Dienstag, 30. April 2019

Ältere Druckausgaben - Sind erhältlich!

Das Erscheinen der bisherigen Druckausgabe der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" ist im letzten Jahr eingestellt worden. Wie zu hören ist, hat sich der zugehörige Trägerverein wegen Überalterung aufgelöst.

Größere Lagerbestände von vielen Jahrgängen dieser Zeitschrift sind noch vorhanden wie uns mitgeteilt wird. 

/Aktualisierung 24.9.2019: Diese Ausgaben sind neuerdings erhältlich hier: Lesen & Schenken. /

Abb. 1: Ausgaben der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule"

Insbesondere mit ihren Folgen 59 bis 105, erschienen in den Jahren 1989 bis 1996, stellte diese Zeitschrift - unseres Erachtens nach - die qualitativ wertvollste, modernste Zeitschrift innerhalb des deutschen Sprachraumes dar. Es beruhte dieser Umstand vor allem auf der Mitarbeit und auf den Beiträgen ihres Autors Hermin Leupold.

Ein Band mit den gesammelten Aufsätzen von Hermin Leupold, der käuflich erworben werden kann, ist zwar erhältlich (siehe rechte Randleiste). Er enthält allerdings sehr viele der wertvollsten Inhalte nicht. Er enthält nicht Aufsätze, die unter Schriftstellernamen wie Wilhelm Schäfler oder Gustav Eilers veröffentlicht worden sind. Er enthält nicht Aufsätze, die im Zusammenwirken mit ihm von anderen Autoren in jener Zeit in der Zeitschrift erschienen sind zu zeitgeschichtlichen oder kulturgeschichtlichen Themen. Auch um der sonstigen äußeren Gestaltung willen kann durch das Lesen der Zeitschriften-Hefte selbst der gegebene gedankliche Gehalt noch viel besser aufgenommen werden als nur durch das Lesen des Sammelbandes. Der Sammelband gibt eigentlich - wenn man es genau nimmt - ein viel zu einseitiges Bild des geistigen Erbes von Hermin Leupold.

Natürlich enthalten auch die Zeitschriften-Ausgaben aus der Zeit vor und nach dem genannten Zeitraum wertvolle Inhalte. Sie sind gestaltet worden davor von Werner Preisinger und Kurt von Zydowitz, danach von Gertraud Hagner-Freymark.

Aus Anlaß dieser Mitteilung soll im folgenden ein bislang noch unveröffentlichter Blogbeitrag veröffentlicht werden, der ein Beispiel bringt für eine von vielen kulturellen Traditionen, aus denen heraus die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" gestaltet worden ist und an deren Lebendigerhaltung sie mitgearbeitet hat.

"Kunst und Leben" - Ein für das Kulturleben wichtiger Abreißkalender der Jahre 1909 bis 1943


Die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" hat häufig Bilder gebracht aus dem Band "Du mein Deutschland", der 1916 im Kunstverlag von Fritz Heyder herausgekommen ist. So "Frühling" von Hans am Ende (März 1993), "Kiefern im Wind" von Otto Ubbelohde (März 1994), "Aus dem Schwarzwald" von Karl Biese (November 1994), "Vorfrühling" von Hans von Volkmann, "Neuschnee" von Karl Biese (November 1995), "Am Hafen" von Ulrich Hübner (Mai 1996) und "Am See" von Philipp Franck (September 1996).


Abb. 2: Karl Biese - Tal im Schnee (erschienen 1927)

Nach dem Tod von Hermin Leupold sind in dieser Zeitschrift ebenfalls gelegentlich Abbildungen aus diesem Kunstband gebracht worden. So "Im Sonnenschein" und "Tief im Moor" von Hans am Ende (Februar 1997 und Mai 1998) und "Einsame Fichten" von Otto Ubbelohde (September 2002).

Im Untertitel lautete der genannte Band aus dem Jahr 1916 "Heimatbilder deutscher Künstler ausgewählt aus Bildern des Kalenders 'Kunst und Leben' ". Dieser Abreißkalender "Kunst und Leben" wurde ab 1909 von dem schon genannten deutschen Verleger Fritz Heyder (1882-1941) herausgegeben. Bis zum Ende seines Erscheinens im Jahr 1943 war er in Deutschland weit verbreitet. 2002 hat ein Buch an Fritz Heyder und sein verlegerisches Wirken erinnert. Über dieses wurde mitgeteilt (Wolfgang Immenhausen auf: vacatverlag) (Hervorhebung nicht im Original):
Von 1909 bis 1943 streute ein kleiner Berliner Verlag zeitgenössische Kunst und Literatur unters Volk, indem er den Abreißkalender Kunst und Leben herausgab. Hunderte von Künstler, darunter so bekannte Namen wie Baluschek, Kollwitz, Kubin, Liebermann, Pechstein, Slevogt, Vogeler und Zille waren darin vertreten. In den Kalendersprüchen von Heinrich und Thomas Mann, von Klabund und Hesse sowie zahlreichen anderen Dichtern und Denkern fanden die über 15.000 Leser Jahr für Jahr Erbauliches und Trost. Dieses Buch rekonstruiert die Geschichte des Verlages und stellt eine heute altmodisch anmutende Verlegerpersönlichkeit vor, die ihren Lesern mit guter Kunst und Literatur durch die turbulenten Zeiten helfen wollte. Anhand von vierzig Künstlerbiographien und Essays mit fast zweihundert Abbildungen entfaltet sich ein kulturhistorisches Panorama aus neuer Perspektive. Die Definitionen von hoher und populärer Kunst sowie die vermeintlichen Gegensätze zwischen Reaktion und Moderne werden darin einer Revision unterzogen. 
Es handelt sich hierbei um ein packendes Buch. Denn dieser "altmodische" Verleger Fritz Heyder verfolgte Anliegen, die denen der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" sehr ähnlich waren. Insbesondere auch der letzte Satz des gebrachten Zitates enthält bedenkenswerteste Aussagen. Über Fritz Heyder ist an anderer Stelle zu erfahren (Fritz-Heyer-Archiv):
Geprägt von dem Gedanken, Kunstwerke aus den Ausstellungen in den Alltag zu bringen und jedermann zugänglich zu machen, schuf er einen Wochenkalender, der an jedem Sonntag einen Originalholzschnitt und auf dem Wochenblatt ein Gedicht und einen Kalenderspruch veröffentlichte. In den Jahren seines Erscheinens bis 1943 waren viele der zeitgenössischen Maler und Grafiker, arrivierte aber auch junge Künstler, mit ihren Blättern vertreten. (...) Um die Kosten niedrig zu halten und breiten Kreisen der Bevölkerung den Kauf des Kalenders zu ermöglichen, wurde jeweils nur das einmalige Veröffentlichungsrecht erworben. Die Originale der Druckvorlagen gingen an die Urheber zurück. Die Überlieferung umfaßt deshalb vor allem die Korrespondenz mit den Künstlern.
Einer unter diesen Künstlern war Karl Biese (1863-1926) (Wiki).

Abb. 3: Karl Biese - Wintertag (erschienen 1928)

1919 ist er in dem Band "Die Schönheit der deutschen Landschaft" vertreten mit: Der Wasigenstein im Wasgau - Nordspitze von Helgoland - Bergstraße mit Melibokus - Rechberg in der Alb mit Hohenstaufen - Weinfelder Maar in der Eifel - Schwarzwald im Winter.

Abb. 4: Karl Biese - Herbstmorgen im Tannenwald, 1915


Solche Bilder laden zu langem Verweilen ein, ein Geschehen, das jener Nervosität, die die Nutzungsmöglichkeiten des Internets leicht hervor rufen kann, diametral entgegen gesetzt ist. Auch deshalb mag es immer wieder gute oder sogar beste Gründe geben, statt sich der Geisteskost digital zu widmen, auf Druckausgaben von Kulturgut in Papierform zurückzugreifen.


