig wie ein frommer Gottesknecht. Kaum gehorchten ihm seine Hände, als er bereits "Hiob" zeichnete.
Hier die Zeichnung "Hiob und seine Freunde" von 1912.
Mich porträtierte er - während ich, ihn anblickend, am Fußende seines Bettes stand - mit dem Zeichenstift auf einem Blatt, das mir das schönste  von allen erscheint, die er mir gewidmet hat. Da ist nun nichts mehr von der zu übermütigen Scherzen aufgelegten bisherigen Jugendlichkeit. Ein unbeugsamer Wille, ihn um den Preis des eigenen Opfers zu retten, drückt sich in meinen Zügen aus.(...)

Als er endlich aufstehen konnte, sah ich einen Lovis Corinth, wie ich ihn bisher nicht gekannt hatte, vor mir. Hohlwangig, mit weit aufgerissenen Augen, brütete er in seinem Sessel vor sich hin. Als er mit Einwilligung der Ärzte zum ersten Male wieder das Atelier betrat, war bereits der Februar des Jahres 1912 angebrochen. Von mir gestützt, hastete er die Treppe hinauf. Er stürmte auf den großen Spiegel zu und blickte lange, sehr lange hinein. Dann griff er sich den Pinsel und die Palette und malte in fiebernder Eile, während sein von Trauer und Leid umschatteter Blick immer wieder zum Spiegel hinüberglitt, das "Selbstbildnis mit schwarzem Hut". Erschüttert und von schrecklicher Angst um ihn gepeinigt sah ich ihm zu. Meine Empfindungen rissen mich hin und her - doch ich wagte es nicht, mich in diesen Akt schöpferischer Selbstbestätigung einzumischen.

Was für ein tiefes Verständnis entwickelt man für die Gemälde von Lovis Corinth, wenn man sie aus dem Blickwinkel der ihm Nächsten sieht, aus dem Blickwinkel von Charlotte Berend-Corinth. Womöglich erst aus dieser seiner Gebrochenheit der Jahreswende 1911/12 versteht man voll und ganz die selbstbewußten, kraftstrotzenden Gemälde in den Jahren zuvor einerseits - und die zum Teil so ganz anders gearteten Gemälde in der Zeit danach.

Es gibt auch aufregende Filmaufnahmen von drei Minuten, in denen man Lovis Corinth selbst malen sieht in der Zeit nach seinem Schlaganfall (Yt).

Auch diese Aufnahme erhält erst durch die dazu gebrachte Erläuterung von Charlotte Berend, durch ihre Gefühle und Eindrücke beim Betrachten dieser  Aufnahme ihren vollen Wert. Charlotte Berend ist, so wird einem auch dabei deutlich, ein Kulturübermittler von besonderer Bedeutung. Sie konnte der Nachwelt die Bedeutung ihres Mannes ans Herz legen wie wohl kaum ein zweiter Mensch dies getan hat oder überhaupt hätte tun können. (Hier - Yt - noch Erinnerungen der Ehefrau des Filmemachers dieser Aufnahme.)

Vergleich mit Mathilde Ludendorff

In ihren Lebenserinnerungen und andernorts hat Mathilde Ludendorff ihre Ehe mit Erich Ludendorff als eine außergewöhnliche dargestellt. Ebenso auch seinen Tod und ihr eigenes, Jahrzehnte langes "Überleben" seines Todes. Man kann nun als Nachlebender leicht zu der Beurteilung kommen, daß ihre Beschreibung ihrer Ehe eine sehr stark "übersteigerte" Beurteilung gewesen ist. Läßt man die Art wie Charlotte Berendt ihre Ehe schildert und wie sie den Künstler Corinth herauszustellen weiß, auf sich wirken, muß einem auch die Verehrung Mathilde Ludendorffs für ihren Ehemann nicht mehr als gar zu "ungewöhnlich" erscheinen.

Und sieht man sich in der Geistes- und Kulturgeschichte um, trifft man doch immer einmal wieder auf "große Liebende", die ihre eigene Liebe ähnlich groß eingeschätzt haben. Und die nach dem Tod des oder der Geliebten ihr weiteres Leben vor allem im Gedenken an sie, bzw. ihn fortsetzten.

Zu diesen kann man sicherlich Friedrich Hölderlin zählen vor und nach dem Tod von Susette Gontard. Man kann zu ihnen zählen die (erst lange nach seinem Tod bekannt gewordenen) drei deutschen Frauen von Charles Lindbergh, ebenfalls vor und nach dem Tod dieses außergewöhnlichen Menschen (siehe Beiträge dazu auf Parallelblogs). Man kann zu ihnen zählen Jane Goodall vor und nach dem Tod ihres zweiten Ehemannes. Und man kann zu ihnen sicherlich auch Charlotte Berend-Corinth zählen. Beim Lesen ihres Buches ist man versucht, das Selbstverständnis ihres eigenen Fortlebens nach dem Tod von Lovis Corinth in Beziehung zu setzen zu dem Selbstverständnis des Fortlebens von Mathilde Ludendorff nach dem Tod ihres Ehemannes. Jedenfalls macht das Buch von Berendt-Corinth deutlich, daß wesentliche Aspekte davon keineswegs "einzigartig" waren, sondern eben Aspekte sind von Ehen oder Liebesbeziehungen oder auch nur tiefen Freundschaften, die von den Beteiligten als außergewöhnlich empfunden worden sind. 

/ Ergänzung 6.1.2022: Charlotte Berend-Corinth war sowohl von väterlicher wie von mütterlicher Seite her jüdischer Herkunft. 1901 lernte sie Lovis Corinth als 21-Jährige kennen, 1903 heirateten sie. Man kennt sie zwar abgebildet auf vielen berühmten Gemälden von Lovis Corinth. Dadurch tritt jedoch in den Hintergrund, daß sie auch während ihrer Ehe eigenständig schaffende Künstlerin war. So schuf sie 1917 bis 1919 mehrere Serien von Lithographien aus dem Bühnen- und Theaterleben, ebenso Aquarelle ("Tänzerpaar", 1917) (10-13).

1930 malte sie "Mine Corinth auf einem Diwan ein Buch lesend", das im Jüdischen Museum Berlin ausgestellt ist.


