Montag, 28. Juni 2021

"Hyperions Fahrt nach Kalaurea"

Ein wenig bekanntes Gemälde aus dem Jahr 1823

Dieser Beitrag möchte auf ein wenig bekanntes Gemälde aufmerksam machen, auf das Gemälde "Hyperions Fahrt nach Kalaurea", das im Jahr 1823 entstanden ist (Abb. 1).

Abb. 1: Rudolf Lohbauer - "Hyperions Fahrt nach Kalaurea" (1823)

Der Ernst, der von der sitzenden Figur ausgeht, zieht einen sofort in den Bann, selbst wenn man auf dieses nur flüchtig bei Bildersuche im Internet stößt. Liest man dann noch Stichworte wie "Hölderlin" und "Kalaurea", kann man es nicht an sich vorüber gehen lassen, ohne sich mit ihm genauer zu befassen.

Seine Herkunft? Zunächst findet es sich als Umschlagbild einer englischsprachigen Ausgabe des Romans "Hyperion" von Friedrich Hölderlin. Die genauere Recherche zeigt dann: Dieses Gemälde wurde über hundert Jahre im privaten Familienbesitz in Stuttgart weiter vererbt. Und es wurde erst 1957 der Fachwelt bekannt. 1996/97 wurde schließlich ein zweites mal innerhalb der Fachwelt an dieses Gemälde erinnert (1, 2). Auf welche Stelle des Romans "Hyperion" bezieht sich dieses Gemälde? Es bezieht sich auf die Worte:

"Mein fröhlicher Schiffer hätte gerne mit mir gesprochen. Aber ich war sehr einsilbig."

In diesem Gemälde drückt sich der Ernst eines ganzen Jahrhunderts aus.

Der Brief, den der Künstler dieses Gemäldes im Juni 1823, kurz vor Anfertigung desselben an seinen "Herzensbruder", den Dichter Eduard Mörike schrieb (1), macht erst darauf aufmerksam wie "real" damals, im Jahr 1823 noch die Möglichkeit war, nach Griechenland zu gehen, um sich dort mit offenen Armen in den Freiheitskampf zu werfen, und um alles Nachdenken und alles Trauern und alles tiefe Leid und alle heftige Niedergeschlagenheit vergessen zu können rund um die Schmach, Erniedrigung und Entblößung des eigenen Vaterlandes in den damaligen Zeitläufen. Davon unter anderem handelt der Roman "Hyperion". Und der Brief macht erst darauf aufmerksam, wie real damals viele von den Inhalten des Hölderlin-Romanes waren, die uns - von heute aus gesehen - nur noch "romanhaft" erscheinen.

Im September 1823 wurde dieses Gemälde auf einer Ausstellung in Stuttgart der Öffentlichkeit gezeigt. Es fand wohlwollende Beachtung (1).

Was für ein erregender Einfluß von diesem Gemälde ausgeht. Tatsächlich möchte man recht bald zu dem Urteil kommen, daß es sich bei diesem Gemälde um eine der nur sehr seltenen Illustrationen zu dem Werk "Hyperion" von Friedrich Hölderlin handelt, von denen gesagt werden könnte, daß sie Aspekte des Gehaltes dieses Werkes so zum Ausdruck bringen, daß sie dabei in nicht gar zu krassem Mißverhältnis zum Roman selbst stehen. Und daß sie diesen dadurch womöglich sonderbar konterkarieren. Lasse diesbezüglich gerne jeder selbst dieses Gemälde auf sich wirken. Und natürlich den zugehörigen Roman.

Welcher junge Mann war das aber, der seine wilde, stolze, stürmische, zugleich heftig niedergeschlagene Trauer über die Zeitenläufe, über die Lieblosigkeit, den Sarkasmus, die Abartigkeit seiner Lebensumstände in diesem Gemälde zusammenfaßte? 

Von wem also stammt dieses Gemälde?

Der Revolutionär Rudolf Lohbauer

Der Maler war ein damals 21-jähriger Stuttgarter. Er sollte nachmals 1848'er Revolutionär in Berlin werden, sowie radikal-demokratischer Politiker: Rudolf Lohbauer (1802-1873)(Wiki) (1).