[erster Entwurf: 24.4.2017]

_____________________________________________
  1. Du mein Deutschland. Heimatbilder deutscher Künstler ausgewählt aus Bildern des Kalenders "Kunst und Leben". Deutsche Gedichte. Mit einer Titelzeichnung und einem Geleitwort von Hans Thoma. Verlag Fritz Heyder, Berlin-Zehlendorf 1916
  2. Reinhard, Regine u.a.: Kunst und Leben 1909-1943. Der Berliner Kunstverlag Fritz Heyder. Vacat Verlag, Berlin 2002 (243 S.), http://www.vacatverlag.de/titel/kunst-und-leben/
  3. Fritz-Heyder-Verlagsarchiv. http://www.adk.de/de/archiv/archivbestand/bildende-kunst/kuenstler/fritz-heyder-verlagsarchiv.htm
  4. Die Schönheit der deutschen Landschaft. 32 Federzeichnungen von Antoine, Biese, Grimm-Sachsenberg, Geyer, ter Hell, Köcke, Kuron, Licht, Liedtke, Messerschmidt, Müller-Münster, Plontke, Popp, Preiß, Reich, Türcke. [u. a. Einleitung von Adolf Grüttner] Antoine, Otto, Adolf Grüttner Karl Biese u. a.: Verlag F. Schneider, Berlin-Schöneberg 1919
  5. Heimat - Zeichnungen Deutscher Künstler, Verlag Fritz Heyder, Berlin 1916 ff.
  6. Heyder, Fritz (Hrsg): Fröhliche Jugend. Ein Hausbuch aus dem Reichtum deutscher Dichtung. Berlin, Heyder, 1919
  7. Heyder, Fritz (Hrsg.): Heimat. Zeichnungen deutscher Künstler ausgewählt aus Bildern des Kalenders "Kunst und Leben". Deutsche Gedichte. Verlag Fritz Heyder, Berlin 1920
  8. Deutsches Lied - Zeichnungen von Otto Ubbelohde. Verlag Fritz Heyder, Berlin ca, 1920
  9. Heyder, Fritz (Hrsg.). Die Zeichnung. Nr. 17. Sonderheft: Holzschnitte. Berlin-Zehlendorf Fritz Heyder oJ (ca ), 1922
  10. Heyder, Fritz (Hrsg.): Freude an der Kunst. Die zeitgenössische deutsche Schwarz-Weiß-Kunst Kunst und Leben. Erschienen in Berlin-Zehlendorf bei Fritz Heyder im Jahre 1938

Donnerstag, 21. Februar 2019

Der deutsche Schauspieler Bruno Ganz ist gestorben

"Größeres wolltest auch du ..." 
- Bruno Ganz liest Hölderlin 

Aus Anlaß des Todes des deutschen und Schweizer Schauspielers Bruno Ganz (1941-2019) (Wiki) soll im folgenden Beitrag an ihn erinnert werden. Wir wurden auf Bruno Ganz hier auf dem Blog deshalb aufmerksam, weil er unseres Erachtens zu den ganz wenigen Vortragenden gehört, die Dichtungen von Friedrich Hölderlin in gültiger Weise vortragen können. So stellten wir im April 2017 in einem Blogartikel fest, der hiermit noch einmal neu und leicht überarbeitet eingestellt werden soll.

In diesem Video etwa (Yt) liest Bruno Ganz das Gedicht "Lebenslauf" von Friedrich Hölderlin ("Größeres wolltest auch du ..."). Und in einem weiteren (Yt) liest er das Gedicht "Hälfte des Lebens". Die Aufnahmen dieser Lesungen sind schon im Jahr 1984 entstanden (5).

Die Entdeckung dieser Lesungen auf Youtube ließ uns danach fragen, was überhaupt an gesprochenem Wort oder an Schauspielleistungen sowohl zu dem Leben wie zu dem Werk des deutschen Dichters Friedrich Hölderlin im Internet zugänglich ist. Denn für die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" ist der deutsche Dichter und Philosoph Friedrich Hölderlin ja schon seit den frühen 1990er Jahren ein wichtiger inhaltlicher, geistiger Bezugspunkt geworden (7-9). In diesen Beiträgen wurde die These vertreten, daß Hölderlin für hundert Jahre der gültigste Vertreter jener Philosophie und Weltanschauung gewesen ist, die dann ab 1921 von Mathilde Ludendorff - von neuen Ausgangspunkten aus - formuliert worden ist.

Eine Durchsicht des im Internet zu Friedrich Hölderlin frei Verfügbaren zeigt, daß viele Künstler, Dichter und Denker - auch mancherlei Esoteriker - sich zu Hölderlin geäußert haben, daß sie schauspielerische Darstellungen zu seinem Leben bieten oder daß sie aus seinen Werken vortragen, und daß Aufnahmen davon verfügbar sind. Nun wird es gewiß Geschmackssache sein, ob der einzelne darunter echt Überzeugendes finden will oder auch nur hinlänglich "Genießbares". Also etwas, das dem inneren Gehalt des Lebens und des Werkes von Friedrich Hölderlin gerecht wird.

Es finden sich Aufnahmen der Philosophen Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Diese äußern sich zu Hölderlin und lesen aus seinen Dichtungen. Diese Aufnahmen werden als Dokumente der Philosophie-Geschichte ihre Bedeutung behalten. Insbesondere deshalb, weil Gadamer der akademische Lehrer des Hölderlin-Forschers Dieter Henrich (geb. 1927) (Wiki) gewesen ist (3), der dem Philosophieren von Friedrich Hölderlin eine ganz neue geistesgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben hat. Ob die Aufnahmen von Heidegger und Gadamer den Geschmack für heute lebende Menschen treffen und ob man sich über diese dem Hölderlin'schen Werk annähern möchte, das wird der einzelne für sich selbst entscheiden müssen.

Es finden sich auch Ausschnitte aus zwei Spielfilmen, die zu dem Leben von Friedrich Hölderlin gestaltet worden sind. Es handelt sich hier einerseits um "Hälfte des Lebens" (DDR, 1985) und um "Der Feuerreiter" (1998). Beide Spielfilme scheinen uns ganz und gar unmöglich zu sein. Schon wenige Ausschnitte aus ihnen lassen dem Kenner des Werkes von Friedrich Hölderlin diesen Umstand sehr schnell erkennbar werden. Es wird hier einem schreienden Miß- und Unverständnis vieler Lebensinhalte und -anliegen Hölderlins gleichzeitig Ausdruck gegeben, auch der persönlichen Eigenart von Friedrich Hölderlin.

Mehr oder weniger entsetzt und geradezu zutiefst befremdet kehrt man deshalb, nachdem man in vieles hinein gehört, bzw. nachdem man sich vieles angesehen hat, aufatmend und gerne zu den Lesungen des Schauspielers Bruno Ganz zurück. Von Bruno Ganz gibt es auch gelesen die Gedichte "Diotima" (frühe Fassung) (Yt) und "Der Neckar" (Yt). Uns fällt dabei allerdings auf, daß Ganz den Namen Diotima nicht richtig ausspricht. In der Literatur erhält man bestätigt, was jenem, der sich schon intensiver mit Hölderlin beschäftigt hat, eigentlich doch schon länger klar geworden sein kann (2, S. 71):

"Diotima" (...). Hölderlin betont, wie die Gedichte erweisen, auf dem zweiten i.

Außerdem gibt es von Bruno Ganz gelesen den letzten Gedicht-Entwurf, an dem Hölderlin in seiner Zeit in Bad Homburg gearbeitet hat: Mnemosyne (2. Fassung) (Yt). Bis zum Jahr 2019 sind nun sogar noch weitere Hölderlin-Gedicht-Rezitationen von Bruno Ganz auf Youtube zugänglich geworden (5) (Abb. 1). Beschäftigt man sich mit diesen, tritt ganz in den Hintergrund, daß Bruno Ganz auch die Hitler-Rolle in "Der Untergang" ausgezeichnet gespielt hat. Wer aber so gewichtige Gedichte wie die Hölderlins so lesen kann, daß sie einem gültig gesprochen erscheinen, vor einem solchen Künstler darf man Achtung und Respekt entwickeln.

Abb. 1: Langspielplatte - Bruno Ganz liest Hölderlin

Bruno Ganz gilt denn auch - wie man dann erst aus diesem Anlaß erfährt - als der bedeutendste deutsche Bühnenschauspieler seiner Generation. Im Nachruf in der "Zeit" findet man viele Spielfilme erwähnt, in denen Bruno Ganz mitwirkte. Vielleicht wird man sich dieserhalben den einen oder anderen derselben sogar mit Gewinn anschauen können (6). Es findet sich auch folgende Angabe zum Leben von Bruno Ganz (6):

Dem Magazin Bunte sagte er 2010, gefragt nach seinem Lebenswerk: "Ich habe mir Mühe gegeben, und vieles hat geklappt." Stolz sei er vor allem darauf, "den Vernichter Alkohol" besiegt zu haben. Nach jahrelanger Abhängigkeit habe er sich an die Anonymen Alkoholiker gewandt und seine Sucht überwunden.

Seine Lesungen veranlassen uns, uns noch einmal genauer mit dem Hölderlin'schen Gedicht-Entwurf "Mnemosyne" zu beschäftigen, der auch bei der Lesung inhaltlich zunächst ganz unverständlich erscheint. 

"Mnemosyne" und das "Homburger Folienheft"

Es handelt sich ja auch nur um unvollendete Bruchstücke einer geplanten größeren Dichtung. Sie finden sich, so erfahren wir bei genauerer Beschäftigung, auf den letzten Blättern des sogenannten "Homburger Folienheftes", dessen Gedicht-Abfolge womöglich in einem sinnvollen Zusammenhang miteinander stehen. Vielleicht nämlich wollte Hölderlin - so ist zu erfahren - sie in genau dieser Reihenfolge auch veröffentlichen (Wiki). Hölderlin lebte zuletzt von 1804 bis zum 11. September 1806 in Bad Homburg. In diesem Folioheft ist "Mnemosyne" von allen Gedicht-Entwürfen der am wenigsten vollendete.

