Absteckung eines Argumentations-Rahmens
Die
vorliegende Abhandlung ist die Zusammenfassung eines Seminars, das
auf einer Akademie der bündischen Jugend gehalten wurde. Als eine
Zusammenfassung gibt sie nur eine einführende Auswahl von
Schrifttums-Nachweisen. Detaillierteres findet sich an anderer
Stelle (1).
In einem grundlegenderen Artikel der
Wochenzeitung „Junge Freiheit“ (2) wurde vor nunmehr zwei Jahren
von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus die Lebenssituation und -einstellung jener Generation recht flott erläutert, die derzeit
in die verantwortlichen Positionen von Staat, Gesellschaft und
Familie einrückt. „Auf ein ‚Höheres‘,“ so gipfeln
die Ausführungen hier, „heiße es Gott, Vaterland oder
zukünftige Gesellschaft, ... lassen sich die Leute nicht mehr ein.“
(3) Es gehe, so wird anschaulich erläutert, nur noch um Geld,
Geld und nochmals Geld und um die entsprechenden, damit verbundenen
Probleme im Wirtschaftsleben.
Die (ehemalige) Kultur-Redakteurin der genannten
Zeitung war es, die eine solch krude Bilanz zog, Angelika Willig,
promovierte Philosophin, Jahrgang 1963. Man könne, so erläutert sie
anhand leidvoller persönlicher Erfahrung, „trotz
Philosophiestudium“ nichts „Brauchbares zur politischen
Theorie der Rechten“ mehr zu Papier bringen. Deshalb sei es an
der Zeit, so die Autorin, auf den Boden der Wirklichkeit
zurückzukehren und den „Abschied von Rechts“ zu feiern.
Mit jenen Worten ist denn auch ihr Artikel betitelt.
Verständlicherweise riefen derartige Ansichten, geäußert gerade in dieser Zeitung, lebhafte Leserbrief-Reaktionen hervor. Doch schien kaum einem all derjenigen, die sich so engagiert an die Seite Angelika Willigs stellten oder ihr widersprachen, bewußt zu sein, wie präzise ihre Situationsbeschreibung ins Herz unserer Zeit traf und welch eine Bankrott-Erklärung durch eine solche Charakterisierung damit unter anderem auch jene philosophische Traditionslinie zu verzeichnen hat, die grob gesprochen mit dem Ausdruck „Konservativen Revolution“ gekennzeichnet wird. Auf der anderen Seite aber scheint niemandem der sich an dieser Diskussion Beteiligenden bewußt zu sein, wie wenig Berechtigung es für eine Bankrott-Erklärung der Philosophie gerade in unserer heutigen Zeit gibt.
Dieser Umstand soll in den folgenden Ausführungen erläutert werden - jedoch nur umrißhaft. Fast alle angesprochenen Themengebiete können nur angerissen werden, ohne daß sie ausführlicher erläutert sind. In den vorliegenden Ausführungen kommt es lediglich auf einen Gesamtüberblick, auf die Absteckung eines Argumentationsrahmens an: Findet eine Haltung wie diejenige, sich nicht mehr „auf ein ‚Höheres‘“ einzulassen, eine Entsprechung in dem reichen Wissensstand unserer Zeit?
Die Gesamtheit, Totale der menschlichen Erfahrungsmöglichkeit
Vor allem in den USA und Frankreich hat es in
den letzten Jahren Auseinandersetzungen im philosophischen Bereich
gegeben, die doch so manche Kratzer auch an dem Ansehen so einiger,
früher als „bedeutend“ erachteter, „postmoderner“ (oder auch
„existentialistischer“) oder auch politisch „links“
ausgerichteter Philosophen und ihnen folgender Literaten
zurückgelassen haben (3-5, vgl. auch: 6).