Erstveröffentlichung.
Verfaßt: 23.11.2013

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  1. Berend-Corinth, Charlotte: Lovis. Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin 1959 (Verfaßt 1957, Ersterscheinen bei Langen Müller 1958) (Google Bücher)
  2. Berend-Corinth, Charlotte:  Mein Leben mit Lovis Corinth. Hamburg 1948 (verfaßt bis 1937, Ersterscheinen 1948)
  3. Bading, Ingo: Die lärmenden Freier im Hause des Odysseus. Auf: Gesellschaftl. Aufbr. - jetzt!, 10. Januar 2012 
  4. Uhr, Horst. Lovis Corinth. Berkeley: University of California Press, c1990 1990. http://ark.cdlib.org/ark:/13030/ft1t1nb1gf/ (Ebook; auf einer Seite)
  5. Corinth, Lovis: Die Königin Golkonde. 1920/21 (Netzseite
  6. Zeno.
  7. Artvalue. Artvalue 2
  8. Ketterer.
  9. Trieb. Folge von 6 Blatt Lithographien auf Pergament, alle vom Künstler überarbeitet und voll signiert. Um 1920
  10. Berend-Corinth, Charlotte: Max Pallenberg. 9 Original-Lithographien. Oesterheld, Berlin 1918
  11. Berend-Corinth, Charlotte: Fritzi Massary. 6 Original-Lithographien. Gurlitt Presse, Berlin 1919
  12. Berend-Corinth, Charlotte: Anita Berber. 8 Original-Lithographien. Gurlitt Presse, Berlin 1919
  13. Berend-Corinth, Charlotte: Valeska Gert. 8 Original-Lithographien. Einleitung von Oscar Bie. Bischoff, München 1920
  14. https://www.jmberlin.de/essay-charlotte-berends-lesende

Der guten Einflüsse ....

.... bedarf es viele, um Kraft zu finden, sich dem Göttlichen annähern zu können

Um sich in heutigen Zeiten dem Göttlichen zu nähern, bedarf es einer ganzen Batterie von guten Einflüssen. Ein guter Einfluß einmal hier oder einmal dort reicht nicht. Es kann der guten Einflüsse gar nicht genügende geben.

Es können Einflüsse aus der Kunst sein, es können solche aus der Philosophie sein, es können solche aus der Wissenschaft sein. Alle sie werden aber im Zweifel nicht hinreichen nicht. Es können Einflüsse aus der Zeitgeschichts-Forschung sein. Aber auch sie werden im Zweifel nicht hinreichen. Es kann ein Frühling sein, die herrliche Natur kann sich vor einem entblättern. Es kann sein, daß der Fluch der Städte nicht gespürt werden darf. Es kann sein, daß der Kindheit Raum gelassen wird, der Kindheit der Menschheit, der Kindheit im eigenen, individuellen Leben, im Leben der eigenen Kinder. Es kann sein, daß Seen einen umgeben, Flüsse, Weiden, Bäume aller Art, Vogelgesang aller Art. Es kann so vieler guter Einflüsse bedürfen. Es könnte des blauen Himmels, dräuender Wolken, der Regengüsse bedürfen. Und auch das mag im Zweifel noch nicht hinreichen.




Es könnte der Erinnerung bedürfen. Der Erinnerung an fröhliche, große oder erhebende Gedanken und Erlebnisse, seien es solche aus dem eigenen Leben, seien es solche aus dem Leben der Bedeutenden unserer Kultur. Es könnte der Bedarf vorhanden sein, davon über und über zu sammeln und anzuhäufen. Es könnte sein, daß keine Faser Leben darf davon nicht durchtränkt sein möchte.

Und es könnte all das da sein - und noch so vieles mehr - und man würde der Liebe nicht bedürfen, der alles umspannenden, wessen würde man dann überhaupt bedürfen? Es mag alles da sein - ohne Liebe bleibt alles schal, schmal, trocken und leer.

Es ist das ein Unverstand unter heutigen Menschen, selbst noch unter den wohlgesinnteren. Daß ihnen nicht - oder selten - klar ist, welch einer Fülle guter Einflüsse es bedarf, um echt, gottnah, lebendig zu sein. Das machen sich die wenigsten klar, die Seltensten.

Es bedarf nicht nur dieses Einflusses, jenes Einflusses. Nein, die ganze Kaskade, die ganze Batterie der Kultur muß man auf sich einprasseln lassen, man muß sie aushalten, um auch nur einigermaßen anständig zu werden.

Auch möchten sie nicht - oder selten - den Königsweg der Leiden gehen, nein, nein, den möchten sie nicht gehen. Sie glauben, sie wären dazu da, nur - oder doch zumindest vornehmlich - Glück zu erleben. Haben sie niemals König Lear gesehen, von Shakespeare? Haben sie niemals den König Ödipus von Sophokles gelesen (übersetzt von Hölderlin)? Haben sie keine Ahnung davon, was ein Mensch alles fähig ist auszuhalten, was das Schicksal fähig ist, Menschen anzutun?

Der Asket, der Leidende, derjenige, der entbehrt um eines höheren Gutes willen - er darf ihnen nicht zu nahe kommen. Sie fühlen sich nicht wohl in seiner Nähe. Er will mehr als man verlangt. Wie kann er nur!

Der guten Einflüsse kann man sich nur unterwerfen, sie wirken sich gar nur als gute Einflüsse überhaupt erst aus, auch dann erst, wenn sie hagelweise kommen, wenn Bereitschaft da ist, Aufnahmebereitschaft. Die Seele muß ein Wollen zu ihnen verspüren, die Seele muß ein Wollen wachsen lassen. Es muß sie überfallen wie eine tiefe, lang entbehrte Sehnsucht. Sie muß sich bitter kränken, reiben an so viel Schalheit, Leerheit im Leben, im eigenen, im Leben der anderen und an den bitteren, betrunkenen, kranken, schalen Einflüssen, den schlechten, die von dem Leben der anderen, von ihrer Leerheit ausgeht, von dieser "Sanftheit des Fleisches", das sich nie, nichts und niemals etwas zuleide tun möchte, das das Göttliche nicht verspürt.

Oder, noch schlimmer: das das Göttliche in all dem okkulten, esoterischen Quark sucht, von dem das Angebot - so ungeheuer bezeichnenderweise - in heutigen Zeiten so vielseitig und vielfältig angewachsen ist. Es wird schon nötig sein, daß es ein solches Angebot gibt, sehr nötig. Die Menschen könnten sich sonst "allein" gelassen fühlen, einsam, nackt, unbekleidet. Aber so ein bisschen Esoterik hier, ein bisschen Gedanken-Schnuck dort, läßt sie sich warm angezogen fühlen. Und mehr bedürfen sie ja meist nicht.

