Mittwoch, 19. Oktober 2022

Die Maler in Willingshausen

Einige erste Eindrücke zur Geschichte der Willingshäuser Malerkolonie
(1824 bis 1930)

Der Verfasser dieser Zeilen ist in dem hessischen Dorf Wernwig bei Homberg/Efze aufgewachsen. Dreißig Kilometer von diesem Dorf entfernt - auf der anderen Seite des Knüllgebirges und ebenfalls noch in der "Schwalm" gelegen - liegt Willingshausen, das Dorf der berühmten, ältesten Malerkolonie Europas (Wiki).

Abb. 1: Carl Bantzer - Frühlingsspaziergang im Wald, 1913 (Bln)

Und der Verfasser dieser Zeilen beschäftigt sich in diesem Beitrag zum ersten mal mit dieser berühmten Malerkolonie. In seiner Jugend hat er sich für diese Malerkolonie überhaupt nicht interessiert. Er wußte zwar von ihrer Existenz - aber er wußte noch nicht einmal, daß Willingshausen auf der anderen Seite des Knüllgebirges liegt. 

Wirkliches Interesse für Kunst entwickelte der Verfasser dieser Zeilen auch erst, nachdem er Nordhessen für das Studium verlassen hatte, nämlich im ersten Semester an der Universität Konstanz, als er sich all den Büchern in der dortige Kunst-Abteilung der Bibliothek mit den vielen herrlichen Werken der europäischen Kunstgeschichte Nachmittage lang hingegeben hat. Natürlich kann in einem solchen Zusammenhang die Willingshäuser Malerkolonie bestenfalls als eine Fußnote der europäischen Kunstgeschichte Aufmerksamkeit erwecken.

Mit diesem Blogartikel soll also zum ersten mal eine Beschäftigung mit dieser Malerkolonie Willingshausen erfolgen. Wobei dieser Blogartikel nur einen ersten Zugriff darstellen kann und sich nur - vielleicht willkürlich - einige der vielen Maler von Willingshausen heraus greifen kann. Uns am ansprechendsten erscheinen vor allem solche Maler, die in Willingshausen nach 1900 gewirkt haben. Und unter ihren Werken sind es gerade die vom Ausdruck her "herberen", die uns besonders der Aufmerksamkeit wert erscheinen. Wir haben die hier eingestellten Kunstwerke deshalb gegenchronologisch angeordnet. 

Abb. 2: Schäfer mit Herde bei Merzhausen in der Schwalm, Gemälde von Hugo Mühlig, 1929

Aber im begleitenden Text erweist es sich dennoch nötig, die Chronologie in der richtigen Reihenfolge einzuhalten. Aus Anfängen, die mit einem Zeitgeist verbunden waren, der uns womöglich heute nicht mehr so zugänglich ist, hat die Willingshäuser Malerkolonie in nachfolgenden Maler-Generationen dennoch Maler hervorgebracht, deren Werke heute durchaus ansprechen können und nicht nur "antiquiert" erscheinen oder uns doch zumindest als mit einer Tendenz in diese Richtung hin behaftet erscheinen.

Eine im Jahr 2008 begonnene und in den letzten Wochen weiter geführte Auseinandersetzung mit dem aus Wernswig stammenden, in Düsseldorf wirkenden und oft in Willingshausen weilenden Maler und Grafiker Heinrich Otto (1857-1923) (Wiki, engl) (s. Stgen2008) veranlaßte das Zusammentragen dieses Beitrages zu Willingshausen. Denn auch das Leben von Heinrich Otto wird nur verständlich im Zusammenhang der über mehrere Jahrzehnte hinweg so fröhlich zusammen wirkenden und miteinander befreundeten Maler in Willingshausen. 