Die Lesung von Bruno Ganz wird vielleicht den einen oder anderen anregen, nach dem Sinn zu fragen, auf den Hölderlin in diesem Gedicht hingearbeitet haben mag. Dieser wird aus den bislang bekannten Fragmenten nicht deutlich, auch nicht aus dem, was Bruno Ganz vorliest. Aber auch nur aus den scheinbar zusammenhanglosen Fragmenten heraus merkt man, daß es sich - wie bei allen späten Dichtungen Hölderlins - um äußerst Tiefsinniges handelt. "Mnemosyne" ist die Göttin des Erinnerungsvermögens. Um deutlich zu machen, vor welchen Schwierigkeiten hier die Bearbeiter der Hölderlinschen Dichtungen stehen, sei die erste Seite der Edition des handschriftlichen Entwurfs dieses Gedichtes mit eingestellt (Abb. 2).

Abb. 2: Gedicht-Entwurf "Mnemosyne" in editierter Form (erster Teil)

Hier sind mindestens drei Textschichten zu erkennen, drei Stadien der Erarbeitung und Überarbeitung, bzw. Ergänzung. Jede Textschicht scheint - wenn dann ihren eigenen gedanklichen Zusammenhang zu haben. Ein gedanklicher Zusammenhang mit späteren Textschichten muß aber keineswegs als gar so dicht gegeben sein. Auch dürfte die hier vorgenommene Zuordnung in frühes, mittleres und spätes Stadium schon für sich selbst nicht durchgängig unstrittig sein in der Forschung. Fettdruck jedenfalls zeigt wohl die am spätesten hinzugefügten Zeilen, mittlere Druckstärke ein mittleres Stadium und dünner Druck den angenommenen ersten Entwurf an. - Dies sei an dieser Stelle nur ausgeführt, um einen Eindruck zu geben, nicht um zu diesem Thema irgend etwas Erschöpfendes sagen zu wollen.

Es dürfte hier sinnvoll sein, sich einmal in die Hölderlin-Forschung zu vertiefen und zu fragen, was diesbezüglich die bisherigen Früchte der Forschung darstellen. (Leider gibt es auch noch keinen eigenen Wikipedia-Artikel zu "Mnemosyne".)

"Ein Streit, ob noch ist der Gott"

Ergänzung 9.3.24: Bei nochmaligem Hinschauen in diese Zeilen - und nachdem wir uns inzwischen noch etwas mehr mit den Dichtungen des Homburger Folioheftes ganz allgemein beschäftigt haben - erkennen, bzw. erahnen wir hier doch sehr deutlich Sinnzusammenhänge. Man lese ja nur. Man möchte ganz allgemein meinen, daß Hölderlin hier das Thema des Atheismus, der Gottlosigkeit behandelt, die er beide künftig als anwachsend voraus sieht. Und die Gottlosigkeit ist eine Folge des Umstandes, daß wir "die Sprache in der Fremde verloren" haben - "fast" jedenfalls verloren haben. Gemeint ist damit natürlich die Dichtung, die allein angemessene Sprache, um über Gott zu sprechen. Und daß wir über diesen Umstand einerseits zwar "schmerzlos" sind, andererseits aber dennoch untereinander in Streit geraten, "sprachlos" und "deutungslos" und damit auch "schmerzlos" wie wir sind. Womöglich möchte Hölderlin sagen, daß das Erinnerungsvermögen an gotterfüllte Zeitalter - an die Helden Achill, Patroklos und Ajax - zurückzuführen vermag aus der Gottlosigkeit in ein neues gotterfülltes Zeitalter. Nun also seine Zeilen:

Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Wenn nämlich ein Streit ist über Menschen,
Ob noch ist der Gott. ...

An dieser Stelle kommt das Dichten erst einmal ins Stocken. Und Hölderlin wählt mehrere Ansätze, um die Dichtung gedanklich weiter zu führen. Er versucht es mit der Erinnerung an "Blumen" und "Wasser", mit der Erinnerung an "Gestirne", an "Monde". In gedanklicher Weiterführung führt er aus, der Streit geschieht ...

Der Ehre wegen. Denn furchtbar gehet
Lebendiges

Der Streit geschieht der Ehre der Götter wegen:

Ein Streit ist an dem Himmel und
Die Monde gehn ...
....
Gewaltig zürnet
Das Meer auch.

Lebendiges ist "erkrankt", "ungestalt", offenbar sogar die Natur ist in Streit geraten - so wie die Menschen untereinander. "Erkrankt" und "ungestalt" sucht Lebendiges Wege, aber nicht selten werden diese ...

... zu gierig genommen.

Und Hölderlin fragt jetzt: Wer kann es ändern, diesen Zustand des Unheils, des Streites? Und er antwortet, ein Gott kann es ändern (man mag auch an einen "Gott" wie Empedokles denken):

Ist aber Einer - Der kann täglich
Es ändern. Kaum bedarf er
Gesetz, wie nämlich es
Bei Menschen bleiben soll. Viel Männer möchten da ...

Viel Männer möchten da, so möchte man ergänzen, manches. Aber der Zustand des Unheiles, des Streites kann und soll nicht über Gesetz geändert werden, dessen bedarf es gar nicht. Dies ist ja auch einer der Grundgedanken im "Hyperion" ("da hilft nur Regen vom Himmel allein"). Weder Gesetz allgemein bedarf es, so Hölderlin, noch auch die erneute Inkraftsetzung alter Gottesleugnungs-Gesetze. Es bedarf einer viel grundlegenderen Erneuerung. Hölderlin schränkt dann aber auch diese Möglichkeit zur täglichen Änderung durch einen Gott wieder ein:

Nicht vermögen
Die Himmlischen alles, Nämlich es reichen
Die Sterblichen eh an den Abgrund. Also wendet es sich
Mit diesen. Lang ist ...
Die Zeit, es ereignet sich aber 
Das Wahre.

Das tiefe Unheil, die Sprach- und Deutungslosigkeit wenden sich also nicht durch Götter, sondern es wendet sich mit ihnen, den Sterblichen. Und dazu sagt Hölderlin dann (denn er kennt die Beschaffenheit der Sterblichen seines christlichen Zeitalters): "Lang ist die Zeit / es ereignet sich aber / Das Wahre." Es erinnern diese Worte an das Wort Hegels (sinngemäß): "Wir müssen davon überzeugt sein, daß das Wahre die Natur hat, durchzudringen, wenn seine Zeit gekommen." Wenn Hegel das sagt, dann sagt er das mit einer gewissen Gelassenheit. Es liegt darin nicht so viel Verzweiflung, wie wenn Hölderlin denselben Gedanken äußert. Hegel also äußert diesen Gedanken "schmerzlos". In den folgenden Zeilen sucht Hölderlin sich und seine Leser zu trösten über die Länge der Zeit:

                      ... es girren
Verloren in der Luft die Lerchen und unter dem Tage weiden
Wohlangeführt die Schafe des Himmels.
Und Schnee, wie Maienblumen,
Das Edelmütige, wo ... 

Die grammatische Zuordnung des "Edelmütigen" wird hier nicht so klar. Aber Schnee, Wolken, Maienblumen und reiner Himmel für sich genommen dürften ja schon "edelmütig" sein. In einer späteren Textschicht setzt er neu an und führt fort:

Wohl ist uns die Gestalt
Der Erd
heimatlich, die 
...
Die Sinne betäubt ...
Das Edelmütige, wo
Es seie bedeutend, glänzet auf der grünen Wiese

Die hier begonnene lesende Deutung muß anhand der nächsten Seite in der in Abb. 1 editierten Fassung fortgesetzt werden. [Ende Ergänzung]

Hölderlin war ein eigenständiger Philosoph

Abschließend sei noch auf zwei, bzw. drei weitere Funde zum Thema Hölderlin aufmerksam gemacht. Zum einen mag es vielleicht bedenkenswert erscheinen wie Christian Reiner die Turmgedichte Hölderlins liest (Yt). (Dazu werden leider mehrmals viel zu nervöse Filmsequenzen eingeblendet, diese lenken ab. Da ist zu empfehlen, sich nur auf das Hören zu konzentrieren.)

Und zum zweiten sei hingewiesen auf etwas, was noch einseitiger die Ratio, die Vernunft anspricht im Vergleich zu der bisher behandelten Dichtung: Sicher mit Gewinn hört sich der der englischen Sprache Mächtige eine Vorlesung von Edward Kanterian an über "Hölderlins Metaphysik" (1). Der Vorstellungstext macht deutlich, daß hier tatsächlich der aktuelle Forschungsstand referiert wird, der auch in der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" zum Ausgangspunkt seit 1990 gewählt worden war. Es heißt da über Hölderlin:

Jüngere Forschungen durch Dieter Henrich, Michael Franz und andere haben gezeigt, daß er auch ein selbständiger Philosoph gewesen ist, der eine eigenständige Konzeption zu dem Verhältnis von Kunst, Dichtung und Metaphysik zueinander aufzuweisen hat, und der ein wesentlichen Einfluß auf den jungen Schelling und besonders Hegel ausgeübt hat. Diese Vorlesung untersucht Hölderlins metaphysische Ideen im Verhältnis zu denen von Denkern wie Kant und Fichte so wie sie in verschiedenen Fragmenten und Briefen formuliert worden sind.
(Original: More recent research, as undertaken by Dieter Henrich, Michael Franz and others, has shown that he was a genuine philosopher as well, who had an original conception of the relation between art, poetry and metaphysics, and who was a major influence on the young Schelling and especially Hegel. This talk explores Hölderlin's metaphysical ideas in relation to those of thinkers like Kant and Fichte, as formulated in various fragments and letters.)