/ überarbeitet: 4.9.20 /

Donnerstag, 11. Mai 2017

Zur Evolution des menschlichen Verantwortungsbewußtseins

Ein Aufsatz zum Rahmenthema „Die stammesgeschichtliche Entstehung des Menschen aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie“

(Nach einer Mitschrift von Vorträgen Hermin Leupolds aus dem Jahr 1993)

Eine neue Aufsatzreihe beginn im Januar 1994 in der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" zu erscheinen. Sie trug den Titel „Die stammesgeschichtliche Entstehung des Menschen aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie“ (1). Infolge des Todes ihres Verfassers im Jahr 1996 ist diese Aufsatzreihe - so wie die ihr vorausgehenden Aufsatzreihen - unvollendet geblieben. Man kann es als ein Anliegen betrachten, die Aufsatzreihe im Geist der bisherigen fortzuführen. Und man es auch als Anliegen betrachten, Beiträge, zu denen es schon mündliche Vorträge gab, wenigstens dem Inhalt nach zu umreißen und zu skizzieren, zumindest soweit das möglich ist. Ein solcher Versuch soll in dem vorliegenden Beitrag unternommen werden.

Um darauf hinzuleiten, soll noch einmal an einige Gedanken erinnert werden, mit denen diese Aufsatzreihe im Januar 1994 eingeleitet worden war. Es geschah dies mit dem Aufsatz "Der wesentliche Schritt vom Tier zum Menschen - Eine philosophische Psychologie" (2). Hier wurde einleitend ausgeführt:

Eine Aufklärung der Vorgänge der evolutionären Entstehung der Menschenseele sollte es uns erlauben, das besondere menschliche bewußte Erleben besser zu verstehen und von daher zu einer vertieften Selbsterkenntnis und über diese zu einer sinnvolleren Lebensgestaltung zu gelangen. Insbesondere könnte eine solche zutreffende Selbsterkenntnis und gültige Lebensauffassung auch die dringenden Fragen nach dem Sinn der Sonderung der Menschen in unterscheidbare Gruppen, wie Stämme und Völker und zugleich nach den Lebensrechten dieser Gruppierungen beantworten. (...)

Wir wollen wie in den beiden bisherigen (...) Aufsatzreihen über die Evolution wiederum die naturwissenschaftlichen Aussagen zur Entstehung des Menschen denen der Philosophie von Mathilde Ludendorff gegenüber stellen. Die naturwissenschaftlichen Befunde zu unserer Fragestellung werden hier aus den Fachgebieten der Verhaltensforschung, der Soziobiologie, der molekularen Stammbaumanalyse, sowie der Vorgeschichtsforschung herstammen.

Hier ist natürlich nicht der Ort, um den gesamten Aufsatz zu zitieren. Er hatte eine einleitende Funktion und sollte auf das Thema der Aufsatzreihe insgesamt hinleiten. Wohl aber kann an dieser Stelle noch auf Ausführungen an seinem Ende hingewiesen werden. Da wird nämlich gefragt, welche Gegenkräfte es in der Menschenseele gibt gegen den "unweisen Selbsterhaltungswillen", der den Menschen oft im Widerspruch zum Göttlichen handeln läßt:

Wenn es also der Sinn des Menschenlebens ist, sich in freier Entscheidung dem Göttlichen zuzuwenden und sich ihm zu erschließen, muß der Mensch die Möglichkeit haben, es irgendwie zu erfahren, zu spüren.

Wie ist es dann aber möglich, vom Göttlichen zu erfahren und trotzdem die Freiheit des Entscheides für oder wider zu behalten? Dieser wichtigen und schwierigen Frage wollen wir uns nun zuwenden. 

In der Stammesentwicklung wurde schon in den höheren Tieren das Verhalten der Brutfürsorge angelegt. Aus dieser Wurzel erwacht im Menschen das bewußte Erleben der Elternliebe, insbesondere der Mutterliebe. Dieses drängt das selbstsüchtige Streben nach Lusthäufung und Unlustvermeidung durch den unvollkommenen Selbsterhaltungswillen zugunsten der häufig schmerzhaften und aufopferungsvollen selbstlosen Hingabe an das Wohl des Kindes zurück und schwächt damit die Wahrscheinlichkeit, daß das Ich dem unweisen Selbsterhaltungswillen die Zügel des Handelns überläßt. Im bewußten Erleben der Elternliebe wird diese gegenüber der tierlichen Brutpflege vergeistigt und kann zum seelischen Aufstieg des Ichs und zur Erfüllung des Lebenssinnes führen.

Ein weiteres sehr starkes Band zur Erfüllung des göttlichen Sinns des Menschenlebens wird von der Philosophie mit dem Begriff Gottesstolz umrissen, der eigentlich genauer mit dem Begriff Gottverantwortung, d. h. dem Erleben der Würde und Verantwortung des Menschen zur Erfüllung seines göttlichen Lebenssinnes beschrieben werden kann (3, S. 36):

"Der Mensch erlebt in seiner Seele die Ahnung seines hohen Menschenamtes. Es ist dies ein Erleben der Würde, gepaart mit Verantwortung und der Forderung innerseelische Freiheit als der notwendigen Voraussetzung würdigen Lebens. Ich habe dieses Erleben Gottesstolz genannt."

In einem späteren Beitrag soll dieser oft mißverstandene Begriff Gottesstolz, oder besser Gottverantwortung, näher erläutert werden. Dabei soll gezeigt werden, daß dieses Erleben ebenfalls eine starke stammesgeschichtlich entstandene Wurzel hat, die im bewußten Erleben des Menschen vergeistigt vorliegt und zum seelischen Aufstieg führen kann.

Außerdem wird noch der Wille zum Schönen, zum Wahren und zum Guten in der Menschenseele angesprochen. Hier ist auch nicht der Ort, um darauf weiter einzugehen. Der im gebrachten Zitat angekündigte "spätere Beitrag" konnte nun aufgrund des frühen Todes des Verfassers nicht mehr geschrieben werden.

Eine Vortragsmitschrift aus dem Jahr 1993

Nun liegt aber die stichwortartige Mitschrift eines Vortrages vor, den Hermin Leupold nur vier Monate zuvor, im September 1993, über diese Thematik gehalten hatte. Im vorliegenden Beitrag soll diese Mitschrift dokumentiert werden. Mit ihr besteht die Möglichkeit, wenigstens in groben Umrissen zu verstehen, was dieser Aufsatz hätte enthalten können, zumindest von seiner naturwissenschaftlichen Seite her.