Als einer der ersten Künstler, die sich in Willingshausen aufgehalten haben, gilt der Kasseler Maler Ludwig Emil Grimm (1790-1863) (Wiki). Es ist dies der jüngste Bruder der "Gebrüder Grimm". Er war 1824 und 1825, sowie 1828 in Willingshausen (GB). Willingshausen liegt ja auch vergleichsweise gut erreichbar zu Kassel (1). 1824 entstand dort etwa seine Radierung "Die hohle Eiche bei Willingshausen", 1825 das Bildnis des Johannes Dörr (Abb. 15).

Ludwig Knaus (1858)

Beliebtheit unter Malern vieler europäischer Länder erlangte Willingshausen dann aber erst ab 1858 durch ein Werk des aus Wiesbaden gebürtigen, viele Jahre in Düsseldorf lebenden Malers Ludwig Knaus (1829-1910) (Wiki). Knaus gehörte zu der Generation der enttäuschten deutschen Revolutionäre von 1848. Ab 1849 suchte er in seiner Enttäuschung Zuflucht auf dem Land. Er kam dabei nach Willingshausen. 

Abb. 3: Bauer Dörr, Radierung von Hermann Kätelhön, 1913

Es war dann insbesondere sein Gemälde "Die goldene Hochzeit" von 1858 (Abb. 10), sowie mehrere weitere, beliebt gewordene Gemälde, die er vom Volksleben in Willingshausen malte, die das Bedürfnis und den Geschmack der Zeit offenbar so stark angesprochen haben, daß auch andere Maler solche Szenen malen wollten. 

Die "Notwendigkeit" für dieses Zeitbedürfnis wird einem deutlicher, wenn man sich klar macht, daß zeitgleich auch die Volkskunde als Wissenschaft durch den Schriftsteller Wilhelm Heinrich Riehl - ebenfalls einen Revolutionär von 1848 - begründet worden ist (DVHS1997). Auch Knaus wollte in Willingshausen in einem ähnlichen Sinne "ethnographische Studien" treiben (Wiki):

1858 malte Ludwig Knaus das Gemälde "Die Goldene Hochzeit", 1867 sein Bild "Hoheit auf Reisen" und 1871 "Das Leichenbegräbnis in Willingshausen". Knaus wurde für seine Motive weltweit berühmt und es zogen eine große Anzahl deutscher und ausländischer Maler nach Willingshausen, um die hessische Landschaft und das Volksleben abzubilden.

Knaus wirkte also - der Absicht nach - auf ähnlichen Gebieten als Maler wie Wilhelm Heinrich Riehl als Schriftsteller und Wissenschaftler (Wiki):

Im Sommer 1849 war Knaus - Anregungen von Jakob Becker und Jakob Fürchtegott Dielmann folgend - erstmals zu ethnographischen Studien mit seinem Freund Adolf Schreyer in Willingshausen in der Schwalm. In jenen Jahren entstanden seine eigentlichen Hauptwerke; "Das Leichenbegängnis in einem hessischen Dorf" (1871), "Die Geschwister" (1872) oder "Die Beratung der Haunsteiner Bauern" (1873). 

Aus heutiger Sicht möchte man diesen Gemälden höchstens noch eine Bedeutung zusprechen als Hinweis auf den Zeitgeschmack der damaligen Zeit. Man versteht mit ihnen, womöglich zur eigenen Überraschung, daß damals "rührende", eher rückwärts gewandte dörfliche Idyllen innerhalb des Bürgertums auf Wohlwollen stießen, vielleicht auch als Gegenreaktion in der Zeit der beginnenden Industrialisierung und des immer zügiger werdenden gesellschaftlichen Wandels, der sich durch diese ergab.

Abb. 4: Schwälmer Bauer von Hermann Kätelhön

Für die heutige Wahrnehmung mutet mancher Charakterzug der Gemälde von Ludwig Knaus fast "kitschig" an. Da von diesem Zug auch manche Werke "gefeierter" Willingshäuser Maler aus nachfolgenden Generationen nicht ganz unbeeinflußt blieben, mag das Bild der Willingshäuser Malerkolonie womöglich zu sehr von diesem Charakterzug insgesamt geprägt geblieben sein. Obwohl doch später noch ganz andere Künstler und Künstlergenerationen folgten in Willingshausen. Und um dieser späteren Maler willen möchte man Willingshausen viel eher eine nicht geringe Bedeutung in der Kunstgeschichte zusprechen.