In diese Vorlesung kann man sich übrigens auch über ein Transkript (1) einarbeiten. Leider gibt es von dem hier erwähnten Hölderlin-Forscher Dieter Henrich selbst bislang offenbar keine ausführlicheren Hörproben zu Hölderlin selbst. Allerdings gibt es ein - immerhin auch sonst - hörenswertes Gespräch mit Henrich über sein Leben und Philosophieren, in dem Henrich auch kurz auf Hölderlin zu sprechen kommt. Er sagt (3, 13'20, 14'05):

Zu Hölderlin bin ich viel später gekommen, nicht in der Frühzeit. (...) Der Philosoph Hölderlin war in der Zeit meines Studiums noch weitgehend unbekannt. Das gehört zu meinen wissenschaftlichen Leistungen, denke ich, den Philosophen Hölderlin in der ganzen Dimensionalität, die seine ja nur in wenigen Fragmenten überlieferten Gedanken hatten, erschlossen zu haben.

Leider wird er zum Thema Hölderlin in diesem Gespräch dann nicht weiter befragt. Aber auch sonst ist in diesem Gespräch manches Aufschlußreiche enthalten. Henrich war Schüler von Hans-Georg Gadamer. Dazu sagt er (24'15):

Gadamer war für mich die lebende Inkarnation des philosophischen Daseins.

Die erwähnte Auseinandersetzung Dieter Henrich's mit Hölderlin beginnt 1976, also mit 49 Jahren (4).


 ____________
/ Zuerst veröffentlicht 17.4.2017;
ergänzt und leicht überarbeitet:
21.2., 8.4.2019
erneut ergänzt: 9.3.24  /


___________________________________________________
  1. Kanterian, Kdward: Hölderlins Metaphysic. Lecture given in the Aesthetics Research Group Seminar, School of Arts, University of Kent, 23 November 2012, https://www.youtube.com/watch?v=Ox727wSlcgY&t=2443s; Transcript: https://docs.google.com/document/d/1TELF81vGqam91vlgpnL6mY-7y5OIT-YHQXj-g9pBOMk/edit
  2. Viëtor, Karl: Nachwort und Anmerkungen. In: ders. (Hrsg.): Die Briefe der Diotima. Insel-Verlag, Leipzig o.J. [1921], S. 69-80 (vollständig einsehbar auf Google Bücher und Google Play Bücher)
  3. Dieter Henrich, Philosoph, im Gespräch mit Reinold Hermanns. SWR2 Zeitgenossen, Lust auf Kultur. 7.3.2009, http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/zeitgenossen/henrich-dieter-philosoph/-/id=660664/did=4433718/nid=660664/1g0go33/index.html
  4. Henrich, Dieter: Aufklärung der Herkunft des Manuskripts "Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 20, Heft 4, Meisenheim 1976, S. 510-528, https://www.jstor.org/stable/20482291?seq=1#page_scan_tab_contents
  5. Ganz, Bruno: Hölderlin. Gedichte gelesen von Bruno Ganz. ECM Records GmbH, Deutsche Grammophon GmbH, Berlin 1984, https://www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_ksvzVZ7ym_rMxdDoW7ac6m2Rn1fCtepTE
  6. Carolin Ströbele: Bruno Ganz - Der Überirdische - Er war der Engel in "Der Himmel über Berlin", der Hitler in "Der Untergang" und ein Revolutionär des deutschsprachigen Theaters. Ein Nachruf auf Bruno Ganz. In: Die Zeit, 16. Februar 2019, https://www.zeit.de/kultur/film/2019-02/bruno-ganz-schauspieler-nachruf/komplettansicht
  7. Gedenken an Friedrich Hölderlin (20. März 1770 - 7. Juni 1843). In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 68, Juli 1990, S. 1-3, Online auf: http://fuerkultur.blogspot.com/1990/07/gedenken-friedrich-holderlin.html
  8. Friedrich Hölderlin. Versuch zur Erfassung seines Werkes. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 69, September 1990, S. 21-24, Online: http://fuerkultur.blogspot.de/1990/09/friedrich-holderlin.html
  9. Leupold, Hermin: Antworten auf Grundfragen zur menschlichen und kosmischen Existenz. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 71, Januar 1991, S. 1-4; erneut in: (Hermin Leupold: Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Aufsätze zur geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistheorie, zur Evolution des Weltalls und des Bewußtseins. Die Deutsche Volkshochschule, 23845 Bühnsdorf, 2001

Dienstag, 22. Januar 2019

Elly Ney - Discographie

Die Sprache der Musik klingt unmittelbar von Ohr zu Ohr. Sie bedarf keiner Worte. Wer Beethovens fünftes Klavierkonzert, gespielt von Elly Ney (1882-1962) (Wiki) zusammen mit den Berliner Philharmonikern unter Hermann Abendroth (1883-1956) (Wiki), aufgenommen am 13. Oktober 1944 in Berlin, gehört hat, bedarf keiner Worte mehr. (Zumindest zunächst und fürs weitere.)

Ebensowenig bedarf der Worte, wer das Klaviertrio Nr. 1, op.  8 von Johannes Brahms gehört hat, aufgenommen 1933 von dem damals so berümhten Elly Ney-Trio.

Auch bedarf keiner Worte, wer Schumann's "Sinfonische Etüden", op. 13, gespielt von Elly Ney gehört hat, aufgenommen 1962, fünf Jahre vor ihrem Tod. Aber natürlich hat auch mancher - Jahre später vielleicht - Worte gefunden. Zum Beispiel diese:
Wer von den Älteren noch das Glück hatte, Künstler aus der Generation um Elly Ney zu erleben, wird nie die Kraft der dauerhaften Verwandlung vergessen, die von solchen Musikern ausging: Sichtbare und klingende Gesten öffneten das Tor zu einem erträumten Land der Schönheit, die einen fortan begleitete.
Was für Worte. Auf Tonträger gebannte Musik ist von Elly Ney in ihren beiden letzten Lebensjahrzehnten fast durchgängig im "Colosseum Musikstudio" in Nürnberg entstanden. Und dieses "Colloseum Musikstudio" hat im Jahr 2003 eine Gesamtausgabe all dieser Aufnahmen auf 12 CD's  herausgegeben und diese aus diesem Anlaß mit den angeführten Worten begleitet (CD 4). Zu CD 1 wurde festgehalten (1-4):
Mittlerweile sind gut vier Jahrzehnte vergangen, seit Elly Ney am 31. März 1968 in Tutzing starb. Noch zwei Monate zuvor war sie ein letztes Mal ins Studio gegangen, um die Sonaten op. 110 und op. 111 von Ludwig van Beethoven einzuspielen - das Schlußwort eines Lebens.
Schon zwei Aufsätze sind hier auf dem Blog über die Pianistin Elly Ney erschienen (DVHS 1, 2). Die Beschäftigung mit dieser Künstlerin läßt einen aber auch dann noch nicht los. Unsere beiden bisherigen Aufsätze scheinen uns auch noch viel zu sehr motiviert zu sein davon, eine Abwehr von Mißverständnissen zu leisten, als sich einfach offen und herzlich auf das Musizieren dieser Elly Ney selbst nun auch einlassen. Und so arbeiten wir also gerade an einem weiteren Beitrag über Elly Ney.