Wie kam die Mitschrift zustande? Die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" hielt damals alljährlich einwöchige Herbsttagungen im Salzburger Land ab. In einem kurzen Bericht über die Tagung des Jahres 1993 hieß es (DVHS, Folge 87, Sept. 1993, 3. Umschlagseite):

Seit 1988 findet nun jährlich einmal unsere Herbsttagung im schönen Salzburgerland statt. Veranstaltungsvorträge, kleine Wanderungen, gemeinsames Singen, Musizieren und Gespräche machen diese kurze Zeit zu einem gehaltvollen, schönen Erlebnis. Im Mittelpunkt der Tagung stand das Thema „Das Werden der Menschenseele“. In insgesamt 10 Vorträgen wurden die modernen Ergebnisse der Verhaltensphysiologie und der Soziobiologie dargestellt und weiterhin herausgearbeitet, ob und inwieweit sich hier Übereinstimmungen mit den Erkenntnissen der Philosophie von M. Ludendorff ergeben. Für die Teilnehmer war es eine faszinierende Erfahrung, anhand von detaillierten Beispielen zu sehen, daß sich die naturwissenschaftlichen und die philosophischen Erkenntnisse zu einer Gesamtaussage ergänzen und in einem Übergangsbereich miteinander übereinstimmen.

Auf der Tagung war ein erster mündlich vorgetragener Form ein Einstieg in jene Thematik gegeben worden, der dann ab Januar 1994 die genannte neue Aufsatzreihe gewidmet wurde. Es ist dann in dieser Aufsatzreihe noch zur Veröffentlichung von insgesamt fünf Aufsätzen gekommen. Nachträglich war noch ein weiterer, vorausgegangener Aufsatz dieser Aufsatzreihe hinzu gezählt worden, also: sechs Aufsätze. Diese sechs Aufsätze können als sehr inhaltsreich bezeichnet werden, schon allein ablesbar an der reichhaltig ausgewerteten Forschungsliteratur bis zum Jahr 1994.

Es dürfte manche Anhaltspunkte dafür geben, daß sie eine bleibende Geltung in der Geschichte der Philosophie der Biologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts behalten werden. In diesen sechs Aufsätzen kam nun zwar vieles zur Veröffentlichung, worüber mündlich nicht vorgetragen wurde. Es kam andererseits aber noch längst nicht alles das zur Veröffentlichung, worüber zu unterschiedlichen Gelegenheiten mündlich vorgetragen worden war.

Aus jener Vortragsmitschrift, um die es im vorliegenden Beitrag geht, und die am Ende dieses Beitrages dokumentiert werden soll, kann recht gut rekonstruiert werden, über was auf der genannten Tagung in zentralen Teilen vorgetragen wurde. Diese Mitschrift hat über weite Strecken so gut das Wesentliche festgehalten, daß jemand, der den Vortragenden und sein Denken kannte, aus ihr vieles nachvollziehen konnte, was in diesem Vortrag an Neuem gegeben worden war und zum Ausdruck gekommen war. Schon diese Mitschrift konnte solche Leser, die den Vortrag selbst nicht gehört hatten, ähnlich ins Herz treffen, als wären sie selbst bei dem Vortrag anwesend gewesen.

Im folgenden soll versucht werden, den wesentlichsten Teil dieser Mitschrift - nämlich ihren Anfangsteil - in einen für jeden Leser nachvollziehbaren Fließtext umzusetzen. Der weitgehend unkommentierte Originaltext der Mitschrift wird dann am Schluß gebracht und soll dort für sich stehen und sprechen. Aber die stichwortartige Mitschrift kann natürlich zunächst jemandem, der entweder die Philosophie von Mathilde Ludendorff nicht gut kennt oder sich mit den grundlegenden Konzepten der modernen Soziobiologie und Evolutionären Anthropologie nicht gut auskennt, nicht leicht in ihrem Sinn erschließen. Und so kann auch diese Mitschrift nur eine Anregung sein, sich die genannten Themenbereiche anderweitig zu erschließen.

Die Evolution der menschlichen Seelenfähigkeiten

Für die mündliche Vortragsreihe auf der Tagung wurde in der Mitschrift keine Überschrift festgehalten. Sie könnte benannt gewesen sein „Die Evolution des menschlichen Verantwortungsbewußtseins“ oder "der Gruppenverantwortung". Zwar wird in den Vorträgen auch wieder die Elternliebe erwähnt. Und der mit ihr verbundene Altruismus wird natürlich auch quasi ständig mit behandelt. Aber die Überschneidungen zwischen philosophischer und naturwissenschaftlicher Aussage, bzw. gegenseitige Ergänzungen und Erläuterungen sind ja hinsichtlich der Brutfürsorge und Elternliebe bei Menschen, Tieren (- und übrigens auch Pflanzen!) vergleichsweise leichter zueinander in Bezug zu setzen. Das wird einer der Gründe sein, weshalb auf den elterlichen Altruismus in diesem Vortrag nicht der Schwerpunkt der Ausführungen gelegt wurde. Übrigens gibt es in der Evolution ja weite Übergangsbereiche was die Evolution von der Brutfürsorge hin zur Gruppenverantwortung betrifft. Jedenfalls kreisten die Ausführungen rund um jenen Altruismus, der hier eben „Gruppenverantwortung“ benannt worden ist.

In diesem Vortrag wird zunächst an die Aussage der Philosophie von Mathilde Ludendorff erinnert, daß das Göttliche in der Menschenseele Eingang fände über die „göttlichen Wünsche“. Es sind damit angesprochen - kann aber an dieser Stelle nicht ausführlicher erläutert werden - die vier göttlichen Wünsche zum Wahren, Guten und Schönen, sowie zum göttlich gerichteten Fühlen von Liebe und Haß.

Es wird hierbei eine (auch sonst) wichtige Unterscheidung getroffen. Es wird ausgeführt, daß das Erleben des Göttlichen im Menschen auf zweierlei Arten stattfinden könne. Einmal über eine starke seelische Erschütterung (hier als „tiefstes Erlebnis“ notiert). Diese kann ausgelöst werden durch große Freude oder großes Leid (bzw. eben solches Erleben von Lust oder Unlust). Die Musik Beethovens könne als typisch für diese Art des Erlebens erläuternd herangezogen werden. (Das kann auch gekennzeichnet sein durch starke Hormonausschüttungen - Streßhormone, Glückshormone etc..) Und diesem Erleben könne ein andersartiges Gotterleben gegenüber gestellt werden. Hierbei handele es sich um ein „stilles, ruhiges Besinnen“. Nämlich auf diese göttlichen Wünsche (gegebenenfalls auch auf die Gewissens-Wertungen, die sich für den einzelnen aus diesen ergeben, und die dabei immer wieder neu "geeicht" und überprüft werden könnten). Die Musik von J. S. Bach könne als typisch für ein solches "stilles, ruhiges Besinnen" angesehen werden. - Laut Mitschrift fragt der Vortragende dann:

„Wie sind die Ausstrahlungen des Göttlichen entstanden?“

Natürlich ist die Frage in der hier festgehaltenen Kurzform mißverständlich. Aus dem Gesamtzusammenhang wird klar, was gemeint ist: Wie ist - evolutiv - die Möglichkeit entstanden, daß sich die Ausstrahlungen des Göttlichen bis in die menschliche Seele hinein auswirken können, bzw. dort wahrgenommen und bewußt erlebt werden können? Und Leupold antwortet nun, daß die „Wurzeln (hierfür) bereits im Tierreich“ angelegt gewesen seien. Und um diesen Umstand zu erläutern, werden dann die weiteren Ausführungen gegeben.