Im Gefolge von Ludwig Knaus kam unter anderem Paul Weber (1823-1916) (Wiki) nach Willingshausen. Er hat herrliche Landschaftsgemälde gemalt, die weitaus weniger zeitverhaftet wirken als viele der Werke von Knaus. Andererseits mögen die Werke vieler anderer Maler, die zu den beiden bisher genannten Maler-Generationen in Willingshausen gehörten, in ähnlicher Weise eher nur noch historisches Interesse wecken. 

Karl Raupp (1865)

Der Münchner Maler Karl Raupp hat im Jahr 1865 Willingshausen besucht. Und er berichtete davon im Jahr 1887 sehr lebendig und anschaulich (2). Er beschreibt, daß den Malern jener Jahre die Schwälmer Volkstracht "malerischer" erschienen ist als sogar die bayerische Volkstracht. Denn diese hätte damals schon zu sehr an "Theater" erinnert. Er schrieb auch (2):

Der Bauer und die Bäuerin der Schwalm ist im Sonntagsstaat und bei der Feldarbeit von gleich malerischer Erscheinung. Im wogenden Kornfeld die hellen Figuren der Mädchen mit dem roten Mützchen auf den blonden Haarn arbeiten zu sehen, wirkt stets als ein heiteres allerliebstes Bild.

Es war also tatsächlich die damals noch im Alltag getragene Schwälmer Tracht, die viele Maler nach Willinghausen zog. 

Wilhelm Schäfer (1882)

Der aus der Schwalm gebürtige aber in Düsseldorf aufgewachsene, ausgebildete Volksschullehrer und nachmalige Schriftsteller Wilhelm Schäfer (1868-1952) (Wiki) hat in den 1930er Jahren einmal im Rückblick beschrieben, wie befremdet er war, als er mit 14 Jahren im Jahr 1882 das erste mal - von Düsseldorf aus - in die Heimat seiner Eltern gekommen ist. 

Abb. 5: Agnes Waldhausen (1878-1963), eine Willingshäuser Malerin, Potrait von Hermann Kätelhön um 1920 (Ks)

Und zwar aus Anlaß der Beerdigung seiner Großmutter. Aus seinen Worten wird deutlich, wie selbstverständlich es in der Schwalm damals noch war, Tracht zu tragen. Es wird darüber berichtet (HNA2019):

Zur Beerdigung der Großmutter 1882 kam Wilhelm Schäfer zum ersten Mal wieder nach Ottrau. Obwohl ihm das Land der Rotkäppchen in Gedanken vertraut war, notierte er: „die Kinder in den kurzen gebauschten Röcken, den weißen Strümpfen und den Schnallenschuhen stellten sich in der Wirklichkeit als eine unerreichbare Fremde heraus.“ (Meine Eltern, 1937, S.88ff.) Der Anblick des Trauerzuges zum Kirchhof mit den singenden Rotkäppchen, den Frauen mit schwarzen Käppchen und den Männern im Dreispitz war „für meine staunenden Augen ein unauslöschliches Bild, nur für meine gänzlich verdonnerte Seele konnte das keine Heimat sein, schon deshalb nicht, weil ich die Sprache gar nicht oder nur wortweise verstand. (...) Daß meine Mutter auch einmal ein Rotkäppchen gewesen war, sah ich nun an ihren Schwestern und meinen Basen; nur war das alles Vergangenheit, an der ich nicht teilgenommen hatte, und die Gegenwart hatte keine Zeit, mir ihre Türen aufzumachen. Denn am zweiten Tag fuhren wir wieder nach Hause (...) Der blasse Traum einer Heimat zerrann in der hessischen Wirklichkeit (...), wo die Äcker und Wälder um Ottrau nur für die Rotkäppchen da waren, die mich in meinem Konfirmandenanzug so fremd angesehen hatten, wie ich sie selber.“ Wie er weiter schrieb, teilte er damit das Schicksal vieler, die um des Broterwerbs in die Industriegebiete gingen. „Sie verloren die Heimat, in der die Gemeinsamkeit eine faßbare Wirklichkeit ist; ohne sie ist sie eine Idee.“