Abb. 1: Elly Ney

In Vorbereitung darauf scheint es uns nun sinnvoll zu sein, ein möglichst vollständiges Verzeichnis aller zugänglichen Aufnahmen des Musizierens von Elly Ney zusammen zu stellen. Dieses bildet denn auch den Kern dieses Beitrages. Aber dieses Verzeichnis muß natürlich noch nach und nach natürlich ergänzt werden. Fast jeden Monat erscheinen auf Youtube und anderwärts neue, bislang unbekannte Aufnahmen. Eine gute Orientierung insgesamt aber bietet nun die eben genannte Gesamtausgabe des "Colosseum Musikstudios" aus dem Jahr 2003 (1, 2).*) Auch um der Ehrfurcht willen dem Musizieren von Elly Ney gegenüber, die auf den Umschlägen dieser CD's in Worten zum Ausdruck gebracht wird, ist man von dieser Gesamtausgabe berührt. So etwa auch durch die Worte (zu CD 6):
Nicht nur für "Jäger und Sammler" verlorener musikalischer Schätze oder für nostalgische Kenner und Liebhaber, die noch das Glück hatten, Elly Ney in einem ihrer unvergeßlichen Live-Auftritte zu erleben, ist die große Edition aus dem Hause Colosseum ein unschätzbares Objekt: Das eigenwillige, von höchsten Idealen getragene Sendungsbewußtsein der Pianistin, ihr ganz persönlicher Blick auf die Meister der Klassik und der Romantik vermögen, wie sich inzwischen immer deutlicher zeigt, auch jüngere Generationen anzusprechen, die sich auf der Suche nach Leitbildern nicht mit der "Tagessuppe" bescheiden, sondern sich ein wenig längerfristig ausrichten wollen. (...)
Solch massive und trotz aller Verinnerlichung des Ausdrucks nie "zerdachten" Einspielungen wie das hier vorliegende fünfte Klavierkonzert oder die brodelnd dramatische Appassionata sind Höhepunkte einer historischen Ära, die gerade erst wieder ihre Renaissance erlebt.
Wer sich als gänzlicher Laie mit dem Musizieren von Elly Ney beschäftigt - wie der Autor dieser Zeilen - kann über dieses sogar einen ganz neuen Zugang zu so bedeutenden Werken wie denen von Brahms, Schumann oder Beethoven bekommen, so etwa auch zu anspruchsvollerer Kammermusik, ja, auch insbesondere auch zum Spätwerk von Ludwig van Beethoven, von dessen schierem Vorhandensein ein musikalischer Laie ja erst einmal Kenntnis erlangen muß, und für das er doch auch erst einmal begeistert werden muß. Denn gerade dieses Spätwerk scheint doch auch noch einmal besonders anziehend zu sein. Und das ist ja auch die Aufgabe der Interpreten der großen Komponisten: Frische, neue, ungeteilte Anteilnahme für ihre unsterblichen Kompositionen zu wecken.

Abb. 2: Elly Ney


Und so wird man noch viele Entdeckungen machen können, wenn man sich heute - im Internet und anderwärts - auf die Suche nach "Elly Ney" macht. Erstaunlich, wie viele überlieferte Aufnahmen im Internet schon zugänglich sind. Und es kommen geradezu täglich neue dazu.

Die Tatsache, daß Elly Ney - "landläufig" - einen so "schlechten" Ruf hat, hat - bei dem Verfasser dieser Zeilen - eine gegenteilige Wirkung. Er hat angefangen, Elly Ney für sich zu entdecken, musikalisch am meisten wohl zunächst durch so manche Kammermusik-Aufnahme von Elly Ney.

Um so mehr man sich mit dem Musizieren und Leben von Elly Ney beschäftigt, um so mehr verlieren die Vorwürfe politischer Art alle Bedeutung. (Und zwar schlichtweg: alle Bedeutung.) Es ist - im Angesicht der Musik und ihrer immensen Bedeutung - ganz absurd, viel zu weit entfernt, um sich mit ihnen auch nur ansatzweise zu beschäftigen.

Und gerade die unglaubliche Kleingeistigkeit in der Beurteilung von Elly Ney durch manche heutige Zeitgenossen ist es, die einem den Zugang zu Elly Ney anfangs so außerordentlich schlimm versperren kann. Was ist der Zweck? Das darf sich jeder selbst fragen. - Aber nun war es genau das Ärgernis, das in dem Autor dieser Zeilen über diesen versperrten Zugang entsteht, der immer mehr zur Veranlassung wurde, sich mit Elly Ney wohl noch intensiver auseinander zu setzen als stünde die Kritik von Zeitgenossen ihr mehr oder weniger gleichgültig gegenüber. Und so kommt es, daß Elly Ney für den Verfasser dieser Zeilen, der sich viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte lang mit nur wenig Intensität überhaupt mit klassischer Musik beschäftigt hat, von Elly Ney den Weg zu manchem, ihm bislang unbekannten oder wenig bekannten Werk weisen läßt. Er hat die Erfahrung gemacht, daß der Weg, den man mit Elly Ney zu diesen Werken macht, niemals enttäuscht, niemals gehaltlos ist. Man braucht sich nicht unbedingt sicher sein, ob das für jede Interpretation dieser Werke gilt. Jedenfalls scheint man hier - sozusagen - immer auf "sicherem Boden" zu stehen.

Auch Beethovens Streichquartett Nr. 14 cis-Moll op. 131 (Wiki) wird hierdurch ganz neu von dem Autor dieser Zeilen entdeckt. Es ist im Juli 1826 - unmittelbar auf die Komposition der "Großen Fuge" aus dem vorherigen Streichquartett Nr. 13 B-Dur op. 130 (Wiki) - komponiert worden, ein dreiviertel Jahr vor seinem Tod. In diesem Blogbeitrag geht es aber vor allem um ein Verzeichnis aller verfügbaren Aufnahmen von Elly Ney und auch - nach und nach - von einigen jener Musiker, mit denen sie zusammen musiziert hat. Außerdem dient dieser Blogbeitrag dazu, Fotografien aus der ersten Lebensphase von Elly Ney zusammen zu stellen, Fotografien, auf denen sie jung ist, und auf denen man womöglich ihr unverstelltes Innenleben, ihre Persönlichkeit "leichter" wiederfindet als auf so vielen Altersaufnahmen, die einem doch von so mancher Verbitterung mit gezeichnet zu sein scheinen. Unberechtigter Verbitterung - wie wir meinen. Beides, die Vereichnisse wie die Fotografien, sollen nach und nach noch ergänzt werden, ebenso natürlich die Textpassagen. ("Work in progress" also, wie es auf Neudeutsch heißt.)

Die Wanderer-Fantasie von Schubert, die Elly Ney 1966 aufnahm, entstand 1822 kurz nachdem Schubert seine Sinfonie "Die Unvollendete" abgebrochen hatte (Wiki engl). Franz Liszt war sehr fasziniert von der klanglichen Vielfalt der Wanderer-Fantasie, führte sie selbst häufig auf, bearbeitete sie mehrfach, unter anderem für Klavier und Orchester, fügte auch eigene Variationen hinzu. Technisch ist es das anspruchsvollste Werk Schuberts. Er selbst soll einbekannt haben, es nicht spielen zu können mit den Worten: "Der Teufel soll dieses Zeug spielen!" (Wiki)

Aus neu bekannt gewordenen Briefen von Elly Ney

Am 20. November 1938 schreibt Elley Ney aus dem Hotel "Fürstenhof" am Potsdamer Platz in Berlin an Signe Fiedler, die Ehefrau des damals 79-jährigen Dirigenten Max Fiedler (1859-1939) (Wiki) (Ebay 02/2019):
Liebe verehrte Frau Signe!
In größter Bedrängnis und Not schreibe ich Ihnen. Ich soll am 25.11. im Stockholmer Sender spielen B dur Konzert von Brahms. Als Dirigent war Karajan vorgesehen, der aber heute schreibt, daß er abgesagt hätte. Könnte ich denn dann nicht mit Ihrem Mann spielen? Hoffentlich ist es nicht zu spät. (...) Ich komme allein und bin ein wenig unruhig, weil ich fürchte, in dem Orchester sitzen unfreundlich gesinnte Leute und möchte gerne nicht allein hingehen. (...) - Am 26. spiele ich in Kopenhagen im Radio. (...) Ich spiele am 22. in Bremen und bin dort (...) telegrafisch erreichbar.
Mit den herzlichsten Grüßen!
Ihre sich freuende Elly Ney
Auf Wikipedia ist verzeichnet, daß Max Fiedler nach einer internationalen Laufbahn in seinen letzten Lebensjahren vor allem in Berlin und Stockholm als Gastdirigent tätig war. Womöglich ist das Konzert zustande gekommen. Im Jahr 1939 nahm Elly Ney dasselbe Konzert mit den Berliner Philharmonikern unter Max Fiedler auf. Genau ein Jahr später, am 1. Dezember 1939, ist er auch in Stockholm mit 80 Jahren gestorben. Als weiterer Brief findet sich der folgende (Ebay 2018/19):
Unterwegs, Okt. 1942
Verehrter, lieber Herr Reichelt!
Die Herzlichkeit Ihres gütigen Gedenkens hat mich aufs tiefste bewegt und beglückt. Nehmen Sie bitte meinen, durch eine Auslandsreise leider sehr verspäteten, deswegen aber nicht minder herzlichen und aufrichtigen Dank entgegen. ihre wundervollen Worte verpflichten mich aufs neue tief, alle Kräfte einzusetzen in den Dienst der Volksbetreuung durch unsere herrliche deutsche Musik.
Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihre
Elly Ney.
Im Mai 1943 schrieb ihr eine 22-jährige Verehrerin in Leipzig einen außerordentlich überschwenglichen Brief, einen Brief wie Elly Ney solche wohl oft bekommen hat. In ihm hieß es unter anderem (Ebay 01/2019):
Ich bin ergriffen von Ihrer Hingabe an die Musik, wie Sie ihr dienen, das ist bewundernswürdig, solchem Künstlertum kann man nur mit tiefer Ehrfurcht nähertreten. (...) Solange es noch solche Menschen gibt wie Sie, so lange kann ich nie ganz unglücklich sein. So viel hat mein Herz Ihnen zu sagen (...), Sie Hohepriesterin der Musik! usw.
Elly Ney antwortete mit einer Postkarte (Ebay 01/2019):
Unterwegs, Mai 1943.
Liebes Fräulein Raatz-Sanio!
Herzlich danke ich Ihnen für Ihre lieben Zeilen.
Möchte die Musik unseres großen Beethoven allmählich so in Sie hineindringen, daß Sie Spieler und Instrument vergessen und nur erfüllt sind von den Klängen dieses großen Meisters. Ich selbst bin ja nur Werkzeug und habe nur den Wunsch, daß die Musik unserer großen Meister als Kraft- und Trostquelle von den Menschen aufgenommen wird und eine Bereicherung ihres Lebens bildet.
Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihre Elly Ney
Sie antwortet also ganz natürlich und versucht auch, die Verehrerin wieder ein wenig herunter auf den Boden der Tatsachen zu bringen.

