Der Naumburger Meister (etw. 1200-1270) (Wiki) ist einer der bedeutendsten Künstler des Hochmittelalters (a, b, c). Er lebte um 1250. Im nächsten Jahr 2011 wird es in Naumburg eine Landesausstellung des Landes Sachsen-Anhalt geben mit dem Titel "Der Naumburger Meister - Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen" (a, b):
Der weltberühmte Naumburger Meister und dessen Werkstatt sind trotz ihrer überragenden kunsthistorischen Bedeutung bislang noch niemals Thema einer großen Ausstellung gewesen. (...) Im Rahmen der Landesausstellung 2011 wird den Besuchern also zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, einen Überblick über die bildhauerischen und architektonischen Werke zu erhalten, die mit dem Naumburger Meister in Verbindung gebracht werden.
Unter anderem schuf der Naumburger Meister das Abendmahlsrelief im Westlettner des Naumburger Domes (a, b, c). Von diesem Kunstwerk im folgenden einige Beispiele (Abb. 1-7).
Abb. 1: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms |
Das Abendmahlsreliefs im Naumburger Dom macht Aussagen zu dem Thema Schuld. Der Naumburger Meister scheint dieses Thema in ähnlicher Weise erlebt und dementsprechend behandelt zu haben wie 300 Jahre später der Würzburger Holzbildhauer Tilman Riemenschneider in seinen Abendmahldarstellungen.
Abb. 2: Jesus gibt Judas das Brot Ausschnitt aus dem Abendmahlsrelief im Naumburger Dom |
Die Dargestellten am Westlettner des Naumburger Doms scheinen zu fragen: Hätte nicht auch ich an der Stelle des Judas schuldig werden können und einen gottnahen Menschen verraten können? - Warum er und nicht ich?
Abb. 3: Der Westlettner im Naumburger Dom mit dem Abendmahlsrelief - Gesamtansicht |
Diese Frage ist - über den konkreten Inhalt der Vorlage, nämlich der biblischen Geschichte hinausgehend, ja auch über den ganzen Geist der Bibel hinausgehend - eine tiefe und ernste.
Abb. 4: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms |
Es ist eine Frage, die sich Menschen stellen, wenn sie erleben, wie sie selbst - oder andere - sich unter ggfs. ungünstigen Lebensumständen oder aus Leichtsinn, aus Übermut oder auch - der häufigste Fall: aus Gedankenlosigkeit - nicht mehr den von ihnen an sich selbst gestellten Ansprüchen entsprechen.
Abb. 5: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms |
Sie richten die Frage dann - wie die Figuren auf dem Westlettner im Naumburger Dom - nach innen, an sich selbst. Sie geben sich selbst Rechenschaft - niemand anderem. Niemand steht zwischen ihnen und Gott. Kein maßlos geäußerter Vorwurf von außen ist Veranlassung zu ihrer Frage. Jeder blickt nur - ganz von sich aus, aus eigener Veranlassung - in sich selbst. Nirgendwo wird ein lauter, überheblicher Vorwurf laut gegenüber dem, der schuldig geworden ist.
Abb. 6: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms |
Nirgendwo auch werden unwürdige Schuldbekenntnisse gezeigt oder auch nur - dem Geist dieser Kunst nach - gefordert (von sich selbst oder anderen).
Abb. 7: Jesus vor Pontius Pilatus, der seine Hände "in Unschuld" wäscht |
Nein, der hier dargestellte gottnahe Mensch weiß vielmehr um die Möglichkeit, daß auch er schuldig werden kann, daß auch er nicht davor gefeit ist. Und jede echte Verantwortungs-Übernahme im Leben geht zuvor mit einer solchen sehr ernsten Prüfung einher: Werde ich der Verantwortung, die ich übernehme, gerecht werden? Bin ich gefeit davor, ihr gegenüber nicht gerecht zu werden?
Abb. 8: Der "Mainzer Kopf mit der Binde", höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Werk des Naumburger Meisters |
Die Frage dieses Kunstwerkes ist also durchgängig: Wie geht der einzelne Mensch mit Schuld um? Wie wird er der Verantwortung, ein Mensch zu sein, "in den Gewittern des Menschseins vor Gott zu stehen", gerecht? Wie geht er deshalb sowohl mit eigener Schuld um, als auch mit der Schuld anderer?
Abb. 9: Der "Mainzer Kopf mit der Binde", höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Werk des Naumburger Meisters |
Die Kunst des Naumburger Meisters ist deshalb eine große Predigt. Eine Predigt über das Ernsteste, das Menschen widerfahren kann. Nämlich daß sie in Gegensatz geraten können zu Gott oder dem Göttlichen oder zu den Wertungen und Ansprüchen, die sie an ihr eigenes Leben stellen. Von dem Heiligblutaltar von Tilman Riemenschneider in Rothenburg ob der Tauber aus der Zeit Anfang des 16. Jahrhunderts ist zu erfahren, daß er eine ähnliche Thematik behandelt (a, b) wie der Naumburger Westlettner. Riemenschneider scheint sogar noch einen Schritt weiter zu gehen:
Die zentrale Figur ist Judas, nicht, wie sonst üblich, Jesus selbst. Judas und Jesus haben überdies eine erstaunliche Ähnlichkeit in den Gesichtszügen.
Die grundlegende Frage, die auch von der Kunst Tilman Riemenschneiders behandelt wird, ist die Frage: Kann nicht auch ich Jesus verraten ebenso wie Judas? Allgemeiner übersetzt: Kann nicht auch ich das Göttliche verraten so wie Judas das Göttliche verraten hat?
Warum er und in diesem Falle - zufälligerweise - nicht ich? Man steht hier in einer anderen seelischen und sittlichen Welt als in dem unwürdigen Wühlen in der Schuld innerhalb der eigenen Seele oder in der Seele der Mitmenschen wie sie in einem bestimmten christlichen Geist Jahrhunderte lang praktiziert worden ist. Ein unwürdiges Wühlen, an das sich dann insbesondere auch der Mensch des 20. Jahrhunderts gewöhnt hat.
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