Wilhelm Schäfer hat sich Zeit seines Lebens - insbesondere in der von ihm mit Hilfe der Maler des Düsseldorfer Künstler-Vereinigung "Malkasten" begründeten - recht bedeutenden Kulturzeitschrift "Die Rheinlande" für viele Künstler und für die Kunst insgesamt eingesetzt. Nicht zuletzt auch für manchen aus Hessen stammenden und zeitweise in Willingshausen wirkenden Maler und Graphiker. So etwa auch - als einer der ersten - für den in Düsseldorf lebenden aber aus Wernswig in Nordhessen stammenden Landsmann Heinrich Otto.

Eine neue Generation (ab etwa 1880)

Von dem genannten Ludwig Knaus übernahm eine nachfolgende Maler-Generation die Gewohnheit, Sommerreisen in die Schwalm zu unternehmen. In einem 200 Seiten-Werk aus dem Jahr 1975 - "Deutsche Künstlerkolonien und Künstlerorte" - wird ausgeführt, daß dem 76-jährigen Ludwig Knaus im Jahr 1905 bewußt war, daß die ihm folgende Maler-Generation andere Wege ging als er selbst (Witek/Belm1976, S. 20): 

... Die impressionistischen Tendenzen sind ihm suspekt. Fünf Jahre vor seinem Tode bekennt der Sechsundsiebzigjährige: "Ich erkenne die großen Errungenschaften der Modernen an. Die Jugend hat das Wort, wie wir Alten es ehedem gehabt haben. Aber das Gemüt verödet ein wenig bei dem Haschen nach virtuosen Effekten. Plein air habe ich immer mit Vorliebe gemalt, aber die Lichtphänomene in der Natur und meine Richtung, das Genre, sind unvereinbar. - Wenn der Mensch des Menschen eigentliches Studium ist, so wird er auch das eigentliche Objekt der Kunstanschauung bleiben. Um die seelischen Vorgänge in des Menschen Leben und Angesicht malen zu können, brauche ich das Licht nicht als Objekt und Endziel der Kunst, sondern als Mittel, das sich so wenig aufdrängt wie möglich."
Von dieser Auffassung distanzierte sich die nächste Malergeneration auch in Willingshausen. Die im Freilicht gemalte Landschaft gewinnt an Darstellungswürdigkeit und erhält für einige Zeit Vorrang. Hugo Mühlig (1854-1929), Otto Strützel (1855-1932), Adolf Lins (1856-1927), Carl Bantzer (1857-1941), Theodor Matthei (1857-1920), Emil Zimmermann (1858-1899), Heinrich Otto (1858-1923) widmen sich in den siebziger und achtziger Jahren der Schwälmer Landschaft. Alles Jahres- und Tageszeiten finden ihren Niederschlag in Skizzen, Studien und Bildern. Am frühen Morgen pirscht der Jäger im nebelverhangenen Wald (Mühlig), Erste Sonnenstrahlen eines feuchtkalten Novembermorgens umspielen Schäfer und Hund (Strützel, Abb. 6). Über einen Feldweg der Schwalm treibt ein Mädchen die Gänse, die Wolken ziehen mit (Lins, Abb. 8). Im Kohlgarten vorm Dorf ackert die Bäuerin (Lins). Stickig brütet die Julisonne zwischen den Garben im Kornfeld (Mühlig, Otto, Abb. 7). Warme Abendsonne wirft lange Schatten über den Heimweg einer kleinen Schwälmerin (Matthei). Immer ist der bäuerliche Mensch in die Landschaft mit einbezogen, auch wenn oft nur klein oder überhaupt nicht als Gestalt sichtbar. Seine Tätigkeit ist stets spürbar und im Bilde zu gewahren. Mensch und Landschaft atmen im gleichen Rhythmus.
Den in der Schwalm geborenen Carl Bantzer zieht es seit den achziger Jahren unwiderstehlich nach Willingshausen. Es wird zum Mittelpunkt der Freilichtmalerei schon dadurch, daß er seine Schüler der Dredener und später der Kasseler Akademie in die Schwalm bringt. Bantzer macht das Sommer-Studium auf dem Lande zur Pflichtübung.