Elly Ney - Verzeichnis verfügbarer Aufnahmen ("Discographie")


(Discography)

(Rot jene Aufnahmen, die den Verfasser dieses Beitrages in letzter Zeit am meisten angesprochen haben.)

Frühe Aufnahmen  (1906 bis 1930)

1930er Jahre

1940er Jahre

1955 bis 1960

1961

1962

1964

1965

  • Ney, Elly: Beethoven Albumblatt für Elise WoO 59 a-moll (1810), Beethoven-Haus Bonn 1965
  • Elly Ney: Beethovens Sechs Variationen für Klavier auf das Duett "Nel cor piu non mi sento" ("Mich fliehen alle Freuden") aus der Oper "La molinara" ("Die schöne Müllerin") von Giovanni Paisiello (1795), Beethoven-Haus Bonn 1965.
  • Ney, Elly: Beethovens letzte Klaviersonate Nr. 32 c-moll, op. 111 (1821/22), Beethoven-Haus Bonn 1965.
  • Ney, Elly: Beethovens Klaviersonate Nr. 12 in As-Dur, op. 26 (1800/01). Ein Film von Alfred Braun (historisches Archivmaterial), 1965; enthalten auf der CD-Box Mondscheinsonate - Die Volkspianistin Elly Ney, Arthaus Musik GmbH 2017, http://arthaus-musik.com/de/dvd/sondereditionen/media/details/Mondscheinsonate.html

1967 und 1968

ohne Jahr bislang

Der Jahrzehnte lange Trio-Partner von Elly Ney war Ludwig Hoelscher. Auch ein so ernstes, gehaltvolles Musizieren wie das seine scheint uns ein wertvoller, gehaltvoller Weg zu so manchem bedeutenden Werk unserer Musiküberlieferung zu sein.

Ludwig Hoelscher

Das eben Gesagte scheint uns auch für die Brüder Busch zu gelten, die man auf frühen Fotografien von Elly Ney finden kann, die also eine Rolle in ihrem Leben und Musizieren gespielt haben werden. (Welche, ist noch herauszusuchen.)

Busch-Quartett

(Wiki)

1914 gründete Elly Ney zusammen mit dem Cellisten Fritz Reitz (1885-1969) ihr erstes Trio (Dt. Biog.). 1918 wurde ihre Tochter Eleonore Baldauf van Hoogstraaten geboren. Diese wurde später Schauspielerin. Ihr biologischer Vater ist - so wurde vermutungsweise wir in früheren Blogbeiträgen ausgesprochen - Fritz Reitz gewesen (was aber diese Tochter selbst erst nach dem Tod ihrer Mutter durch Studium in deren Unterlagen heraus bekam).

Abb.: Elly Ney und der Geiger ...?., 1917

Der Bratschist Karl Reitz (1887-1943)(Wiki) spielte 1919 bis 1921 im Busch-Quartett (Wiki) mit, das von jenem Geiger Adolf Busch (1891-1952) (Wiki) schon vor dem Ersten Weltkrieg gegründet worden war, der auch 1917 zusammen mit Elly Ney fotografiert worden ist.

  
Abb.: Elly Ney und der Geiger Adolf Busch (1891-1952), 1917
Über das Busch-Quartett ist zu erfahren (6):
Das Busch-Quartett galt in den Zwanziger und Dreißiger Jahren als das führende Streichquartett-Ensemble. (...) Das Busch-Quartett war immer bestrebt, die Vorherrschaft der Ersten Violine dem Gesamtklang unterzuordnen – in der damaligen Zeit ein ungewöhnlich moderner Anspruch. (...) Zwar spielte Adolf Busch, der Primarius und Namensgeber des Quartetts, formal "die erste Geige", aber die traditionelle Musizierhaltung, wonach alle anderen Stimmen sich der vermeintlichen Hauptstimme unterzuordnen haben und nur Begleitfunktion besitzen, diese strikte Hierarchie war aufgehoben. Nicht die "schöne" Melodie steht im Vordergrund; das Busch-Quartett wollte vielmehr das dichte Klang-Gewebe von vier eigenständigen Stimmen hörbar werden lassen, um damit die Schönheit der musikalischen Struktur zu erhellen.
Adolf Busch wurde später der Lehrer von niemand geringerem als Yehudin Menuhin. Adolf Busch war - was ihn sehr sypmathisch erscheinen läßt - ein erklärter Gegner der Nationalsozialisten. Auf den Versuch, ihn für Deutschland zurück zu gewinnen, antwortete er, daß er "mit Freuden an dem Tag zurückkehren" werde, da "Hitler, Goebbels und Göring öffentlich gehängt" würden (Wiki). Immerhin ein klarer, unzweideutiger Standpunkt. Mit solchen Leuten hat Elly Ney also bis 1933 auch musiziert. Das darf doch einmal festgehalten werden. Es muß dem Gehalt des Musizierens keinen Abbruch tun, wenn man sich 1933 für unterschiedliche politische Einstellungen entschied. So möchten wir meinen.

Abb.: Elly Ney, 1922 (Wiki)

Im folgenden weitere, gelungene, schöne fotografische Aufnahmen von Elly Ney.

Abb.: Elly Ney
Elly Ney mit Blumen.

Abb.: Auf der Überfahrt nach den USA, 1922 (?) - ... , Gieseking (?), Elly Ney, Willem van Hoogstraaten

Elly Ney in Gesellschaft von Musikern.

Abb.: Beethovenfestival Bonn, 1927 - Links von Elly Ney der Dirigent Fritz Busch, außerdem Karl Erb und andere

Auf dem Beethovenfestival in Bonn 1927 arbeitete Elly Ney mit dem Dirigenten Fritz Busch (1890-1951)(Wiki) zusammen, so entnehmen wir einer Fotografie. Es handelte sich um den Bruder von Adolf Busch. Auch Fritz Busch ließ sich 1933 von den Nationalsozialisten nicht zu einer Zusammenarbeit zwingen. Männerstolz vor Königsthronen. Schon die Tatsache, daß die Nationalsozialisten Druck auf Künstler ausübten, zeigt doch im Grunde, wes Geistes Kind sie waren, wie kleingeistig sie waren.


Abb.: Elly Ney, 1949

Ende 1948 versendete Elly Ney eine Grußkarte in die USA mit ihrer Fotografie (die im Internet zum Verkauf angeboten wird):
"To my dear friend Alice Caldwell with heartiest greetings and best wishes for 1949. Thankful, Elly Ney."


Abb.: Elly Ney mit Albert Schweitzer

Der Weltanschauung Albert Schweitzers fühlte sich Elly Ney verbunden.

Künftig soll es hier in diesem Beitrag, bzw. hier auf dem Blog auch um eine Hinführung zu den bedeutendsten Werken der Kammermusik (7), bzw. zu Kammermusik-Ensembles gehen, die uns einen besonders beseelten Weg zu den großen Werken unserer großen musikalischen Überlieferung zeigen, eröffnen wollen und können. Wer uns noch Hinweise dazu geben will, ist herzlich eingeladen, das zu tun. Denn dieser Blog wird von einem musikalischen Laien betrieben.

