Samstag, 1. September 1990

Friedrich Hölderlin

Versuch zur Erfassung seines Werkes

Der tiefere Gehalt der Dichtungen Hölderlins ist im wesentlichen nur erlebbar und daher schwierig zu nennen. So blieb die Aussage seines Werkes zu allen Zeiten in gewisser Weise verborgen.

Trotzdem - aber den genannten Umständen durchaus nicht widersprechend  war er für mehr als hundert Jahre der wohl klarste Verkünder einer neuen, unserem Wesen gemäßen Lebens- und Gottschau.

Ursprünge und Wandlungen

Entsprechend den Zeitumständen und dem ursprünglichen Berufsziel erhielt Hölderlin seine Schulbildung in Klosterschulen und verbrachte die Zeit seines Theologiestudiums im Tübinger Stift. Sicherlich waren auch die hierbei gewonnenen Lebenserfahrungen mit verantwortlich dafür, dass er sich von den christlichen Glaubensvorstellungen löste. Aus Gewissensgründen trat er nach Abschluss des Theologiestudiums den evangelischen Pfarrdienst nicht an und musste sich als Hauslehrer und Hofmeister erhalten.

Im Drama "Empedokles" bricht sein Zorn gegen eine kirchliche Bevormundung religiösen Erlebens in folgenden Worten aus:

Denn wohl hab‘ ichs gefühlt, ...,
Daß ihr des Herzens freie Götterliebe
Bereden möchtet zu gemeinem Dienst,
Und daß ichs treiben sollte, so wie ihr.
Hinweg! ich kann vor mir den Mann nicht sehn,
Der Heiliges wie ein Gewerbe treibt;
Dein Angesicht ist falsch und kalt und tot,
Wie deine Götter sind.
In einem seiner tiefsten Gedichte "Brot und Wein", vor allem in der achten Strophe, sieht er nach dem leuchtenden "Tag" (d.h. der gotterfüllten Kultur des Griechentums) Christus die Nacht, (d. h. das Ende dieser Hoch-Zeit) verkünden und schwinden (1, S. 33):
Mit dieser Deutung löscht Hölderlin die Glorie des Christentums aus. Was seit zweitausend Jahren im Rahmen der Kirche als Religion, als einzige Gottoffenbarung gelehrt wird, ist ihm gottferne Dunkelheit.

Diese Ablehnung kirchlicher und christlicher Gläubigkeit hat ihren tieferen, zureichenden Grund darin, daß Hölderlin seit seiner frühen Jugend ein unmittelbares, mit allen Fasern erlebtes, inniges Verhältnis zum Göttlichen eigen ist:

"Im Arme der Götter" wuchs er auf, fühlte er sich geborgen. Wie seine Gedichte immer wieder sagen, spürt er das Göttliche in Land und Fluß, in Berg und Hain, in Luft und Himmel, aber ebenso im Innerseelischen, in Freundschaft, Güte und edler Tat. Viele Namen setzt er für das Göttliche, er nennt es Äther, Licht, Erde, Natur; er ruft die alten Götternamen der Griechen. Aber all dies ist für Hölderlin nur Ausdruck oder Name eines alles Sein umfassenden Göttlichen. Das Zeichen der Seelengemeinschaft mit den beiden Freunden im Tübinger Stift, Hegel und Schelling, war Ausdruck solchen Erlebens: "hen kai pan" (griech. = Eins und zugleich Alles).

Grundlegende philosophische Einsichten

Hölderlin hat anfänglich behutsam versucht, solche Lebens- und Gottschau auch in philosophischer (Prosa-)Sprache zu fassen und hat dabei wohl als erster die Grundeinsichten zum Ausdruck gebracht, die dann Grundlage des "Deutschen Idealismus" (vor allem im Sinne der philosophischen Werke Hegel und Schelling) geworden sind. Diese Gedanken Hölderlins können wie folgt umrissen werden (2, S. 391ff; vgl. auch die Zitate in 3):

In der Entwicklung des Menschengeschlechts tritt der Mensch (das menschliche Bewusstsein) aus der bewusstlosen (unterbewußten) Einheit mit dem Göttlichen heraus, erwacht zum Bewusstsein im Gegenüber, im Getrenntsein vom Göttlichen und kann im eigenen freien Wollen diesen Gegensatz wieder auflösen durch bewusste Vereinigung mit dem Göttlichen ("... dies ist allein in schöner, heiliger, göttlicher Empfindung möglich"). Diese Gedanken kehren in Hölderlins Werken in dichterischer Fassung, aber auch in seinen ästhetischen Schriften immer wieder und bilden den Ausgangspunkt weiterer tiefer Einsichten, z.B. über Ursprung und Wirkung der Dichtung.