Neben die eben genannten vier göttlichen Wünsche, die von der erwachsenen Menschenseele zunächst eher unklar und diffus erlebt würden (und zu denen es von Seiten der soziobiologischen Forschung zahlreiche, auch von Leupold in der genannten Aufsatzreihe erläuterte Erklärungsansätze gibt), setzt, bzw. postuliert die philosophische Psychologie Mathilde Ludendorffs zusätzlich noch das Erleben von „Gottesstolz“ und „Mutterliebe“ als starke, nun sogar sehr direkt und unverfälscht erlebte „Strahlen des Göttlichen“ in die Menschenseele hinein.

Abb. 1: Titelseite der Zeitschrift DVHS vom Januar 1994
Darauf: Republikanische Büste um 30 v. Ztr.
Terrakotta, Höhe 33,5 cm
Boston Museum of Fine Arts

Leupold gibt diesen beiden zentralen Begriffe der Ludendorff'schen Philosophie Begriffe, die heute eher verwendet werden: „Elternliebe“ und „Gottverantwortung“

Elternliebe und Gottverantwortung

Er sagt zu diesen Erlebnis- und Handlungsbereichen, daß es - aus Sicht der Philosophie von Mathilde Ludendorff - eine „freie Entscheidung“ auf Seiten des Menschen gibt, wie diese Ausstrahlungen des Göttlichen in die menschliche Seele hinein er- und damit gelebt werden („ausgeübt“ werden), das heißt: ob sie entfaltet werden oder ob der einzelne Mensch sie unentfaltet läßt oder gar verkümmern läßt im Laufe seines Lebens.

Mit all dem referiert Leupold zunächst einmal im wesentlichen nur Aussagen der Philosophie von Mathilde Ludendorff. Er sagt dann aber Worte über die Gottverantwortung, die - zumindest im Jahr 1993 - auch bei Menschen, die sich mit der Philosophie Mathilde Ludendorffs schon beschäftigt hatten, ein ganz neues Verständnis dieser Ludendorff'schen Denkwelt erschließen konnten. Es wird deutlich, daß dieses neue Verständnis auch in Auseinandersetzung mit der neuesten Naturwissenschaft gewonnen worden war. Dieses neue Verständnis ist enthalten in der folgenden, aufzählenden Kurzform der Mitschrift:

... Wie sind die Ausstrahlungen des „Göttlichen“ entstanden?
Wurzeln bereits im Tierreich.
Elternliebe:
Freie Entscheidung, wie es ausgeübt wird. Gottesstolz (besser Gottverantwortung). Kern: Verantwortung. Selbstverantwortung Grund zum Handeln
Wurzel: Abwehr von Feinden und Gefahren
Verantwortung höherer Wert als Verpflichtung
ist verbunden mit Altruismus
z. B. Herdenboß, Patriarch
Naturwissenschaftliche Befunde zu bisher o.g. ....

Die Begriffe Herdenboß und Patriarch spielen an auf Alpha-Männchen in einer Gruppe von Schimpansen oder Gorillas oder anderer in Gruppen lebender Affen. Diese müssen ja ihre Stellung oft über Rangkämpfe und über Koalitionen innerhalb der Gruppe absichern.

Man muß sich bei der hier zitierten Mitschrift bewußt machen, daß es sich nur um das stichworttartige Mitschreiben von Kerngedanken der mündlichen Ausführungen handelt. Dennoch mag in diesen wenigen Worten viel enthalten sein, wenn man den Gedanken hinterher geht. Deshalb wäre dazu manche Erläuterung zu geben für Leser, die sich mit solchen Themen noch nicht sehr intensiv beschäftigt haben. (Hierzu sind künftig weitere Beiträge vorgesehen.)

Verantwortung - oder Verpflichtung

Zunächst: Natürlich ist der Gedanke sofort einleuchtend, daß Verantwortung noch einen höheren Wert darstellt als eine Verpflichtung. Verantwortung ist eher etwas selbst Übernommenes, das von innen heraus kommt, aus innerer Freiheit heraus, etwas, das auch mit reicherem Erlebnisgehalt verbunden sein könnte. Im Gegensatz dazu ist Verpflichtung eher etwas von außen Auferlegtes, womit zwar auch Erlebnisinhalte verbunden sein können, die aber auch stark mit Gewissenswertungen zu tun haben können, also mit der Arbeit des Denkens und der Vernunft. Verpflichtungen erlegt einem das Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften auf, Verantwortung ist etwas, was man selbst übernimmt. Damit sollen zunächst nur Andeutungen gegeben sein. Insgesamt kann das einer der Gedanken sein, über die es sich sicherlich lohnt, noch selbständig weiter zu denken.

Vielleicht kann man sich die hier vorliegenden Bedeutungsfelder auch verdeutlichen durch die Art, wie diese Begriffe ins Englische übersetzt werden. Das ist ja sowieso notwendig, wenn man sich mit naturwissenschaftlicher Forschung über die evolutionäre Herkunft dieses seelischen Könnens auseinandersetzt. Der Begriff "Verantwortung" wird fast durchgängig mit "responsibility" ins Englische übersetzt und auch von dort umgekehrt der Begriff "responsibility" ins Deutsche mit "Verantwortung". Für den Begriff "Verpflichtung" hingegen werden mehrere englische Worte zur Übersetzung vorgeschlagen, darunter als erste "obligation" und "commitment" (Dict.cc).

Und im Vorgriff auf künftige Beiträge hier auf dem Blog sei an dieser Stelle vorweg genommen, daß in der Evolutionären Anthropologie (Soziobiologie) seit etwa dem Jahr 2001 über die Evolution von "commitment" sehr gründlich nachgedacht wird (4). Dieser Begriff wird nun auch umgekehrt aus dem Englischen mit einem erheblich größeren Begriffsfeld ins Deutsche übersetzt (Dict.cc) als dies für den schon genannten englischen Begriff "responsibility" gilt. Um den Begriff "commitment" ins Deutsche zu übersetzen, werden eine Fülle von deutschen Begriffen vorgeschlagen wie (Dict.cc): Hingabe, Verpflichtung, Engagement, Einsatz, Zusage, Bindung, Verbindlichkeit, Festlegung, Selbstverpflichtung, Verbundenheit, bindende Verpflichtung, Bekenntnis.