Man wird auch annehmen müssen, daß Maler wie Heinrich Otto sich damals dem französischen Maler Jean-François Millet (1814-1875) (Wiki, engl) verbunden gefühlt haben. Millet war ein Bauernsohn wie Otto selbst. Er stammte aus der Normandie. Otto hat ähnlich häufig wie Millet Schafherden und Schafe gemalt, oft auch in ähnlicher Stimmung gehalten wie bei Millet. Diese Ähnlichkeit fällt etwa bei Betrachtung von Millet's "Schafherde bei Mondlicht" von 1872/73 (Wiki) deutlich ins Auge, denn Otto hat selbst ganz ähnliche Werke geschaffen.

Otto Mühlig

Zu der nachfolgenden Generation von Malern gehörten dann unter anderem Hugo Mühlig (1854-1929) (Wiki), gebürtig aus Dresden und Heinrich Otto, gebürtig aus dem von Willingshausen nur dreißig Kilometer entfernten Dorf Wernswig. Schon der Vater von Mühlig war in Dresden Landschaftsmaler gewesen, der Vater von Heinrich Otto war Kleinbauer und Fruchthändler. Mühlig und Otto lebten in Düsseldorf. Beide waren dort Mitglied der Künstlervereinigung "Malkasten". 

Mühlig hat schließlich in Merzhausen bei Willingshausen einige der schönsten seiner Landschaftsgemälde gemalt (s. Wiki, z.B. a, b, c, auch d), darunter auch eines aus seinem letzten Lebensjahr: "Schäfer mit Herde bei Merzhausen in der Schwalm" (Abb. 2). 

Auffallende Werke haben auch geschaffen der mit Heinrich Otto gleichaltrige, gebürtige Schwälmer und Ziegenhainer Carl Bantzer (1857-1941) (Wiki) (s. Abb. 1), sowie der zehn Jahre jüngere Wilhelm Thielmann (1868-1924) (Wiki) (Abb. 6 und 7), sowie dann der Marburger Maler und Grafiker Otto Ubbelohde (1867-1922) (Wiki). 

Carl Bantzer (1913)

Bantzer ist im Jahr 1887 zum ersten mal nach Willingshausen gekommen. Auch er hat beschrieben, warum gerade Willingshausen unter den Malern so große Begeistrung weckte (zit. n. 3, S. 123f):

Die sinnvollen alten Sitten und Gebräuche von der Wiege bis zur Bahre waren noch überall lebendig und gestalteten das Leben reich.

Und:

Begeistert waren alle von der urwüchsigen Eigenart der Menschen und ihrer farbigen Tracht, von den malerischen Dorfgassen, mit Höfen, deren Häuser, Scheunen und Ställe alles zum Malen reizte, und von der Schönheit der Landschaft in Wald und Feld.

Wenn Bantzer das schreibt, der doch selber nicht weit entfernt von Willingshausen in Ziegenhain aufgewachsen ist, dann muß man von Willingshausen doch denken, daß es eine Art archaische Enklave inmitten einer sich weiter entwickelnden Zeit darstellte. 