Diese Eröterungen nahmen ihren Ausgangspunkt
unter anderem von Gefühlen, von Gefühlen einer etwas tieferen
Erregtheit, einer etwas tieferen Unruhe, die nicht ganz unberechtigt
zu sein scheinen, wenn man sie in Sätzen wie dem folgenden
formuliert hört: „Während um uns herum eine überbevölkerte
Welt aus den Nähten platzt, blutige Kriege toben, fanatischer
Terrorismus sich breit macht, wachsende Arbeitslosigkeit und soziale
Gegensätze unerträglich werden, lebenswichtige Ressourcen
verschmutzen oder versiegen, behaupten nicht wenige Philosophen, daß
es diese uns so sehr bedrängende Wirklichkeit, recht besehen, gar
nicht gebe.“ (3) - Doch: Beginnen wir anders.
In der klassischen griechischen Antike ist
Philosophie einmal definiert worden als „logo di donai“,
das heißt, als „sich Rechenschaft geben über“, sich
Rechenschaft geben über die allgemeinsten Fragen unseres Seins,
unseres Lebens, unserer persönlichen, individuellen Situation und
der Situation der Menschheit insgesamt in diesem Weltall und auf
dieser Erde.
Von vielen Philosophen - besonders betont aber
von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) - ist die These
vertreten worden: Die Wahrheit ist das Ganze, kann nur das Ganze
sein. Wenn ich nur Teilbereiche all dessen betrachte, worüber ich
mir überhaupt Rechenschaft ablegen kann, gerate ich in die Gefahr
einseitiger Beurteilung, verzerrter Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Aus diesen beiden Gedanken kann die
Schlußfolgerung gezogen oder Forderung aufgestellt werden, daß die
Untersuchung der Herkunft, Qualität und Reichweite des menschlichen
Erkenntnisvermögens immer und jederzeit parallel gehen muß zu dem,
was von diesem Erkenntnisvermögen erkannt werden kann, was
Gegenstand dieses Erkenntnisvermögens sein soll, also parallel gehen
muß mit der Untersuchung der Gesamtheit, Totale der menschlichen
Erfahrungsmöglichkeit.
Verschiedene Arten menschlicher Erkenntnis
In der Regel werden zwei verschiedene Arten der
Erkenntnisgewinnung unterschieden, die Erkenntnisgewinnung in den
Naturwissenschaften und diejenige in den Geisteswissenschaften. In
den Naturwissenschaften steht vor allem die Logik, das Einordnen des
Forschungsgegenstandes in die menschlichen Denkformen Raum, Zeit und
Ursächlichkeit im Vordergrund des Forschens, der
Erkenntnisgewinnung. In den Geisteswissenschaften steht die Methode
des „Erlebens“, des „Nacherlebens“, des „Verstehens“ im
Vordergrund der Erkenntnisgewinnung. Diesen Unterschied hat vor allem
der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) ausführlich umsonnen,
um zu einer eigenständigen Begründung der Geisteswissenschaften als
Wissenschaften zu gelangen. Tatsächlich reicht ja für die
Erforschung der „Ursachen“ von Kunstwerken, politischen
Handlungen, von Dichtung und so weiter ein einfaches Einordnen des
jeweils erforschten Gegenstandes in Zeit und Raum (wie dies in den
Naturwissenschaften geschieht) keineswegs aus.
Erkenntnisgewinnung über die Methode des
Erlebens, des Nacherlebens enthält wesentlich mehr subjektive
Elemente, als dies für die Erkenntnisgewinnung im Bereich der
Naturwissenschaften gesagt werden kann. Als eine Folgerung aus dieser
Tatsache hat sich unter Geisteswissenschaftlern auch die Einsicht in
die Notwendigkeit von persönlichen Reifungsprozessen für eine
adäquate Art des Verstehens (des Nacherlebens) und der Beurteilung
von Geisteswerken (Kunstwerken und vieles andere) herausgestellt. Mit
dieser Einsicht wird Selbstbescheidung, der Wille zu
wissenschaftlicher und persönlich-subjektiver Redlichkeit, auch
methodischer Sauberkeit wesentlicher Bestandteil des „Ethos“
des Geisteswissenschaftlers.