Siehe übrigens auch (8).
/Letzte Ergänzung:
10.2.2019/

*) Mehr als bezeichnend ist, mit was für einem respektlosen - nein haßerfüllten - Tonfall noch 2003 (!) im Deutschlandfunk auf diese Neuerscheinung hingewiesen werden konnte (3). Was für ein Haß auf Seele, auf Musik, auf das Musikalische an sich spricht sich hie aus.
_____________________________________________
  1. Elly Ney - Gesamtausgabe aller späten Aufnahmen. Box-Set mit 12 CD's. Colosseum Classics 2003, 2009, https://colosseum.de/js_albums/elly-ney-box/, https://www.amazon.de/Elly-Ney-Gesamtausgabe-sp%C3%A4ten-Aufnahmen/dp/B00008WG3I.
  2. Elly Ney Gesamtausgabe, Colosseum  CD 1, 2003, https://colosseum.de/js_albums/ney-elly-cd-1-beethoven/.
  3. Colosseum Musikstudio Nürnberg, Bayernstraße 100, stellt sich vor. http://www.original-heuss.de/de/privat/Download/ColosseumTonstudio1.pdf
  4. Elly Ney - CD 2 - Der Graf Flügel im Beethoven-Haus in Bonn, https://colosseum.de/js_albums/ney-elly-cd-2-graf-fluegel/, CD 3, https://colosseum.de/js_albums/elly-ney-cd-3/, CD 4, CD 5, CD 6CD 7, CD 8, CD 9, CD 10.
  5. Ely, Norbert: „Elly Ney – Gesamtausgabe aller späten Aufnahmen“. Deutschlandfunk 27.7.2003, https://www.deutschlandfunk.de/elly-ney-gesamtausgabe-aller-spaeten-aufnahmen.727.de.html?dram:article_id=100931.
  6. Das Busch-Quartett in Aufnahmen aus den 1930er Jahren. Sendemanuskript für den Deutschlandfunk, Deutschlandfunk, Köln (Sendung: 10.6.1990 – "Historische Aufnahmen"). http://www.koelnklavier.de/texte/interpreten/busch-quartett.html.
  7. Die fünf besten Streichquartette aller Zeiten. Posted on 9. Juni 2013  by  sal, http://de.brilliantclassics.com/2013/06/die-funf-besten-streichquartette-aller-zeiten/ (die Auswahl dieser Internetseite scheint bei genauerem Hinsehen recht willkürlich, sie kann nicht wirklich empfohlen werden).
  8. Die fünf besten Sinfonien aller Zeiten. Posted on 25. April 2013  by  sal, http://de.brilliantclassics.com/2013/04/die-funf-besten-sinfonien-aller-zeiten/.

Donnerstag, 10. Januar 2019

Werner Heisenberg - Seine erste große unerfüllte Liebe

"Ich muß viel Glück haben, wenn aus meinem Leben noch etwas werden soll" (Februar 1936)

Der Atomphysiker Werner Heisenberg (1901-1976) (Wiki) war ein sehr nach innen gekehrter Mensch, der in Mitteilungen über sein Innenleben und Gefühlsleben Zeit seines Lebens sehr zurückhaltend, man möchte sagen: fast schamhaft war. Dieser Umstand macht vielleicht das Besondere an dem Menschen Werner Heisenberg aus. Wenn man aber genau liest und hinter her horcht, wie er sich äußert, wird man doch manche sehr deutliche Hinweise auf dieses Innenleben finden. So etwa in seinen 2003 veröffentlichten Briefen an seine Eltern (1). In ihnen fallen Sätze wie der folgende vom 28. Februar 1936 (1, S. 248):
Ich muß viel Glück haben, wenn aus meinem Leben noch etwas werden soll.
Was für ein Satz! Dieser Satz wurde nicht nur niedergeschrieben von einem Professor für Physik an der Universität Leipzig, nein, er ist nieder geschrieben worden vier Jahre nachdem ihm vor aller Welt der Physik-Nobelpreis des Jahres 1932 verliehen worden war!

Abb. 1: Professor Werner Heisenberg und sein Assistent Carl Friedrich von Weizsäcker in Leipzig 1934

Allein dieser kurze Satz zeigt, daß für Werner Heisenberg selbst ein Nobelpreis kein Zeichen dafür war, daß aus ein Menschenleben - insgesamt und in letzter Instanz - als ein gelungenes angesehen werde kann oder nicht. Darüber entschied für ihn offensichtlich erst der letzte Tag des Lebens dieses Menschen. Bis dahin konnte alles noch auf des Messers Schneide stehen. Und es entschied sich das für ihn offenbar auch innerhalb von Bereichen, an die diesbezüglich nicht jeder Mensch als erstes denken wird.

Wie sich das menschliche Leben insgesamt entscheidet, scheint für ihn nämlich nur wenig mit seiner wissenschaftlichen Entwicklung zu tun gehabt zu haben, etwa mit seinen wissenschaftlichen Erfolgen. Der eigentlich Wert eines Menschenlebens, der durch äußere Ehrungen wie einen Nobelpreis gar nicht berührt zu werden braucht, scheint sich für ihn in anderen Bereichen zu entscheiden.

Es kommt nicht auf äußere Erfolge im Menschenleben an. Ein Menschenleben kann scheitern. Es kann scheitern, auch wenn ihm viele äußere Erfolge beschieden gewesen sind. Daß Werner Heisenberg Lebenentscheidungen so gewichtet hat, das mag ihn als einen besonderen Menschen kennzeichnen.
Ich muß viel Glück haben, wenn aus meinem Leben noch etwas werden soll.
Es ist dieser Satz gewiß keine eitle Selbstbespiegelung oder Phrase. Dafür wäre sich Heisenberg zu schade gewesen. Dieser Satz wurde vielmehr geschrieben als es sich abzeichnete, daß seine langjährige Liebe zur Schwester seines engsten lebenslangen Freundes, zur Schwester von Carl-Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) (Wiki), nämlich zu Adelheid von Weizsäcker (1916–2004) nicht Erfüllung finden würde.*) Und zwar - wenn man es recht versteht - aufgrund der Entscheidung dieser Adelheid von Weizsäcker selbst, nicht aufgrund äußerer, hinderlicher Umstände. Zwar sollten in den nachfolgenden Monaten des Jahres 1936 kurzzeitig noch einmal Hoffnungen aufflackern. Aber am Ende des Jahres klingt aus den Briefen von Heisenberg noch größere Enttäuschung heraus als sie schon Anfang des Jahres heraus geklungen hatte. Der Satz vor dem zitierten Satz vom 28. Februar 1936 lautete (1, S. 248):
Ich weiß, daß sich in diesem Sommer nun alles entscheiden muß und ich habe etwas Angst davor.
Es ist klar: Er wußte nicht, wie er selbst damit umgehen würde, ob er es schaffen würde, diese Enttäuschung zu verkraften, ob er es schaffen würde, an ihr menschlich zu wachsen oder ob diese Entscheidung menschlich ihm zu viel abverlangen würde. Diese Liebe bedeutete ihm - fast - alles. Schon der erste Satz dieses Briefes hatte es deutlich gemacht (1, S. 248):
Liebe Mama! Dieser Brief wird ein sehr ernster Brief!
und auch der Satz nach den beiden schon zitierten Sätzen bekräftigt diesen Eindruck (1, S. 248):
Wenn Du in Gedanken in den nächsten Monaten bei mir bist, ohne zuviel äußerlich nach mir zu fragen, so wird mir das viel helfen.
Heisenberg wußte, daß er durch einen Sturm gehen würde, einen Sturm, der ihn im Innersten erschüttern würde. Und er wappnete sich, er suchte Rückversicherung bei seiner Mutter, aber sicherlich noch mehr in sich selbst. Er suchte sich zu fassen, um den von ihm erwarteten Sturm zu durchstehen. Adelheid von Weizsäcker war 1936 gerade erst 20 Jahre alt geworden. Bis November 1936 nun scheint sich für Heisenberg das Verhältnis zu Adelheid geklärt zu haben, wenn er es auch nicht deutlich ausspricht. Am 3. November schreibt er an seine Mutter, die ihn an seinen Geburtstag, seinen 35. Geburtstag am 5. Dezember erinnert hatte (1, S. 253):
Es ist mir nicht sehr nach feiern zu Mut und ich bin froh, wenn ich mich in der nächsten Zeit tief in meine Arbeit vergraben kann. Ich empfinde sehr stark die Wohltat, in diesem einen Bereich ganz von der übrigen Welt abgeschlossen sein zu dürfen und beneide niemand, der gezwungen ist, sich immer mit dem Spiel der Welt draußen abzugeben.
Und eine Woche später (1, S. 253):
Auch ist mir das einsame Leben nur durch die Arbeit an der Wissenschaft erträglich, aber auf die Dauer wäre es sehr schlimm, wenn ich ohne einen ganz jungen Menschen neben mir auskommen müßte. Wie sich hier mein Leben weiter gestalten wird, weiß ich natürlich nicht. Die Verbindung zur Familie Weizsäcker wird wohl ganz abgebrochen werden und dadurch wird alles völlig anders als bisher. (...) Einstweilen will ich mich der Arbeit widmen, um derentwillen ich auf die Welt gekommen zu sein scheine; und die Erinnerung an die wesentlichen Dinge soll diese Arbeit nur wie eine ferne Musik begleiten.
Es ist erahnbar, wie viel Beben diesen Worten vorausging und von wieviel Beben sie begleitet sind. In seinen Lebenserinnerungen "Der Teil und das Ganze - Gespräche im Umkreis der Atomphysik" wird Heisenberg später ja sehr genau beschreiben und kennzeichnen, wie er diesen - womöglich - tiefsten Punkt seines persönlichen Lebens erlebt hat. Daß es dabei aber um die unerfüllte Liebe zu einem Mädchen gegangen war, deutet er dort mit keinem Wort an. Das wird erst in diesen Briefen an die Eltern deutlich.