Abb. 6: Abendmahl-Szene in der Wernswiger Kirche - Heinrich Otto, 1887 (Schn2020)

1887 malte Heinrich Otto in seinem Heimatdorf Wernswig eine Abendmahl-Szene in der Dorfkirche (Abb. 6). Von Tracht ist hier keine Spur. Insgesamt liegt aber sein Gemälde noch eher auf der Linie eines Ludwig Knaus als derjenigen einer nachfolgenden Maler-Generation.

1898 malte Heinrich Bantzer dann in Willingshausen sein Ölgemälde "Schwälmer Jugend beim Tanz", auch benannt "Schwälmer Tanz" (1898) (Wiki), jenes Gemälde, das wohl als das bekannteste und beliebteste aller in Willingshausen entstandenen Gemälde gilt. Ob mit Recht, sei dahin gestellt. Bantzer schildert, daß der Tanz, der auf diesem Gemälde getanzt wird, ein ganz bestimmter Tanz war, nämlich der "Schwälmer" (Naumann2011, S. 135). Dieser wird auch heute noch von Trachtengruppen der Schwalm getanzt (7, 8).

Aber weniger "gewollt" und eher "unbeschwerter", leicht dahin gemalt erscheint uns sein Gemälde "Frühlingsspaziergang im Wald" (bzw. "Sonntag in der Schwalm", bzw. "Waldspaziergang") aus dem Jahr 1913 (G) (Abb. 1). Es kann getrost zu den bedeutendsten Werken gerechnet werden, die die Malerkolonie Willingshausen hervorgebracht hat. Es ist deshalb auch als erstes - und damit als Vorschaubild - dieses Beitrages eingestellt.

Hermann Kätelhön (1913)

Angehöriger einer wiederum ganz neuen Malergeneration war dann der 25 Jahre jüngere Hermann Kätelhön (1884-1940) (Wiki). Kätelhön steht der heutigen Generation von allen bislang Genannten schon rein zeitlich am nächsten. Vielleicht sprechen deshalb viele seiner Werke auch heute noch viel leichter an und scheinen aus heutiger Sicht nicht zu sehr von irgendeinem sehr besonderen Zeitgeschmack (des 19. Jahrhunderts) beeinflußt zu sein (Abb. 3-5).

Auf Fotografien und Zeichnungen sieht man die Willingshäuser und Düsseldorfer Maler oft in fröhlicher Runde zusammen sitzen. Hermann Kätelhön hat dabei die Gitarre in der Hand, ein anderer Maler sitzt am Klavier. Man scheint in jenen Zeiten immer auch gerne miteinander gesungen zu haben. Oft sind ganze Familien bei den Zusammenkünften anwesend, so sitzen etwa die vier Kinder von Carl Bantzer den anderen Malern auf dem Schoß. Von solchen Fotografien her gesehen traut man - zumal dem Maler Kätelhön - gar nicht so ernsthafte Werke zu wie sie von ihm überliefert sind.

Der Maler Wilhelm Thielmann (1868-1924) (Wiki) ist schließlich mit seiner Familie sogar ganz nach Willingshausen gezogen und hat dort bis an sein Lebensende gelebt. 

Seine Familie hat dort 1942 auch die ausgebombte Bonner Malerin Henriette Schmidt-Bonn (1873-1946) aufgenommen, eine einstige Schülerin von Heinrich Otto, die noch 1940 in einem Aufsatz ihres Lehrers gedachte. 

Die Literaturwissenschaftlerin und Lehrerin, später Leiterin einer Mädchenschule Agnes Waldhausen (1878-1963) (Abb. 5) war ebenfalls gut befreundet mit der Familie Thielmann und hat oft in Willingshausen geweilt. Sie hat auch ergreifende Novellen verfaßt (s. Stgen).