Intuition
Der Erlebnischarakter der Erkenntnisgewinnung
im Bereich der Geisteswissenschaften wird auf die Spitze getrieben im
Bereich der Erkenntnisgewinnung durch Intuition, der plötzlichen und
spontanen intuitiven Erfassung von Zusammenhängen, nachdem sich der
Forscher lange Zeit intensiv mit einem bestimmten Gegenstand oder
Gegenständen der Erkenntnis beschäftigt hat.
Es ist allerdings eine mehr oder weniger
vorhandene Selbstverständlichkeit in den Wissenschaften, deren
Bedeutung sich die meisten Menschen nur selten wirklich ausreichend
klar machen, daß auch in den Naturwissenschaften dem intuitiven
Erfassen von Erkenntnis-Zusammenhängen eine sehr wesentliche
Bedeutung zuzusprechen ist. Auch in den Naturwissenschaften hat
„Erlebnishaftes“ und über das rein Logische Hinausgehendes
Anteil an den meisten Erkenntnisprozessen und an der Begeisterung der
Forscher für ihren Forschungsgegenstand (vgl. etwa: 7, S. 177).
Dieser Umstand ist ablesbar an der Erfahrung
der (natur)wissenschaftlichen Praxis und an vielerlei
Erlebnisberichten vor allem der genialeren, bedeutenderen
Naturwissenschaftler im 20. Jahrhundert. Viele, vielleicht sogar die
Mehrheit der heutigen Nobelpreisträger und Sachbuchautoren geben
hierüber Auskunft (zur Einführung sehr geeignet etwa: 8, 9).
Umgekehrt ist natürlich darauf hinzuweisen, daß in den
Geisteswissenschaften das streng logische Einordnen der Gegenstände
der Erkenntnis - wie etwa Kunstwerke - in Raum und Zeit natürlich
eine ebenso notwendige Voraussetzung für Erkenntnis ist. Auch wenn
dies hier im Forschungsalltag meist nicht so stark vorherrschend ist
wie in den Naturwissenschaften.
Das Kernargument der vorliegenden Ausführungen
Es folgt nun das Kernargument der vorliegenden
Ausführungen. 150 Jahre lang ist Naturwissenschaft als der strengste
„Beweis“ oder doch Hinweis auf das Nichtvorhandensein Gottes in
der Welt seitens der breiteren Öffentlichkeit und vieler
Naturwissenschaftler aufgefaßt worden. Genau diese Haltung bestimmt
auch - als kaum hinterfragte Selbstverständlichkeit - etwa die
Ausführungen Angelika Willigs (2). Naturwissenschaft wurde als
genauso lebenskalt und lebensfern angesehen wie die Technik. Nicht
zuletzt hat sich ja auch die Naturwissenschaft in sehr engem
Wechselspiel mit der Entwicklung der Technik emanzipiert.
Doch dieser bisherigen Einschätzung ist nun
das folgende entgegen zu halten: Gerade seit den letzten Jahrzehnten
des 20. Jahrhunderts vollzieht sich auf fast allen Gebieten der
Naturwissenschaften ein kumulativer Prozeß der Wissenserweiterung,
der schlußendlich gerade und ausgerechnet die besonders
„kalt-mathematisch“, „abstrakt-gefühllos“ denkenden Physiker
zu der Einsicht zurückbringt, daß es in der uns umgebenden und
naturwissenschaftlich erforschbaren Wirklichkeit Bereiche gibt, die
prinzipiell nicht vollständig in die menschlichen Denkformen von
Raum, Zeit und Ursächlichkeit einzuordnen sind, daß hier
prinzipielle Grenzen des naturwissenschaftlichen Denkens und
Forschens erreicht sind.