Hiermit könnte deutlich werden, daß "commitment" eine etwas andere, gewissermaßen auch allgemeinere Bedeutung hat, als der Begriff "responsibility", eine Bedeutung, die aber natürlich immer auch Verantwortung und Verantwortlichkeit mit einschließt. "Commitment" mag das Verantwortungsgefühl innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft bezeichnen und für das Weiterbestehen derselben, sei es eine Ehe, eine Familie, eine ehrenamtliche Gruppierung, eine Firma oder auch eine Partei, ein Volk, eine Religion oder eine Weltanschauung.

Zum Beispiel in der Ehe und in eheähnlichen Beziehungen setzt das damit verbundene "commitment" auch eine emotionale Bindung und ein damit einhergehendes Verpflichtungs- und Verantwortungsgefühl voraus (nämlich füreinander einzustehen). Der Begriff Verantwortung muß für sich selbst genommen mit einem solchen emotionalen Bindegefühl nicht verbunden sein, kann es aber natürlich durchaus sein. "Commitment" ist eine Festlegung, eine Zusage, zu bestimmten Personen oder Angelegenheiten zu stehen, auch wenn es einmal schwierig wird, wenn schwierige Zeiten kommen. "Commitment" schließt also Zuverlässigkeit mit ein und fließt eher aus einem Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen Menschen als "Verantwortung".

Und wenn man nun die evolutionäre Wurzel des Verantwortungsgefühls aus den Zusammenhängen der Gruppenzugehörigkeit heraus erklären will, macht es natürlich eher Sinn, mit dem Begriff "commitment" zu arbeiten. Dementsprechend erbringt die Bildersuche zu "commitment" im Internet oft zusammenhaltende Hände, während die Bildersuche zu "responsibility" eher die Verantwortlichkeit des einzelnen für sich in den Vordergrund stellt, zum Beispiel auch für die Erhaltung der natürlichen Lebenswelt auf unserer Erde, der gegenüber man eher responsibility empfindet, als commitment, da es sich eben hierbei zunächst nicht um eine menschliche Gemeinschaft handelt. Man könnte also vielleicht auch sagen: Verantwortung ist "unmittelbar zu Gott", während Verpflichtung eher einen Bezug zu menschlichen Gemeinschaften hat.

Ebenso ist der Begriff "commitment" mehr Gemeinschafts-bezogen, während der Begriff "responsibility" mehr die individuelle Haltung (unabhängig von einer Gemeinschaft, auf die diese Haltung bezogen sein kann) in den Vordergrund stellt. Vielleicht kann der Unterschied auch an der Hauptfigur des Schiller'schen Dramas "Wilhelm Tell" deutlich gemacht werden. Wilhelm Tell sagt "Der Starke ist am mächstigsten allein" und fühlt durchaus eine starke, selbst gewählte Verantwortung, die aus dem eigenen Inneren abgeleitet ist, nicht vorwiegend aus dem Bezug zu der Gemeinschaft, dem Volk, dem er angehört.

Aber mit all dem soll nichts Abschließendes gesagt sein. Schaut man sich Erörterungen über die Unterschiede zwischen beiden Begriffen (commitment und responsibility) im Englischen an, so wird deutlich, daß auch Muttersprachlern letztlich sich nicht besonders leicht auf eine klare Unterscheidung einigen können (Philosophy). 

Halten wir hier zunächst einmal fest, daß über eine sich hier andeutende Art des Verständnisses eines zentralen Konzeptes der Philosophie von Mathilde Ludendorff, nämlich des sogenannten "Gottesstolzes", so zuvor - also vor 1993 - noch nirgendwo gesprochen worden war wie das in diesem Vortrag geschah. Es war etwas Neues, also selbständig Erlebtes, zum einen einfach durch eigenes selbst gestaltetes, gelebtes Leben. Zum anderen aber eben auch durch die betriebene, intensive Konfrontation der Philosophie Mathilde Ludendorffs mit dem damals neuesten naturwissenschaftlichen Forschungsstand.

"Die Aufwärtsentwicklung des Menschen ist durch konkurrierende Gruppen zu Stande gekommen"

Und in den weiteren - stichwortartig mit geschriebenen - Ausführungen wurde das dann auf der Tagung erläutert, was in diesen wenigen Worten enthalten sein konnte. Diese dürfte von ihrem Sinngehalt jeder sofort verstehen, der sich mit den grundlegenden Konzepten der Soziobiologie und der Evolutionären Anthropologie schon vertraut gemacht hat (etwa über Bücher von Eckard Voland, Wolfgang Wickler oder zahlreicher anderer). Das soll an dieser Stelle zunächst erst einmal noch nicht alles ausführlich erläutert werden. Deutlich wird aber schon, wie eng die Bezugnahme von Philosophie und Naturwissenschaft hier überall gesehen und behandelt wird.

Es wurden zum Beispiel sehr ausführlich die Forschungen rund um die Nacktmulle behandelt, sowie die Überlegungen des hier genannten Forschers Richard D. Alexander, der damals mehrere sehr wegweisende Gedanken innerhalb der Soziobiologie aufgeworfen hatte, auf die sich der Vortrag dann auch bezieht.

Es sei hier erst einmal nur abschließend noch auf den Satz hingewiesen, der in der Mitschrift festgehalten ist als eine Art Zusammenfassung:

Die Aufwärtsentwicklung des Menschen ist durch konkurrierende Gruppen entstanden.

Diese Aussage - eine zentrale These von Richard D. Alexander (8) - dürfte innerhalb der Soziobiologie des Jahres 1993 noch eine deutliche Minderheiten-Meinung dargestellt haben. Inzwischen hat sich diesbezüglich in der Forschung unglaublich viel getan. Es kam zu einer Wiederbelebung des zuvor verdammten Konzeptes der "Gruppenselektion", es kam in diesem Zusammenhang zu Konzepten der sogenannten "Mehrere-Ebenen-Selektion" (multi-level-selection). Und es kam zur Superorganismus-Theorie. Keine derselben hat bis heute vollständige Anerkennung gefunden, aber jede ist ein wichtiger Bestandteil der Debatte. Auf diesem Forschungsgebiet ist weiterhin viel in Bewegung.