Sie wird als "Muse von Willingshausen" bezeichnet. Über sie kamen an ihrem Lebensende - ähnlich wie 1946 schon über Schmidt-Bonn - Teile des Nachlasses von Heinrich Otto an das Kunstmuseum Marburg (alle inzwischen auf Bildindex.de digitalisiert).

Wilhelm Thielmann (1915)

Wilhelm Thielmann hat manches schöne Werk in Willingshausen geschaffen. Hier seien nur zwei Beispiele heraus gegriffen (Abb. 7 und 8).

Abb. 7: "Neueste Nachrichten" von Wilhelm Thielmann, 1915

Die Zeichnung "Neueste Nachrichten" ist im Jahr 1915, also im ersten Jahr des Ersten Weltkrieges entstanden. Man kann ihr entnehmen, daß die Menschen in Willingshausen im Alltagsleben damals immer noch Tracht getragen haben.

Gespannt und aufmerksam hören sie den vorgelesenen, vermutlich militärischen Nachrichten zu. Sie haben alle Söhne und Angehörige an den Fronten im Osten, im Westen, auf der See und bald auch im Süden. Sie sorgen sich um das Schicksal des schwer bedrohten Vaterlandes. 

Ernst, gefaßt und ingrimmig hören sie den Nachrichten zu. Deutschland ist für sie - mitten in der Friedenszeit - von allen Seiten mit einer überwältigenden Übermacht angegriffen worden. Daß Deutschland etwas Unrechtes getan hätte, daß diesen Krieg gerechtfertigt hätte, davon ist keiner überzeugt.

Abb. 8: Beim Tanz von Wilhelm Thielmann

In seiner Zeichnung "Beim Tanz" (Abb. 8) hat Wilhelm Thielmann ein zu seiner Zeit sehr beliebtes Motiv aufgenommen. Carl Bantzer war mit diesem - als Ölgemälde gefaßt - ja sehr berühmt geworden. In dieser Zeichnung läßt man dieses Motiv aber fast lieber auf sich wirken als in dem - für den heutigen Zeitgeschmack - zu betont farbenfreudigen Gemälde von Carl Bantzer.

Es ist erstaunlich, daß die Maler noch bis in den Ersten Weltkrieg hinein dem "Hessischen Volksleben" so viel Aufmerksamkeit zugewendet haben, ihm so viel haben abgewinnen können. Von all dem war in der Jugendzeit des Verfassers dieser Zeilen um 1980 herum in der Schwalm und in Nordhessen nur noch wenig zu bemerken. Nur ganz alte "hutzelige" Weiblein sah man damals mitunter noch in schwarzer Schwälmer Tracht auf den Straßen gehen.

Ein solches "volkstümliches Leben", eine solche Verbundenheit mit der eigenen Tracht gibt es bis heute in Bayern und in Österreich jedenfalls noch viel ungebrochener.

Abb. 9: Wichtige Orte künstlerischen Schaffens in Deutschland zwischen 1871 und 1918: Kunstakademien und Malerkolonien (Lenman1997)

In Abbildung 9 findet sich ein schöner Überblick über die Zentren des künstlerischen Schaffens in Deutschland zwischen 1871 und 1918. Es fehlt darin natürlich manches, etwa die Künstlerkolonie Nidden in Ostpreußen. Und spätestens nach 1918 kam zum Beispiel auch die Künstlerkolonie am Lebasee im mittleren Pommern an der Ostsee hinzu.

Nur an eine Kunsterfahrung aus seiner Jugend in seiner Heimat kann sich der Verfasser dieser Zeilen noch erinnern. Sie paßt sogar vom Thema her irgendwie in die in diesem Beitrag behandelte Thematik hinein. Als er einmal mit etwa 17 Jahren die Gemäldegalerie in Kassel besuchte, hinterließ das dort aufgehängte Bild "Der eifersüchtige Tiroler" einen nachhaltigen Eindruck (MusKassel) (Abb. 10).