Hier hat eine Revolution im Bereich der
Naturwissenschaften stattgefunden, die das Selbstverständnis der
Geisteswissenschaften bisher nur in flüchtigstem Maße angehaucht,
doch kaum tiefergehender erfaßt hat. Zunächst hat dieser Umstand
viele Wissenschaftler und auch das „Laien-Publikum“ zutiefst
„geärgert“ und ärgert sie auch heute immer noch: daß da
plötzlich ganz fremdartige, dem Alltagsverstand so gänzlich
unzugängliche, „unanschauliche“ Bereiche der Wirklichkeit
vorhanden sein sollen, die sich einer vollständig raum-zeitlichen
Erfassung der uns umgebenden Wirklichkeit sperren.
„Gott würfelt nicht!“
Als ein berühmtes Beispiel kann etwa Albert
Einstein mit seiner heute längst als überholt erkannten Kritik an
den quantenphysikalischen Erkenntnissen Werner Heisenbergs angeführt
werden. Einstein sagte in einer frühen Reaktion auf diese: „Gott
würfelt nicht.“ Heute dagegen ist die Physik über solch
„einfache“ Schwierigkeiten beim Verständnis der Natur schon
längst hinweg gegangen! Den Stand des heutigen Forschens versuchte
der Physiker und Nobelpreisträger Stephen Hawking einmal - im
Anschluß an seinen Vorgänger Einstein - mit dem „Bonmont“
gerecht zu werden: „Manchmal wirft Gott die Würfel so, daß man
sie nicht einmal sehen kann!“
Zu diesen beiden Aussprüchen ist
sicherheitshalber zweierlei anzumerken: Erstens hat man auch schon
die - nicht vollständig vorausberechenbaren - Quantensprünge
Heisenbergs nicht im trivialen Sinne „sehen“ können. Zweitens
sind mit solchen Formulierungen - sowohl Einsteins wie Hawking’s - natürlich keinerlei Vorstellungen von einem persönlichen
Schöpfergott mehr verbunden (10, 8).
Dennoch erscheint es interessant, daß viele
Physiker in diesem Bereich immer wieder auf jenen naheliegenden
„Vorstellungsbereich“, der insgesamt mit dem Wort „Gott“
verbunden ist, zurückgreifen. Und sei es auch nur in halb
scherzhafter, halb ernsthafter, aber nie nur ironischer Weise.
Prinzipielle Schwierigkeiten für menschliches Erkennen in den Grenz- und Neugestaltungs-Bereichen von Raum, Zeit und Materie
Diese Zusammenhänge, die an dieser Stelle nur
kurz angedeutet werden können, sind vor allem deutlich geworden in
dem räumlich allerkleinsten erforschbaren Bereich (Mikrokosmos,
Atomtheorie, Quantenphysik) wie auch in dem räumlich allergrößten
erforschbaren Bereich (Makrokosmos, Universum, Relativitätstheorie).
Und ebenso in dem zeitlich entferntesten Bereich (nämlich dem
Urknall vor ungefähr 15 Milliarden Jahren, als das Weltall, der
Raum, die Zeit und alle Materie, die Naturkonstanten und Naturgesetze - aus dem Nichts - entstanden!).
In all diesen Forschungsbereichen ist deutlich
geworden, daß das naturwissenschaftliche Denken grundsätzlich an - vor allem genau und präzise zu definierende - Grenzen gestoßen ist
und daß das Weltall und alles Sein tatsächlich von
naturwissenschaftlich Nichterkennbarem überall und fundamental
durchdrungen ist. Wer an dieser Stelle sagt, das hätte man immer
schon wissen können, beachtet nicht, welche Folgen die Auswirkungen
des „Laplace’schen Dämons“ auf die gesamte
Kulturentwicklung der beiden letzten Jahrhunderte hatte.
