Sonntag, 23. Juni 2002

„Leben wie auf einem anderen Stern“

„Leben wie auf einem anderen Stern“


Das Präkambrium und die Begrenztheit der menschlichen Phantasie


Carl von Linné (1707-1778) (Wiki) war einer der Gründerväter der modernen Biologie. Er war Schwede und schrieb sein berühmtes Buch „System der Natur“ („Systema naturae“) im Jahr 1735. In ihm gab er eine weitgehend vollständige Beschreibung aller damals bekannten Organismen auf unserer Erde. In den Grundzügen geht auf dieses Werk auch heute noch die gesamte wissenschaftliche „Systematik“ in der Biologie zurück. Eine Vorstellung von der heutigen wissenschaftlichen Systematik vermitteln etwa Pflanzen- oder Tierbestimmungs-Bücher. In strenger hierarchischer Gliederung und mit dazugehörigen Abbildungen geben sie bis in die feinsten Einzelheiten hinein detailgetreue Beschreibungen der jeweiligen Organismenarten.

Linné nun hat in den ersten Auflagen seines Werkes neben dem Pflanzen- und Tierreich noch eine weitere Gruppe beschrieben. Diese nannte er die „Paradoxa“. Hier handelte es sich um „Phantasie-“ und „Fabelwesen“, um Organismen, von denen nicht sicher - oder von denen überhaupt nicht bekannt - war, ob es sie überhaupt gab.

Abb. 1: Anomalocaris - Foto: Photnart (Wiki)

In der menschlichen Vorstellungswelt treiben ja noch heute so manche dieser Wesen ihr spaßhaftes - oder „tierisch“ ernst genommenes - (Un-)Wesen. Man denke an den Yeti, an den Wolpertinger, an das geflügelte Dichterpferd "Pegasus" oder auch - in einem ferneren Zusammenhang - an grüne Männchen vom Mars oder an Ufos in Form von riesigen Heuschrecken. (So der geisteskranke Prophet Hesekiel in der Bibel.) Und noch so vieles andere wird dem Leser hierzu einfallen. Der bocksbeinige, geschwänzte Teufel und der Mensch mit Vogelschwingen, also der Engel, finden ihre Darstellungen an fast allen „Verehrungsplätzen“ des Göttlichen innerhalb der abendländischen Christenheit, also in den „Kirchen“.

Schon die steinzeitlichen Fels- und Höhlenmalereien bezeugen, daß der Mensch auf diesem Gebiet früh eine blühende Phantasie entfaltete: Tier-Mensch-Misch-Wesen und so vieles andere geben in über die Erde verbreiteten Märchen-, Sagen-, Götter- und Dämonenwelten vielfältige Hinweise. Aber ist es nicht verwunderlich, daß der Mensch eine so große Lust verspürt, sich Dinge, Lebewesen vorzustellen, die es gar nicht gibt? Oder die deshalb „geheimnisvoll“, „wunderreich“ wirken, weil man nicht „ganz sicher“ weiß, ob es sie wirklich nicht gibt - oder ... vielleicht etwa doch ...!? Geisteskranke - in Irrenanstalten und außerhalb - Zauberer, Priester und andere Okkultgläubige haben dieses menschliche Interesse oftmals noch besonders betont. Auch ließen sich zumindest in früheren Zeiten kleine und große Kinder besonders leicht durch solche unheimlichen Gestalten und Wesen erschrecken. Und mit „Schrecken“ kann man natürlich auch einschüchtern und ... als letzten Schritt: herrschen. Das mögen einem zum Beispiel heute noch die alpenländischen „Krampusse“ erfahrbar machen.

Aber nun zurück in die Wissenschaft. In der sechsten Auflage seines Buches, die im Jahr 1748 erschien, befreite sich Carl von Linné von seinen „Paradoxa“, von dem vorwissenschaftlichen Wust, von vorwissenschaftlichen Ursprüngen einer im weiteren Verlauf sich unendlich entfaltenden biologischen Wissenschaft. Er erklärte, solche „Phantasiewesen“ nicht mehr in sein Werk aufnehmen zu wollen.