Abb.: Erich Sperling - Trauernde
(aus: 4)

Sie sind zugleich auch Grundlage zentraler philosophischer Aussagen bei Hegel und Schelling geworden, gewinnen aber in der ausführlichen Wortfassung dieser Philosophen wenig an zusätzlicher Leuchtkraft (fast gehen sie in deren umfangreichen Werken "verloren"). Diese Gefahren philosophischer Umschreibungen von kaum sagbaren, nur dem Erlebnis zugänglichen Einsichten hat Hölderlin klar gespürt und daher bewusst den Weg einer Fassung des (Gott-) Erlebens in der Form des Gleichnisses im lyrischen Gedicht gewählt.

Leider sind dem heutigen Leser manche der verwandten Gleichnissen nicht mehr ganz vertraut. So verbirgt sich Hölderlins tiefe Einsicht in die Verwandtschaft von Anlage und Eigenart indogermanischen Gotterlebens in dem Gleichnis des Adlers (des Zeusboten), der vom Indus herkommend (indogermanische Gottauffassung der Veden) über den Parnassos (hellenische Gottauffassung) schließlich in das Herz Europas einkehrt (vgl. die Gedichte "Der Adler", "Germanien"). Ähnliche Gedanken enthält auch das Gedicht "Gesang des Deutschen" (vgl. 3, S. 2f), in dem der Genius der (indogermanischen) Kulturen ausgehend von Griechenland ("Attika") von Land zu Land wandelt und vielleicht bei uns seine Heimstatt findet.

Für den Verfasser ist es erschütternd zu sehen, wie Hölderlin um eine gültige Fassung seiner Gotteinsicht ringt und dann unter Selbstbescheidung wiederholt seine Hoffnung und sichere prophetische Erwartung ausdrückt, dass diese heilende und heiligende neue Gestaltung religiösen Erlebens bald gegeben, und dass dies wohl in Deutschland geschehen werde (vgl. "Brot und Wein", "Wie wenn am Feiertage ...", bzw. "Gesang des Deutschen", "Germanien", u.a.). So ruft er in der gleichnamigen Elegie Germanien, "die stillste Tochter des Gottes", ("alldienend gleich der schweigenden Mutter Erd", vgl. "Gesang des Deutschen", 3, S. 2f) auf, nach langem Schweigen endlich die ersehnte Weisheit zu geben:

Und nenne, was vor Augen dir ist,
Nicht länger darf Geheimnis mehr
Das Ungesprochene bleiben.
Nachdem es lange verhüllt ist;
Muß zwischen Tag und Nacht
Einstmals ein Wahres erscheinen.
Dreifach umschreibe du es,
Doch ungesprochen auch, wie es da ist,
Unschuldige, muß es bleiben.
O nenne, Tochter du der heiligen Erd!
Einmal die Mutter. Es rauschen die Wasser am Fels
Und Wetter im Wald, und bei dem Namen derselben
Tönt auf aus alter Zeit Vergangengöttliches wieder,
Wie anders ists! und rechthin glänzt und spricht
Zukünftiges auch erfreulich aus den Fernen.
Doch in der Mitte der Zeit
Lebt ruhig mit geweihter
Jungfräulicher Erde der Äther,
Und gerne, zur Erinnerung, sind
Die Unbedürftigen, sie
Gastfreundlich bei den Unbedürftgen
Bei deinen Feiertagen,
Germania, wo du Priesterin bist
Und wehrlos Rat gibst rings
Den Königen und den Völkern.

Wer (wie der Verfasser) diese Erwartung in der mehr als hundert Jahre nach Hölderlin gegebenen Gotterkenntnis (Mathilde Ludendorffs) erfüllt sieht oder sehen möchte, wird zugleich auch den Spiegel sehr ernst betrachten, mit dem Hölderlin im vorletzten Brief Bellarmins des Werkes Hyperion einige der weniger schönen Seiten deutschen Wesens wiedergibt.

So sollen diese Ausführungen mit dem hohen Anspruch Hölderlins schließen, den er an die Deutschen stellt (1, S. 42):

An der Fahne allein soll niemand unser Volk erkennen, es muß sich alles verjüngen, es muß von Grund aus anders sein ... Nichts, auch das kleinste, das alltäglichste nicht ohne den Geist und die Götter!

Wilhelm Schäfler

(entnommen aus: Die Deutsche Volkshochschule, 
Folge 69, September 1990, S. 21-24)

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  1. von Unruh, Friedrich Franz: Friedrich Hölderlin. Georg Truckenmüller Verlag, Stuttgart 1942
  2. Hunke, Sigrid: Europas andere Religion. Econ Verlag, Düsseldorf 1969
  3. Gedenken an Friedrich Hölderlin. Die Deutsche Volkshochschule, Folge 68 (1990) 1, http://fuerkultur.blogspot.de/1990/07/gedenken-friedrich-holderlin.html
  4. M.G. Davidson: Kunst in Deutschland 1933-1945. Bd. 1 Skulpturen, Grabert-Verlag, Tübingen 1988

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