Der französische Naturforscher Pierre Simon
Laplace (1749-1827) war der Meinung, alles Wirkliche würde
früher oder später auch von der menschlichen Logik durchdrungen
werden können. „Sire, der Hypothese ‚Gott‘,“ antwortete
er stolz und hochfahrend auf eine ausnahmsweise einmal bescheidenere
Anfrage Napoleons hin, „der Hypothese ‚Gott‘ bedürfen meine
Theorien nicht.“ Dieser kaltschnäuzigen Haltung ist
sicherlich ein Großteil der eindrucksvollen Erfolge der
Naturwissenschaften bis in unsere Zeit hinein zu verdanken. Heutige
Naturforscher und Sachbuchautoren weisen aber gern auf diese
überholten „Selbstverständlichkeiten“ aus dem 19. Jahrhundert
hin, um aufzuzeigen, welche Veränderungen sich gegenwärtig in
unserem Naturverständnis vollziehen.
Denn inzwischen hat sich auch schon für viele
Erkenntnisobjekte unseres „Alltagsverstandes“, also des
„Mesokosmos“, die derzeit vor allem von der sogenannten
„Chaosforschung“ und ähnlichen Richtungen untersucht werden, der
Laplace’sche Übermut als durchaus zu weit gehender Hochmut
erwiesen. So können zum Beispiel für den räumlichen und zeitlichen
Beginn eines so einfachen Kristallisationsprozesses wie den von
Wasser zu Eis Zeit und Ort nicht exakt und präzise vorhergesagt
werden - und zwar, was hier wichtig ist: prinzipiell nicht (Physik
von „Nicht-Gleichgewichtssystemen“) (1).
Philosophische Weiterentwicklungen seit Kant, die sich weitgehend nahtlos in das moderne naturwissenschaftliche Weltbild einfügen
Diese Erkenntnislage könnte reichste
Gelegenheit für die Geisteswissenschaften und die Philosophie
(einführend etwa: 11) bieten, ihre uralten Fragen anhand des neu
aufgeklärten Tatsachenmaterials völlig neu – und sozusagen
„gereift“, in einer zeitgemäßen Weise - und zudem vor allem:
konsensbildend zu überprüfen und zu klären.
Alle neuere Philosophie nimmt in der am
wenigsten umstrittenen Weise ihren Ausgangspunkt von Immanuel Kant
(1724-1804). Von der Grundlage des heutigen
naturwissenschaftlichen Weltbildes her können die
Erkenntnisfortschritte in der Philosophie seit Kant ungefähr wie
folgt erläutert werden.
Zunächst ist festzustellen, daß das Erkennen
der grundsätzlichen Grenzen des physikalischen Forschens als eine
klare Bestätigung der großen philosophischen Intuition Immanuel
Kants angesprochen werden kann, deren Leistung es ist, gerade diese
Grenzen der menschlichen Vernunft herausgearbeitet zu haben. Dies
leistete Kant noch ganz ohne unser heutiges Wissen um die
evolutionäre Herkunft unseres Erkenntnisvermögens und ohne unser
heutiges physikalisches Wissen. Hierbei handelt es sich aber um eine
Bestätigung, die gerade von vielen eingefleischten „Kantianern“
lange Zeit keineswegs so recht verstanden worden war - wohl im
Grunde, weil sie zu einfach und zu schlicht die Kantischen
Erkenntnisse bestätigte. Sie war also, dies bleibt festzuhalten,
nicht im mindesten vorausgesehen worden und ist auch von niemandem in
dieser Weise erwartet worden.
Es haben nun Philosophen wie Nicolai Hartmann
(1882-1950), Mathilde Ludendorff (1877-1966) und Konrad
Lorenz (1903-1989), sowie Verhaltensbiologen wie Irenäus
Eibl-Eibesfeldt (geb. 1928) die genannte grundlegende Wende in der
Entwicklung der Naturwissenschaft, die sich nach 1900 angebahnt und
nach 1945 allmählich zur vollen Blüte entfaltet hat, aufgenommen.
Sie haben die sich daraus ergebenden Erkenntnisverhältnisse zu dem
übrigen menschlichen Wissen und Erleben und den kulturellen
Erfahrungen in ein, wie deutlich werden könnte, hinreichend
adäquates Verhältnis gesetzt.