Abb. 10: Der eifersüchtige Tiroler von Franz Defregger, 1899

Es mag noch heute - wie viele andere Gemälde des Tiroler Malers Franz Defregger (1835-1921) - deutlich direkter ansprechen als die meisten vergleichbaren Werke aus Willingshausen. 

Womöglich wäre es einmal spannend, nach den Ursachen dafür zu fragen. Warum erscheinen einem heute viele "Szenen aus dem Volksleben" aus Willingshausen zu "rührend", während ein solcher Eindruck - zum Beispiel - bei einem Defregger viel seltener entsteht. Defregger erscheint uns viel kraftvoller, viel "gegenwärtiger" als selbst etwa ein Wilhelm Thielmann. Und als Ludwig Knaus sowieso.

Abb. 11: "Die goldene Hochzeit" von Ludwig Knaus, 1859

Nun abschließend noch einige Werke dieses oben erwähnten Ludwig Knaus, ohne den es die Willingshäuser Malerkolonie in der Form, in der sie bekannt geworden ist, vermutlich gar nicht gegeben hätte.

Abb. 12: "Hinter den Kulissen" von Ludwig Knaus, 1880

Wir versuchen hier noch einige seiner Werke einzustellen, die uns noch am ehesten als ansprechend erscheinen (Abb. 11 bis 14). 

Mit all dem sollte nur ein erster Eindruck zur reichen Geschichte der Malerkolonie Willingshausen gegeben werden.

Abb. 13: In Gedanken verloren von Ludwig Knaus, 1884

Umfassendere Überblickswerke zur Geschichte der Willingshäuser Malerkolonie müssen erst noch durchgeblättert und studiert werden, um ein womöglich vollständigeres Bild geben zu können.

Abb. 14: "Das freche Mädchen" (Ausschnitt), Ludwig Knaus zugesprochen

Und abschließend auch noch ein Beispiel für das Willingshäuser Schaffen von Ludwig Emil Grimm (Abb. 15). 

Ludwig Emil Grimm (1825)

Ludwig Emil Grimm hat sehr bedeutende Werke hinterlassen neben vielen locker dahin gezeichneten Augenblicks-Eindrücken. Deshalb kann man ihn auch leicht unterschätzen.

Abb. 15: Bildnis des Johannes Dorr oder Dörr aus Willingshausen von L. E. Grimm, 1825

Das hier gebrachte Bildnis des Johannes Dörr, ebenso wie das Bildnis eines Jungen aus Obermöllrich, sowie eine "Hausecke mit Drehbrunnen in Willingshausen" sind alle im Jahr 1825 entstanden (Zeno).

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  1. Andresen, Andreas: Die deutschen Maler-Radirer, peintres-gravenrs, des neunzehnten Johrhunderts nach ihren Leben und Werken. 3. Band, Leipzig 1869 (GB)
  2. Raupp, Karl: Willingshausen - Ein Studienplatz deutscher Künstler. Beschrieben in Wort und Bild. In: Kunst für alle, Bd. 2, 1887, S. 11ff (GB
  3. Wietek, ‎Gerhard; Bellm, Richard: Deutsche Künstlerkolonien und Künstlerorte. Verlag Karl Theimig, München 1976 (GB)
  4. Naumann, Petra: Volkskultur - das Andere im Eigenen. Entwürfe ländlicher Kultur um 1900. Diss. Marburg 2009, Tectum Verlag, Marburg 2011 (GB), S. 121ff
  5. Lenman, Robin: Artists and Society in Germany 1850-1914. Manchester University Press, 1997 (GB)
  6. Wulf, Harm: Emil Beithan - Maler Schwälmer Brauchtums, 2015, http://galleria.thule-italia.com/emil-beithan/
  7. Der Schwälmer, https://youtu.be/nJhO9A_bbKg?t=156
  8. Der Schwälmer, https://www.dancilla.com/wiki/index.php/Schw%C3%A4lmer

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