Donnerstag, 31. Dezember 2015

... die er einst mit Susette Gontard gehört hatte ....

Der "wahnsinnige" Hölderlin
- Er sang oft das Lied "Mich fliehen alle Freuden"
- Wie konnte er nur!

Eine Fülle von Lebenszeugnissen kann belegen, daß der deutsche Philosoph und Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) in seinen Altersjahren in Tübingen keineswegs - - - "wahnsinnig" war. Sondern einfach wie auch schon zuvor geistig weitaus gesünder und wacher als das ganze übrige damalige und heutige Deutschland zusammen genommen (1-5).

Abb: Hölderlins Wohnturm in Tübingen bis 1843
Zuerst sind die Lebenszeugnisse dafür von dem Franzosen Pierre Bertaux zusammen getragen worden (5). Später von anderen. Dabei hatte sein bester Freund Sinclair seinen Zeitgenossen schon ganz zu Anfang lapidar gesagt, daß es sich bei dieser - "Geisteskrankheit" nur um eine "angenommene Äußerungsart" handele. Um sich Ungemach vom Leibe zu halten. Hölderlin ließ seine Zeitgenossen also bei ihrem Glauben, förderte diesen Glauben durch oberflächliches, leichtes Verstellen. Und lebte weiter. Wie er es für seine Pflicht hielt. Er, der über den Freitod lange nachgedacht und ihn zu Ende gedacht hatte. Aber bis heute möchten sich viele über den Umstand hinweg täuschen, daß Hölderlin noch in diesen Jahren ein geistig so gesunder, rüstiger, lebendiger Mensch gewesen sein soll.

Hölderlin saß oft am Klavier und spielte

Hölderlin sah sich in jener Zeit weiterhin als Dichter und dichtete. Er zeigte volle Aufgeschlossenheit und Erschlossenheit dem Naturerleben gegenüber. Er hatte volle Aufmerksamkeit für die Schönheit von Menschen, für die Kunst. Er zeichnete auch selbst. Er hatte Aufmerksamkeit für die Musik, er spielte Klavier und sang dazu. Er hatte Humor. Und er hatte Verantwortungsbewußtsein. Für all diese Aspekte können reichen Zeugnisse angeführt werden. An dieser Stelle sollen einmal nur einige Zeugnisse für seine Beschäftigung mit der Musik angeführt werden. Christoph Schwab berichtet (1, S. 247):

Er saß am Klavier und spielte. ... Sein Spiel war sehr fertig und voll Melodie, ohne Noten. ... Einigemal, besonders, wenn er einen recht melodischen Passus ausgeführt hatte, sah er mich an. ... Es schien ihm zu gefallen, daß ich so gerührt war.
Er berichtet:
Mit kindischer Einfalt,
habe Hölderlins Auge auf ihm geruht. Wilhelm Waiblinger berichtet aus den Jahren 1827/28 (1, S. 148; 2, S. 330):
Hat er eine Zeitlang gespielt, ... so richtet sich sein Haupt empor ... und er beginnt zu singen. ... Er tats mit überschwenglichem Pathos.
Und der Schreiner Zimmer, bei dem Hölderlin in jenen Jahren wohnte, berichtete 1837 (1, S. 225):
Oder er sitzt am Spinett und musiziert vier Stunden lang, in einem Ton als wollte er den letzten Fetzen herunterspielen. Und immer dasselbe simple Lied, immer dieselbe Leier, daß einem im ganzen Hause Hören und Sehen vergeht. Man muß schon stark hobeln, sonst wird einem wüst im Kopf. Oft aber spielt er auch recht schön.
Der Besucher Diefenbach berichtet aus dem 1837 (2, S. 330):
Hölderlin war einst ein ausgezeichneter Musiker und Sänger.
Und Christoph Schwab (2, S. 461):
Gesang und Flötenspiel übte er vom Jahr 1817 an seltener, nahm es aber 1822 wieder mit Eifer für einige Zeit von Neuem auf.
"Eine seltsame Mischung von Freundlichkeit und Fremde"

Ebenso (2, S. 468):

Ein einfaches Thema, wie z. B. die Melodie: "Mich fliehen alle Freuden," variierte er unermüdlich.
Er
sah dann wieder mit einer seltsamen Mischung von Freundlichkeit und Fremde die Zuhörer an.

Mit mehr Fremde als Freundlichkeit hätte Hölderlin 1998 in das Magazin "Focus" geblickt, wo es hieß, „Mich fliehen alle Freuden“ sei eine Opernarie aus der Oper „Die schöne Müllerin“ von Giovanni Paisiello (1789) (4),

die er einst gemeinsam mit Susette Gontard gehört hatte. Der italienische Komponist war berühmt-berüchtigt für seine endlosen, schier unerträglichen Motiv-Wiederholungen, durch die, wie es damals hieß, "sogar der auf die Spitze getriebene Wahnsinn sich äußern könne".