Heute gültige Zugänge zum „meta-physischen“ Bereich
Jene Welt, die jenseits der menschlichen,
naturwissenschaftlichen Vernunft liegt, ist von Immanuel Kant mit dem
Ausdruck „Ding an sich“ benannt worden. Dieser Bereich wird von
der Philosophie seit dem griechischen Philosophen Aristoteles auch
als der „metaphysische“ Bereich angesprochen. Immanuel Kant
siedelte in diesem Bereich die Lösungen über die Fragen nach „Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit“ an, die die Menschheit immer
schon umsonnen hat. Kant selbst hat den Zugang zu dieser
metaphysischen Welt (die er, wie angedeutet, klar von all dem
abgrenzte, was von der Vernunft erkennbar ist) vor allem im Bereich
des Moralischen gesucht. Dabei hat Kant unter anderem seinen
berühmten „kategorischen Imperativ“ entwickelt.
Der Philosoph Friedrich Schiller (1759-1805) hatte die Philosophie Immanuel Kants begeistert aufgenommen und
einige in ihr liegenden „Verrenkungen“ im Bereich der Moral,
besonders aber im Bereich der Ästhetik gerade gerückt und vom
Standpunkt des selbst schaffenden Künstlers aus nun gültiger
geklärt. Schiller, dessen Einfluß auf die deutsche und
abendländische Kulturentwicklung ja auch heute noch gar nicht
vollständig übersehbar ist (denn das Einflußreichste ist oftmals
das Verborgenste), hat vor allem das Schönheitserleben des Menschen
(die Ästhetik) als den wesentlichsten Zugang des Menschen zum
sogenannten „Ding an sich“, zum „metaphysichen“ Bereich
herausgestellt.
Der „hypothetische Realismus“ von
Nicolai Hartmann, Konrad Lorenz und Mathilde Ludendorff (7, 12, 13)
hat dann auch für den Bereich der Erkenntnis des „Wahren“
anerkannt, daß das „absolut Wahre“ über diese Welt gerade nicht
in den Grenzen der rein logisch-naturwissenschaftlich denkenden
Vernunft gefunden werden kann. Nach ihm können wir unsere Welt - letztlich - nur „hypothetisch“ als „real“, „wirklich“,
„wahr“ erkennen. Jedoch kann - entsprechend eines
weiterführenden Gedankenganges - dem hypothetischen Charakter
aller Wahrheits- und Wirklichkeitserkenntnis aufgrund aller
Begleitumstände eine sehr große Wahrscheinlichkeit zugesprochen
werden, tatsächlich „wahr“, „real“ und so weiter zu sein.
Neue Gesamtdeutung der alten platonischen Trias
Die Naturwissenschaft, unter anderem die
Soziobiologie, die Evolutionäre Anthropologie und Evolutionäre
Psychologie liefern gegenwärtig fortlaufend Neuerkenntnisse über
die evolutionären Ursprünge der drei soeben genannten menschlichen
Denk- und Erlebnisbereiche, die seit dem griechischen Philosophen
Platon mit den Worten „das Wahre, das Gute und das Schöne“
umschrieben werden (Erkenntnistheorie, Moral und Ästhetik).
Damit sind an dieser Stelle nur äußerst knapp
die philosophischen Fortschritte nach Immanuel Kant angerissen
worden. Sie werden verdeckt durch zahlreiche, heute gut aufzeigbare
fehlerhafte Grenzüberschreitungen der Kantischen Vernunftgrenzen
durch die philosophische Richtung des „Deutschen Idealismus, die in
erster Linie für die tiefe Zerklüftung zwischen Geistes- und
Naturwissenschaften seit mehr als 150 Jahren verantwortlich zu machen
sind (13, S. 26-33; 1). Mit den genannten Fortschritten jedoch
gelangt man gerade von der Naturwissenschaft her zurück zu einer
modern-gereiften, philosophisch überzeugenden, ja fast als
allgemein verbindlich anzusprechenden Gesamtdeutung dieser alten
(platonischen) Trias vom Wahren, Guten und Schönen als den
Urgrundprinzipien allen Seins und aller Wirklichkeit.