Und deshalb ließe sich die zitierte Aussage gut und differenziert in Beziehung setzen zu dem heutigen Kenntnis- und Diskussionsstand. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, aber sicherlich eines der anschaulichsten: Man wird von der Intelligenz-Evolution des aschkenasischen Judentums in den letzten tausend Jahren (Wiki) sagen können, daß sie in einer Konkurrenzsituation erfolgt ist innerhalb eines Minderheitenvolkes, das bestrebt war, gegenüber einer Mehrheitsbevölkerung seine kulturellen und genetischen Eigenschaften zu erhalten und damit zugleich seine religiösen Ziele zu erreichen.

Ein anderer Bereich, zu dem die hier erörterten Inhalte in Bezug gesetzt werden können, sind die von Peter Sloterdijk thematisierten "thymotischen Energien" (5-7). Auch diese Energien können ja - nach der Philosophie Mathilde Ludendorffs - als ein Ausfluß des Gottesstolzes, der Gottverantwortung, sowie der Gruppenverantwortung erachtet und behandelt werden. Damit soll zunächst einmal die einleitende Erläuterung abgeschlossen sein.

Die Vortragsmitschrift

(Vortrag von Hermin Leupold, September 1993)

göttliche Wünsche …
… Einmal tiefstes Erlebnis
Einmal stilles, ruhiges Besinnen.
Wie sind die Ausstrahlungen des „Göttlichen“ entstanden?
Wurzeln bereits im Tierreich.
Elternliebe:
Freie Entscheidung, wie es ausgeübt wird. Gottesstolz (besser Gottverantwortung). Kern: Verantwortung. Selbstverantwortung Grund zum Handeln
Wurzel: Abwehr von Feinden und Gefahren
Verantwortung höherer Wert als Verpflichtung
ist verbunden mit Altruismus
z.B. Herdenboß, Patriarch

Naturwissenschaftliche Befunde zu bisher o.g.
quantitative Beschreibung der Mutation und Selektion → Neodarwinismus

wie bildet sich altruistisches Verhalten in der Evolution? (z.B. Verzicht auf Nachkommen?)
Ab 1964 erste Erklärungen dafür durch Hamilton.
Darwin: fitness spielt Hauptrolle bei Evolution des Einzelnen, bestimmt Selektion der Gene
Fitneß: Evolutionserfolg, Zahl der Nachkommen
Hamilton: Fortpflanzung der Gene durch Vermehrung der Verwandten möglich → „inklusive Fitneß“ = eigene + Verwandte bestimmt die Selektion der Gene
Soziobiologie:
„Inklusive Fitneß“ bestimmt die Selektion der Gene. Sie enthält zusätzliche ...
Einschließlicher Evolutionserfolg (Zahl der Nachkommen) = inklusive Fitneß

Abb. 2: Aus der handschriftlichen Mitschrift die an dieser Stelle an die Tafel geschriebene mathematische Gleichung
Alle Gene müssen zu ihrer eigenen Vervielfältigung, Vermehrung im Genbestand wirken (in Nachkommen) (im Erbbestand) ==> auch Altruismusgene müssen sich halten.

Altruismus z. B. bei Bienen (Arbeiterbienen zu 75 % identisch, zu 50 % mit Königin) z. B. bei Honigameisen: Honigtöpfe

[Bis hier ist also das grundlegende Konzept der Verwandtenselektion nach William D. Hamilton erläutert worden und seine Anwendung zur Erklärung von Eusozialität im Tierreich, also insbesondere von Staatenbildung mit Klassen, die sich selbst nicht fortpflanzen. Nun folgt der große Schritt, daß eben Richard D. Alexander sich fragte: Das gibt es bei wirbellosen Tieren recht oft, sollte es das dann nicht auch bei Wirbeltieren geben? Und er sagte dann genau voraus, unter welchen Bedingungen es das bei Wirbeltieren geben sollte. Und erst danach wurde die Tierart der Nacktmulle entdeckt, und daß sie genau das erfüllt, was Alexander vorausgesagt hat. Das ist sicher genauer erläutert worden, ist aber hier nicht mitgeschrieben worden. IB] 

Mittwoch, 15.9.93

Staatenbildung bei Wirbeltieren: nach Prinzip wie bei Termiten: Nahrung weit verstreut, pflegebedürftige Jungtiere, mehrere Generationen …
Nacktmulle in Afrika 1 Königin, 60 - 200 Tiere, 5 normale Tiere a 30 Gramm
Nur die Königin pflanzt sich fort.
Untersuchungen an verwandten Mullen ergaben, daß die Staatenbildung des Heterocephalus glaber (Nacktmull) nicht zwingend ist.

Grundformel der Soziobiologie (Wickler/Seibt, Prinzip Eigennutz, S. 176) r > E/Z nur in diesem Rahmen kann sich die soziale Hilfeleistung in der Evolution erhalten.
r = Verwandtschaftsgrad von Wohltäter zu Empfänger
E = „Einbuße“, d. h. verminderter Fortpflanzungserfolg bei Wohltäter durch „Wohltat“
Z = „Zuwachs“, d. h. zusätzlicher Fortpflanzungserfolg beim Empfänger der Wohltat.

Mensch hat die Neigung, sich in Gruppen abzugrenzen durch ähnliche Kleidung in der Gruppe entgegen der Kleidung anderer Gruppen, Dialekt … usw.
Vorteil: Verwandtschaftsgrad kann besser erkannt werden!

Prinzip Eigennutz paßt nicht, da Gene kein Ich besitzen
                
Inwieweit läßt sich Schönheit auch oft als nützlich beschreiben? Sechseck = stabil + raumsparend …


[An dieser Stelle wird der Gedanke erörtert, daß etwas seinen moralischen oder ästhetischen Wert nicht dadurch verlieren muß, daß es zugleich nützlich ist. Altruismus wird durch die Soziobiologie als nützlich für die Erhaltung der Gene beschrieben, kann aber deshalb natürlich auch moralischen Wert haben weit über die Nützlichkeit hinsichtlich der Selbst- und Volkserhaltung hinaus, etwa in Form von gotterfüllter Elternliebe und Gottverantwortung. Die naturwissenschaftliche Erklärung steht mit einer solchen Möglichkeit nicht in Widerspruch. Der Vortragende will darauf hinaus, daß hier auf der subjektiven Ebene des Individuums keineswegs per se oder vorwiegend "Eigennutz", "Egoismus" erklärt wird - wie in bekannten Buchtiteln unterstellt -, sondern genau das Gegenteil, nämlich edle, wertvolle Eigenschaften des menschlichen Seelenlebens. Dies Eigenschaften können eben nur zugleich auch - wie die Bienenwabe - nützlich sein.]