200 Jahre später, im Jahr 1957 legte der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986) (Wiki) einen Versuch vor, an den aufgegebenen, vorwissenschaftlichen Ansätzen von Carl von Linné anzuknüpfen und sie weiterzuführen. Hierbei ergaben sich hier viele neue Ergebnisse und Einsichten. Eine Botanikerin, Mitarbeiterin beim Naturgeschichtlichen Museum London hält dazu fest (1):
„Wie Linnaeus vor 1748 beschrieb er“ (Borges) „die paradoxen Kreaturen in allen Details und malte Bilder mit beziehungsreichen Worten. Die Phantasiewesen von Borges geben dem Leser, obgleich sie ihre Namen mit denen des Linnaeus teilen, die Möglichkeit, die Vielfalt der menschlichen Vorstellungskraft zu erforschen. In seiner Einleitung schrieb Borges, daß ‚jeder, der durch die Seiten dieses Handbuches blättert, bald herausfinden wird, daß die Zoologie der Träume viel ärmer ist als die Zoologie des Schöpfers.‘ Auf den ersten Blick erscheint dies in sich selbst paradox; warum sollten wir uns nicht eine Welt von Wesen vorstellen können, die unbegrenzt ist darin, ‚unendliche Mannigfaltigkeiten von Monstern - Kombinationen von Fischen, Vögeln und Reptilien hervorzubringen, allein eingeschränkt durch unsere, sich bald einstellende Langeweile und unseren Ekel?‘
Daran knüpft die Botaniker an (1):
Sicherlich, unsere Phantasie kann sich eine Welt ausdenken, die fremder ist als jene, in der wir leben. Aber Borges lag völlig richtig - die Zoologie unserer Vorstellung ist viel ärmer als die der Wirklichkeit. Wer könnte sich eine Pflanze vorstellen, die unter Wasser blüht (Thalassia, ein Seegras), eine ganze Gruppe von Organismen, die nur auf den ‚Lippen‘ von Hummern lebt (vgl. Nature 378, 711-714; 1995) oder Anomalocaris und Hallucigenia, die offenbar unmöglichen präkambrischen Kreaturen des Burgess Schiefers?“
Mit der Erwähnung des Burgess-Schiefer's wird auf eine berühmt gewordene Fossilienlagerstätte verwiesen. Die Abbildungen 1 und 2 unseres Beitrages zeigen die zuletzt genannten präkambrischen Kreaturen. Mit Borges kommt die Forscherin zu dem Ergebnis (1):
„Die Evolution und die natürliche Selektion, die Kräfte, die die Vielfalt in der Natur gestalten, sind viel fähigere Antriebskräfte für neue Erfindungen als selbst die fruchtbarste menschliche Phantasie.“
Borges selbst und die angeführte Forscherin geben noch genauere, bis in die Philosophie hineinreichende Erläuterungen für ihre angeführten Einschätzungen. Es wird erahnbar, daß in diesen Ausführungen recht grundlegende philosophische Fragen angesprochen sein können. Solche Fragen standen auch an den Anfängen der Philosophie Mathilde Ludendorffs. Man vergleiche hierzu ihre Werke „Triumph des Unsterblichkeitwillens“ und „Wunder der Biologie“. Die angeführten Aussagen, die der Natur eine noch viel blühendere Phantasie zuschreiben, als selbst der blühendsten des Menschen, fügen sich in Deutungen dieser Philosophie vom Geschehen in der Natur und in der Evolution ein. Und die Forschungen machen auf den angesprochenen Gebieten in unserer Gegenwart auch ständig neue Fortschritte.