In diesem Zusammenhang werden dann auch die
aufzeigbaren Wechselbeziehungen, die Einheit zwischen den Bereichen
des Wahren, Guten und Schönen wichtig: Ein „schönes“ Kunstwerk,
das nicht im vollgültigen Sinne als „wahr“ bezeichnet werden
kann, wird allgemein als „Kitsch“ betrachtet. (Intuitiv erfaßte)
Schönheit gilt auch für viele Naturwissenschaftler inzwischen in
selbstverständlicherer Weise als „Wahrheitskriterium“ (14, S. 68ff). Ihnen ist etwa die „Schönheit“ einer
mathematischen Gleichung zugleich auch ein erster Hinweis darauf, ob
sie stimmen könnte oder nicht. Und weiterhin: Eine gute Handlung hat
auch ästhetische Aspekte. In dem Wort „edel“ schwingen
diese zum Beispiel mit. Hierüber hat sich wiederum der Philosoph
Friedrich Schiller ausführlich geäußert.
Die Philosophin Mathilde Ludendorff hat das
freiwillige Erleben des Wahren, Guten und Schönen - und das
Handeln aus diesem Erleben heraus - als den Sinn allen Lebens in
den Mittelpunkt der menschlichen Lebensgestaltung gestellt. Sie hat
es zudem (scheinbar in überraschendem Einklang mit dem
„Anthropischen Prinzip“ der modernen Kosmologie) als
Ursprung und Ziel der Weltentstehung gedeutet. Dieses Erleben hat sie
zusammen gefaßt mit dem Begriff „Gotterleben“ benannt.
Eine solche philosophische Deutung soll(te)
letztlich nur eine nüchterne, zusammenfassende, gültige Deutung all
dessen sein, was - sowieso - schon da ist, was sowieso schon - überall - geschieht oder was geschehen ist und von Menschen immer
schon so oder in ähnlicher Weise erlebt und als das Wesentliche des
Lebens herausgestellt worden ist.
Wie ordnet sich in diesen Argumentationsrahmen das Phänomen „Volk“ ein?
Es sind nun noch zwei Bemerkungen als Ergänzung
des Ausgeführten anzufügen:
Erstens: Inwieweit es bei den Menschen und Völkern
naturwissenschaftlich nachweisbare, genetisch verankerte, also
angeborene, unterschiedliche Haltungen, „Neigungen“ und
Herangehensweisen gegenüber „dem Göttlichen“ (dem
metaphysischen Bereich) gibt, die dann kulturell durchgestaltet
werden; inwieweit weiterhin Verantwortungs-Übernahme für das
genetische Überleben der einander (genetisch) ähnlichen
(verwandten) Menschen ein Weg zum moralisch „Guten“, zur
„Gottverantwortung“ werden kann - von der dann letztlich auch
der Philosoph Hans Jonas spricht („Prinzip Verantwortung“)
-, all dies ist für die vorliegende Argumentationskette von
besonderer Bedeutung, muß jedoch weiteren Beiträgen vorbehalten
bleiben.
Zweitens: Der in diesem Aufsatz erläuterte
Gedankengang kann abschließend noch einmal gut in Abgrenzung zu den
Grundanliegen des auf der Akademie ebenfalls abgehaltenen Seminars
„Kunst und anschauliches Denken“ erläutert werden. In dem
zuletzt genannten Seminar ist in redlichem Bemühen versucht worden,
Beurteilungskriterien für Kunst jenseits des „vernünftig-logischen
Denkens“ zu finden. Sie sind hier in einem sogenannten
„anschaulichen Denken“ gesucht worden. In dem Verlauf der
Ausführungen konnte den Teilnehmern klar werden, daß dieses
anschauliche Denken, bei dem vor allem (Ausdruck von) „Bewegung“
im Kunstwerk gesucht wird, sich vornehmlich durch die Einordnung des
Gesehenen in raum-zeitliche Begründungszusammenhänge (in denen ja
auch „Bewegung“ verläuft) vollzieht.