Abb. 2: Werner Heisenberg und Ehefrau Margarethe, geborene Schumacher, etwa 1946

Um alles noch etwas genauer zu verstehen und einordnen zu können, muß man acht Jahre im Leben von Werner Heisenberg zurück gehen. So lange nämlich schon war sein Leben erfüllt von einer unerfüllten Liebe zu Adelheid, nämlich seit 1928. 1928 war Heisenberg 27 Jahre alt und Adelheid war erst 12 Jahre alt. .....

Die einzelnen Stationen im Verhältnis von Heisenberg zu Adelheid und insbesondere zu ihrer ganzen Familie müssen künftig an dieser Stelle noch nachgetragen werden. Die Mutter von Adelheid, Marianne von Weizsäcker, die Heisenberg anfangs sehr freundlich in ihrem Haus in Berlin aufgenommen hatte, hat sich später, um so mehr erkennbar wurde, welche inneren Bande Heisenberg an die Familie knüpften, gegen diese Liebe gewandt. Adelheid selbst blieb diesbezüglich aber bis 1936 indifferent, so daß sich Heisenberg immer noch Hoffnungen hatte machen können.

Am 10. September 1932 hat Werner Heisenberg etwa an seine Mutter geschrieben, daß er Adelheid während seines Berlin-Besuches aus der Ferne gesehen habe (zit. n. 10, S. 917):
"Nachher bin ich den ganzen Weg nochmal allein zurückgegangen, die Straßen leuchteten noch ein wenig, wo sie vorbei gekommen war. Aber hier ist jetzt alles grau."
Was sich in diesen wenigen Worten alles andeutet. Heisenbergs Mutter schrieb Anfang 1933 an Adelheids Mutter. Diese antwortete auch ausführlich. Sie beklagte sich, daß Heisenberg immer noch nicht (zit. n. 10, S. 944)
"mehr männliche Einstellung diesen Dingen gegenüber"
zeige, das heißt, ihre Sorgen mißverstand und
"in seiner eigenen Einstellung zu unserer damals noch nicht 16jährigen Tochter nicht selbst die Folgerung zog".
Deshalb hatte sie Heisenberg Hausverbot bei ihrer Familie ausgesprochen.

Die meisten Autoren und Heisenberg-Biographen, die auf diese erste, unerfüllte Liebe im Leben von Werner Heisenberg zu sprechen kommen (wenn sie das überhaupt tun) (z. B. 9, 10), erwähnen doese nur sehr leichthin im Vorübergehen. Sie scheinen sie gerne auch nur als etwas Kindlich-einfältig-Kindisches zu erachten. Sie nehmen die Worte von Heisenberg nicht wahr und ernst, nach dem diese unerfüllte Liebe ihm viel wichtiger war als der ganze Nobelpreis.

Solche Aussagen müssen einfach voll von jenen berücksichtigt werden, die sich anmaßen, das innere Leben von Werner Heisenberg in diesen Jahren voll zu verstehen, in den Jahren übrigens der Formierung der Quantenmechanik. Als würde ein menschlich ganz unreifer Mensch fähig sein, so grundlegende Dinge in der Wissenschaft erarbeiten zu können. Das wäre doch ein gar zu arger Widerspruch in sich.

Im Januar 1937 lernte Werner Heisenberg Margarethe Schumacher kennen. Er heiratete sie nur wenige Monate später. Adelheid von Weizsäcker heiratete ebenfalls nur ein Jahr später den ostpreußischen Rittergutsbesitzer und Reserveoffizier Botho-Ernst Dietlof Graf zu Eulenburg-Wicken (1903-1944). Mit ihm lebte sie auf Gut Wicken im Kreis Friedland in Ostpreußen. Ihr ebenfalls dort lebender Schwiegervater (Wiki) war Major im Ersten Weltkrieg gewesen, er war außerdem 1918/19 ein bekannter Freikorpsoffizier gewesen und war vor 1933 führer des Frontsoldatenbundes "Der Stahlhelm" in Ostpreußen gewesen, der einen Flügel hatte, der politisch zur DNVP hin gerichtet war und einen Flügel, der politisch zur liberaleren DVP gerichtet war. Adelheid hatte dann zwei Töchter. Die ältere der beiden Töchter wurde die nachmalige Schriftstellerin Heilwig Gräfin zu Eulenburg (10. September 1939-1975) (Wiki). Seit 1944 gilt Adelheids Ehemann in Weißrußland als vermißt. Sie selbst mußte mit ihren beiden Kindern und ihren Schwiegereltern 1945 aus Ostpreußen fliehen. Eine neue Heimat fand die Familie in Lindau am Bodensee.

Nachbemerkung, persönliche


Im Jahr 2003 hat der Autor dieser Zeilen die hier behandelten Briefe Werner Heisenbergs an seine Eltern (bzw. später nur noch an seine Mutter) (1) das erste mal in die Hände bekommen. Diese Briefe fielen damals bei ihm nur auf wenig fruchtbaren Boden. Er kann nicht sagen, daß er zu jener Zeit von diesen Briefen ähnlich ergriffen worden wäre wie er lange zuvor von der Lektüre der abgeklärten Lebenserinnerungen "Der Teil und das Ganze" ergriffen gewesen war. Nachdem er Heisenbergs Briefe an seine Eltern aber fünfzehn Jahre später noch einmal neu in die Hand genommen hat, ging ihm erst auf, wie sehr man doch von der ganzen Stimmung, die diese Briefe enthalten, in Bann gezogen wird, wie man in ihnen das innere und äußere Ringen Heisenbergs nachverfolgen kann, wie deutlich wird, was ihm wichtig war im Leben und was nicht.

Nimmt der Autor dieser Zeilen nun noch einmal seinen bislang nie veröffentlichten Aufsatz-Entwurf aus dem Dezember 2003 zu diesem Buch in die Hand - immerhin 18 Din-A-4-Seiten! -, dann findet er darin in keiner Weise, daß er in diesem Aufsatz-Entwurf der Stimmung, dem Wert dieser Briefe gerecht geworden war. Es ist also doch immer die Frage: Wo steht man eigentlich selbst, welchen Wert gibt man sich selbst, wenn man über einen Gehalt urteilt, dem man - womöglich - innerlich gar nicht gewachsen ist, bzw. den man innerlich gar nicht wahrnimmt.**)


/erneut überarbeitet:
14.3.2020/
____________________________________________

*) Zwei Fotografien von Adelheid aus dem Jahr 1929: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/69518834, https://ebookstr.e-bookshelf.de/products/reading-epub/product-id/26257/title/Vier%2BZeiten.html
**) Geradezu Seelenleere starrt mich aus diesem 18-seitigen 2003-Manuskript an. Der innere Geist in dem damaligen Manuskript stimmte nicht. Der ganze Geist des Manuskriptes ödet den Leser an. Es ist ohne alle Ergriffenheit geschrieben und kann deshalb auch keine wecken. Gibt es Schlimmeres?! In Konfrontation mit Lebensbildern bedeutender Menschen mögen solche Dinge besonders auffällig werden.
____________________________________________________
  1. Heisenberg, Werner; Hirsch-Heisenberg, Anna M.: Liebe Eltern! Briefe aus kritischer Zeit 1918 bis 1945. Langen/Müller, München 2003
  2. Kleint, Christian; Wiemers, Gerald (Hrsg.): Werner Heisenberg im Spiegel seiner Leipziger Schüler und Kollegen. Leipziger Universitätsverlag, 2006
  3. Heisenberg, Werner; Heisenberg, Elisabeth; Hirsch-Heisenberg, Anna M.: Meine liebe Li! Der Briefwechsel 1937 - 1946. Residenz, 2011 
  4. Lindner, Konrad: Jugendliches Genie - Carl Friedrich von Weizsäcker als Student in Leipzig. Dezember 2016, http://www.leipzig-lese.de/index.php?article_id=835
  5. Lindner, Konrad:  Heisenbergs jüdische Meisterschüler - zur Physik in der Weimarer Republik. http://www.leipzig-lese.de/index.php?article_id=679
  6. Werner Heisenberg und Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker - München 1966, https://av.tib.eu/media/14335
  7. Rekonstruktion der Quantentheorie und Theorie der Ur-Alternativen - Carl Friedrich von Weizsäcker diskutiert seine Thesen mit Manfred Eigen und Manfred R. Schroeder, 1988, https://av.tib.eu/media/11191
  8. Rechenberg, Helmut; Wiemers, Gerhard: Werner Heisenberg 1901-1976. Forscher, Lehrer und Organisator der Wissenschaft. Eine Ausstellung zum 100. Geburtstag, 2001, https://www.archiv.uni-leipzig.de/heisenberg/intro.htm
  9. Martin Ebner: Wen schert Heisenbergs Liebeskummer? Besprechung von "Werner Heisenberg. Liebe Eltern! Briefe aus kritischer Zeit 1918 bis 1945". Neue Züricher Zeitung, 21.9.2003, https://www.nzz.ch/article9065U-1.306192
  10. Rechenberg, Helmut: Werner Heisenberg - Die Sprache der Atome. Leben und Wirken - Eine wissenschaftliche Biographie. Band 1: Die "Fröhliche Wissenschaft" (Jugend bis Nobelpreis). Springer, Heidelberg 2010 (GB)