Abb. 2: Hallucigenia; Herkunft: Matteo De Stefano/MUSE (Wiki)

Das angeführte Zitat sprach von den „präkambrischen Kreaturen“. Das Präkambrium (Wiki) ist eine Epoche der Erdgeschichte, die älter ist als 545 Millionen Jahre. Sie war noch vor wenigen Jahrzehnten kaum bekannt. In ihr ist es zu einer ersten, sehr frühen Entfaltung einer uns merkwürdig fremden, vielzelligen Lebenswelt gekommen. Ihre Organismenwelt kann nur schwer mit jener nach der „Kambrischen Explosion“ in abstammungsmäßige Verbindung gebracht werden. An dieser Fragestellung arbeiten zur Zeit viele Forscher. Denn erst die „Kambrische Revolution“ (um und nach der Zeit vor 545 Millionen Jahren) brachte jene grundlegenden Körperbaupläne in der Natur hervor, auf die auch heute noch die Baupläne aller großen Gruppen der Organismenwelt (auch unseres eigenen) zurückgeführt werden können.

Über einige mit diesen Problemen zusammenhängende, derzeitigen Fragestellungen hat jüngst ein Schüler des deutschen Paläontologen O. H. Schindewolf, Adolf Seilacher aus Tübingen, berichtet. Am Ende seiner Schilderungen schreibt er (2):
„Der präkambrische Fossilbericht ist noch lange nicht ausgeschöpft. Wie sich der Verfasser kürzlich am Weißen Meer überzeugen konnte, kommen im dortigen Vendium jährlich neue und vorzüglich erhaltene Ediacara-Fossilien zutage. Darunter sind noch abenteuerlich gestaltete Vendobionten ...“ 
Zusammenfassend umreißt er die Bedeutung dieser Forschungen folgendermaßen (2):
„Die Erforschung der präkambrischen Welt gehört zweifellos zu den interessantesten Aufgaben der historischen Bio- und Geowissenschaften, denn hier ist  ‚Leben wie auf einem anderen Stern‘ mit Händen zu greifen. Man darf also weiter gespannt sein!“
Weitergehendes, neueres Schrifttum zum Erdzeitalter des Präkambriums und zu den unmittelbaren Vorläufern der „Kambrischen Revolution“ findet sich unter (3-8).

Erich Meinecke
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  1. Knapp, Sandra: Fact and fantasy. The zoology created by our imagination is far outstripped by that of reality. In: Nature, Vol. 415, 31. 1. 2002, S. 479, https://www.nature.com/articles/415479a [Zitat in eigenere Übersetzung, E. M.]
  2. Seilacher, Adolf: Leben im Präkambrium. In: Naturwissenschaftliche Rundschau, 53. Jahrgang, Heft 11, 2000, S. 553 – 558
  3. Kehse, Ute: Ur-Krabbe stellt „kambrische Explosion“ des Lebens in Frage. In Bild der Wissenschaft, Online-Newsticker, 23. 7. 2001 (Auf: www.wissenschaft.de)
  4. Fortey, Richard: The Cambrian Explosion Exploded? In: Science, Vol. 293, 20. 7. 2001, S. 438f
  5. Knoll, Andrew H.; Carroll, Sean B.: Early Animal Evolution: Emerging Views from Comparative Biology and Geology. In: Science, Vol. 284, 25. 6. 1999, S. 2129 – 2137
  6. Seilacher, Adolf; Bose, Pradip K.; Pflüger, Friedrich: Triploblastic Animals More Than 1 Billion Years Ago: Trace Fossil Evidence from India. In: Science, Vol. 282, 2. 10. 1998, S. 80ff
  7. Brasier, Marin: Animal Evolution: From deep time to late arrivals. In: Nature, Vol. 395, 8. 10. 1998, S. 547f
  8. Balavoine, Guillaume; Adoutte, Andre: One or Three Cambrian Radiations? In: Science, Vol. 280, 17. 4. 1998, S. 397f