Prinzipielle Grenzen auch im Bereich der Kunst
Bei dem Diskurs dieses Themas wurde - zumindest im Seminar - eine prinzipielle Grenze hin zu
Beurteilungskriterien, die jenseits auch des „anschaulichen“
Denkens liegen könnten, nicht überschritten, bzw. nicht als
Ausgangspunkt der Bewertung vorausgesetzt. Ein metaphysischer Bereich
als Urgrund und Quelle allen Seins und aller Kunst wurde hier nicht
in Rechnung gestellt. - Fehlt ohne tiefer gehende physikalische
Kenntnisse heute dazu einfach der Mut?
Andererseits wurden aber dann auch die
biologischen Wurzeln des menschlichen Schönheitserlebens, die, wie
heute immer deutlicher wird, sehr viel auch mit dem Willlen zur
Fortpflanzung und überhaupt zum genetischen Überleben zu tun haben,
nicht in Rechnung gestellt.
Man kann zu der Ansicht gelangen, daß erst von
diesen beiden genannten Ausgangspunkten her Bewertungskriterien für
künstlerisches Schaffen erhältlich sind, die so in allgemeine
Argumentationszusammenhänge eingeordnet sind und dann nicht mehr so
willkürlich, isoliert und zusammenhanglos zu den übrigen Bereichen
menschlichen Wissens und menschlicher Erfahrung stehen, daß schon
allein von dieser Positionierung innerhalb des Gesamtbaues des
menschlichen Wissens her ihnen auch größere Allgemeingültigkeit
zugesprochen werden kann.
Die heutige Erkenntnislage sollte also zu einer
Neu- und Aufwertung solcher Kunstphilosophien wie etwa Friedrich
Schillers und Mathilde Ludendorffs führen, die die genannte Grenze
des raum-zeitlichen Denkens klar anerkannten aber nicht an ihr
inne hielten oder umkehrten, sondern sie deutlich herausgestellt als
Ausgangspunkt ihrer Kunstphilosophie (und dann natürlich auch
politischen Theorie!) wählten. So dichtete Friedrich Schiller zum
Beispiel den in diesem Zusammenhang scheinbar widersinnigen
(„paradoxen“) Satz (aus dem Gedicht „Worte des Wahns“):
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
ist dennoch das Schöne, das Wahre!
Ergebnis: Angelika Willig liegt falsch!
Aus dem in dem vorliegenden
Aufsatz erläuterten Argumentationsrahmen sollte deutlich werden
können, daß die eingangs ausgeführte pessimistische Sicht Angelika
Willigs (2) nur solange Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen
kann, solang ein großer Teil der Bevölkerung und der „aufgewachter“
Denkenden einen der wesentlichsten Erkenntnisbereiche unserer
modernen Zeit der Nichtbeachtung anheim fallen lassen.
Von jedem Zeitgenossen kann es
anhand der naturwissenschaftlichen Sachbücher einer
durchschnittlich bestückten Buchhandlung oder in Gesprächen mit
Physikern, bzw. Physikstudenten leicht überprüft werden: Wer sich
mit der modernen Physik redlich und mit einem recht
ernsthaft-persönlichen Anliegen auseinandersetzt, ist förmlich mehr
oder weniger dazu gezwungen, sich (endlich wieder) auf ein „Höheres“
einzulassen.
Um so früher und kenntnisreicher sich diese
Ansicht in unserem und in allen anderen Völkern der Welt durchsetzt,
um so zuverlässiger sollte dann auch wieder das Überleben der
Völker - unseres eigenen wie das vieler anderer - in weite
Zukunft hinein gesichert sein. Die Generation Angelika Willigs, zu
der sich auch der Autor zählt, sollte dabei als Vorbild vorangehen.
Erich Meinecke
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Leupold, Hermin: Naturwissenschaftlich-philosophische Aufsatzreihen in: Die Deutsche Volkshochschule 1989-1996
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