Um 1823 herum bewegte sich Lohbauer als 21-jähriger Mann im Freundeskreis von Eduard Mörike und Wilhelm Waiblinger, im Umfeld eines Freundeskreises also, der zugleich Person und Werk des - ansonsten weithin vergessenen - Friedrich Hölderlin in ehrenvollem Angedenken erhielt, und der - zumindest zum Teil - auch die Inhalte dieses Lebenswerkes in Wort und Tat nachvollziehen konnte. Das auch sonst sehr wechselhafte Leben und die feurige Persönlichkeit dieses vielseitigen Künstlers, Politikers und Schriftstellers Rudolf Lohbauer geben Zeugnis von diesem Umstand. Haben sie doch sogar auf Wikipedia eine - für dieses Portal ungewöhnlich - lebendige Würdigung erfahren (Wiki):

Nach Hans Königer zeigte Lohbauer manche Ähnlichkeit mit der Personalstruktur Wilhelm Waiblingers in seiner kühnen, vielgestaltig schillernden Persönlichkeit, seinem unkonventionellen, magnetisch anziehenden, die Menschen im Sturm erobernden Wesen, das ängstlichen Zeitgenossen triebhaft, pathologisch oder dämonisch erschien. W. Lang schrieb, er habe eine bewegliche phantasievolle Natur, die ihm nie erlaubte, festen Grund zu fassen. Lohbauer war ein Suchender, der unbefriedigt von einem Ziel zum anderen schwankte. Sein Vetter Rümelin beschrieb ihn nach dem Tode als Mann, der zu seinen Idealen stand und zum Höchsten berufen schien; daß er stets in allen Lagen des Lebens ein reiner und edler Mensch gewesen war, der die höchsten Ziele vor Augen hatte.

Ja, zu jenen Zeiten gab es noch Kreise, in denen "Schwanken" nicht in Widerspruch gesetzt wurde dazu, daß man ein reiner und edler Mensch wäre. Eher im Gegenteil. Gänzlich andere Verhältnisse als heute. Was für hinreißende Zeiten. Ja, etwas von dieser heftigen Energie, diesem "schwankenden Unzufriedensein" wird wohl doch auch in diesem Gemälde "Hyperions Fahrt nach Kalaurea" erzählt. Im Hölderlin-Jahrbuch von 1996/97 steht (2):

Rudolf Lohbauers Hyperion-Bild wurde 1824 in der Kunst- und Industrieausstellung in Stuttgart und 1970 in der Ausstellung zu Hölderlins 200. Geburtstag in Marbach gezeigt, nachdem Alfred Kelletat das zuletzt 1833 in einer Druckschrift erwähnte Bild 1957 im Hölderlin-Jahrbuch der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt (...) und seine Beziehung zu Hölderlins "Hyperion" nachgewiesen hatte. Da ich mit diesem Bild, das immer im Wohnzimmer meiner Eltern hing, aufgewachsen bin und es oft betrachtet (...) habe, erlaube ich mir, (...) einige ergänzende Bemerkungen zu Kelletats grundlegendem Aufsatz vorzulegen. ....

Noch 1996 also konnte dieses Gemälde Menschen bewegen. 

Hölderlin-Porträt aus dem Jahr 1823

Abb. 2: Friedrich Hölderlin, gezeichnet von Rudolf Lohbauer (Tübingen, Juli 1823) - Im Nachlaß von Eduard Mörike erhalten

Von Lohbauer finden sich noch andere Kunstwerke vergleichbaren Gehalts (Wiki Commons). Lohbauer schuf - anläßlich eines Besuches bei Hölderlin in Tübingen im Jahr 1823 - auch eines jener Portraits von diesem Dichter, das allen Hölderlin-Kennern als wichtig bekannt geblieben ist (Abb. 2). Ob Friedrich Hölderlin das Gemälde "Hyperions Fahrt nach Kalaurea" jemals zu Gesicht bekommen hat?

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  1. Kelletat, Alfred: Rudolf Lohbauers Hölderlin-Brief und Hyperion-Bild aus dem Jahre 1824. In: Hölderlin-Jahrbuch 1957 (frei als pdf verfügbar)
  2. Ludwig, Walther: Rudolf Lohbauers Bild "Hyperions Fahrt nach Kalaurea", Hölderlin-Jahrbuch 30 (1996/1997), S. 359-80 (frei als pdf verfügbar)