Nun, davon, wie unsinnig eine solche Charakterisierung dieses Liedes ist, kann sich jeder heute leicht über Youtube überzeugen (z.B.: mit Klavierbegleitung oder mit Orchester) (s.a. Wiki). Leider gibt es gegenwärtig nur Aufnahmen mit dem italienischen Liedtext. In deutscher Übersetzung lautet dieser Liedtext schlicht (2, S. 467):

Mich fliehen alle Freuden,
ich sterb vor Ungeduld;
an allen meinen Leiden
ist nur die Liebe schuld.
Es quält und plagt mich immerhin,
ich weiß vor Angst nicht, wo ich bin;
wer hätte dies gedacht?
Die Liebe, ach, die Liebe
hat mich so weit gebracht,
hat mich so weit gebracht.

- Und es ist schon Wahnsinn, wenn man ein solches Lied beim Singen und Klavierspielen oft wiederholt und variiert? - - - Die spinnen, die Deutschen, die ihre größten Dichter so behandeln. Beethoven war übrigens auch so verrückt, genau zu diesem Lied sechs Variationen zu schreiben (Yt.), zum Beispiel von Elly Ney interpretiert (Yt).

"Ich bin nun orthodox geworden"

Es seien noch Zeichen für Hölderlins Interesse an der Philosophie gebracht. Davon berichtet Waiblinger (6, S. 235):

Die beginnende Schelling'sche Lehre scheint großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, wie er mir denn unter dem unverständlichsten Wortschwall zuweilen von Kant und Schelling erzählte.
Und (6, S. 245f):
Womit er viel zu schaffen hatte, das war das pantheistische Ein und All, mit großen griechischen Charakteren über meinem Arbeitstisch an die Wand geschrieben. Er sprach oft lange mit sich selbst, immer das geheimnisvolle, vielbedeutende Zeichen anschauend, und einmal sagte er: "Ich bin nun orthodox geworden, eure Heiligkeit! Nein, nein! ich studiere gegenwärtig den dritten Band von Herrn Kant und beschäftige mich viel mit der neuen Philosophie." Ich fragte ihn, ob er sich Schellings erinnere. Er sagte: "Ja, er hat mit mir zu gleicher Zeit studiert, Herr Baron!" - Ich sagte, daß er nun in Erlangen sei und Hölderlin erwiderte: "Vorher ist er in München gewesen." Er fragte, ob ich ihn schon gesprochen, und ich sagte ja.

Es steht ja außer Frage, daß ein Satz wie "Ich bin nun orthodox geworden" als ein sehr vieldeutiger Satz verstehbar ist. Hölderlin's Philosophieren bildete ja damals tatsächlich - mit Schelling und Hegel - neue Orthodoxien aus, später noch deutlicher mit Marx. Es ist überhaupt nicht auszuschließen, daß er mit dieser Äußerung genau diesen Umstand hatte benannt wissen wollen, natürlich unter dem nur leicht darüber hin gelegten Schleier vorgetäuschter Blödigkeit versteckt. Mit Orthodoxie konnte durchaus auch gemeint sein, daß Hölderlin schon damals sah, daß das idealistische Philosophieren mit Schelling und Hegel in einer Sackgasse, und zwar einer für Orthodoxie anfälligen enden würde.

Über Susette Gontard, die "Diotima" seiner Dichtungen, durch die er erst das geworden war, was er war, konnte sich der "wahnsinnige" Hölderlin zuweilen auch auslassen. J. G. Fischer berichtet darüber (2, S. 429):

"Ach," sprach er, "reden Sie mir nicht von Diotima, das war ein Wesen! und wissen Sie: dreizehn Söhne hat sie mir geboren, der eine ist Kaiser von Rußland, der andere König von Spanien, der dritte Sultan, der vierte Papst u. s. w. Und wissen Sie was dann?" Nun sprach er folgendes schwäbisch: "wisset se, wie'd Schwoba saget:. Närret ist se worda, närret, närret, närret." Das sprach er so erregt, daß wir gingen, indem er uns mit tiefer Verbeugung an die Tür begleitete.

Hölderlins Zorn auf die Deutschen und seine Zeit kannte keine Grenzen. Und er hatte jedes, jedes, jedes Recht dazu.

Nein, sie war nicht verrückt geworden. Sie war einfach nur zugrunde gegangen an der Unlebendigkeit und Hölzernheit ihres Zeitalters. Sie ist eine "lebend Tote" bis heute - wie Hölderlin.

Sie blicken auf die Deutschen - als die Untoten, die sie sind.

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  1. Wittkop, Gregor (Hrsg.): Hölderlin, der Pflegesohn. Texte und Dokumente 1806 - 1843 mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 1993
  2. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. 'Frankfurter Ausgabe', hrsg. v. D.E. Sattler u. M. Franz, Bd. 9: Dichtungen nach 1806. Mündliches. Verlag Roter Stern, Frankfurt/M. 1983
  3. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. 'Stuttgarter Ausgabe', hrsg. v. ..., Bd. 1 - .., Kohlhammer-Verlag, Stuttgart u.a. 1968
  4. Pabst, Reinhard: Hölderlins Verrückung. Neueste Erkenntnisse über die Ausgrenzung eines Dichtergenies. In: Focus 49/1998, S. 142-146
  5. Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 1978
  6. Waiblinger: Friedrich Hölderlin's Leben, Dichtung und Wahnsinn (1827). S. 221-261 (GB)

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