Anlage erhöht die Wahrscheinlichkeit, in eine bestimmte Richtung zu handeln (altruistisch)

Alexander, Richard D. in Englisch (8), Quelle von Eckart Voland, Funkkolleg (Psychobiologie - Verhalten bei Mensch und Tier, 1986)
An der Wurzel der Evolution stand als Einheit eine Menschengruppe / Stamm, die zu anderen in Konkurrenz stand.
→ enge Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern einer Gruppe und Bekämpfung der Mitglieder fremder Gruppen
Voraussetzung:
Erkennung der eigenen Verwandten
→ Höherentwicklung durch Kennzeichnung wie Kleider, Haartracht usw.
→ Höherentwicklung des Gehirns!
→ zunächst diente auch die Sprache dazu. z. B. Heute noch üblich, viel Gemeinschaftskontakt durch Gespräche: wie geht’s?
Nachbar Huber ist doof, du bist gut usw. siehe auch polit. Reden!
Grenze bei ca. 160 Menschen abhängig vom Zeitaufwand
nimmt ständig zu: Schimpansen ca. 30%   ihrer Zeit
Menschen ca. 40 % der wachen Zeit!!!

[Das sind Ausführungen aus dem Zusammenhang der Social brain-Theory, wie sie Robin Dunbar nachmals - 1996/98 - in seinem Buch „Klatsch und Tratsch“ erläutert hat, und wie sie bis 1993 nur in Einzelaufsätzen vorgelegen hatten, die der Vortragende also auch alle schon zur Kenntnis genommen hatte. Es handelt sich um Dunbar's Theorie, daß aus der sozialen Fellpflege (Grooming), der Menschenaffen 30 % ihrer wachen Lebenszeit widmen, mit sozial ähnlicher Bedeutung die menschliche Sprache hervorgegangen sei, nämlich vornehmlich für den „Klatsch und Tratsch“ innerhalb von menschlichen Gruppen mit bis zu 150 Angehörigen - „Dunbars Number“, jenen Gesprächen, denen Menschen ca. 40 % ihrer wachen Lebenszeit widmen. I.B.]

beachte auch Bestreben, sich anzupassen! (an Sprache, Kultur und politische und geschichtl. Ansichten …)
Es werden auch Zwänge eingesetzt
z. B. Verbannung, Verstellung (um zu parasitieren)

Summe: die Aufwärtsentwicklung des Menschen ist durch konkurrierende Gruppen entstanden.

Mensch sucht sich aus dem vorhandenen Kulturangebot (Eltern, Schule …) seinen Neigungen, Anlagen entsprechende Dinge heraus und lebt sie.

Kulturelle Ideale führen z. B. zur Veränderung von Genhäufigkeiten (z. B. schlanke Menschen schöner, besser als dicke …)
Grundthese: Erbgut = Resonanzboden
Gene machen den Menschen dazu geneigt, derjenigen Kulturform Unterbau zu schaffen, die/der das Überleben der Gene fördert.
Äußert sich vor allem in/bei Fortpflanzung.
Statistik: Partner in der Ehe: gleich zu gleich gesellt sich gern

Gene müssen gleiche Gene erkennen

→ Kultur ist eingespannt zur vermehrten Fortpflanzung (in sehr vielen Bereichen)
religiöse Inhalte sehr stark wirksam, da sie hohe Ansprüche stellen und tief erlebt werden, bzw. auch wichtig für das Überleben sind (Maiskochen)


[Der Vortragende hatte einmal irgendwo etwas davon gelesen, daß das Kochen von Mais bei bestimmten nordamerikanischen Indianern mit starken religiösen Gefühlen belegt war, wodurch die Beibehaltung dieser Überlebenstechnik bestens gesichert gewesen sei. Ungefähr so ist hier der Sinn. Vielleicht ist damit die "Green Corn Ceremony" [Wiki] gemeint oder etwas Vergleichbares. Siehe auch Ausführungen über die große religiöse Bedeutung des Mais bei den Navajo: Gladys Amanda Reichard: Navaho Religion - A Study of Symbolism [1950 und viele Folgeauflagen] [GB]. I.B.]

Soziobiologie nicht ausreichend, um Kultur vollständig zu erklären, es darf jedoch auch kein Widerspruch zwischen Kultur und Evolutionsgesetzen geben.

Frau Ludendorff beschreibt die Volksseele:
Gottlied der Völker allerhöchstes Ziel

[Am Ende wird also wieder ein Ausblick auf die philosophische Deutung der Evolution menschlicher Gruppen und Völker durch Mathilde Ludendorff gegeben, insbesondere die von ihr gegebene Wertung, daß die Vielfalt der menschlichen Kulturen auf der Erde der höchste Wert in diesem Weltall darstellt. IB]

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  1. Bading, Ingo: 1979 - Die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" wird gegründet. Auf: Die Deutsche Volkshochschule, Digitale Zeitschrift, 25.3.2017, http://fuerkultur.blogspot.de/1979/05/1979-die-zeitschrift-die-deutsche.html
  2. Leupold, Hermin: Der wesentliche Schritt vom Tier zum Menschen. Eine philosophische Psychologie. Erster Aufsatz um Rahmenthema „Die stammesgeschichtliche Entstehung des Menschen aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie“. In: Die Deutsche Volkshochschule (Ratekau), Folge 89, Januar 1994, S. 1-11
  3. Ludendorff, Mathilde: Aus der Gotterkenntnis meiner Werke. Ludendorffs Verlag, München 1935
  4. Boyd, Robert; Richerson, Peter J.: The Evolution of Subjective Commitment to Groups: A Tribal Instincts Hypothesis. Randolph M. Nesse (ed.): Evolution and the Capacity for Commitment. New York 2001, 186-220
  5. Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
  6. Bading, Ingo: "Müssen wir zur eigenen Verteidigung selbst zorniger werden?" Auf: Studium generale, 11. April 2007, http://studgendeutsch.blogspot.de/2007/04/mssen-wir-zur-eigenen-verteidigung.html
  7. Bading, Ingo: Peter Sloterdijk - "thymotische Energien" zu Ende denken. Auf: Studium generale, 4. Juli 2007, http://studgendeutsch.blogspot.de/2007/07/peter-sloterdijk-thymotische-energien.html
  8. Alexander, Richard D.: Evolution of the Human Psyche. In: Paul Mellars, C. Stringer (Ed.): The Human Revolution. Behavioral and Biological Perspecitves on the Origins of Modern Humans. Edinburgh 1989, S. 455-514