Samstag, 7. Oktober 2017

"Epigenetik und die Evolution der Instinkte"

Sind Instinkte durch Punktmutationen entstanden oder durch "phänotypische Plastizität"?

Das "Plasticity first-model of evolution" löst das bisherige, darwinische "Mutation first-Modell der Evolution" ab

Phänotypische Plastizität wird von der Naturwissenschaft zunehmend stärker als das grundlegendere Prinzip der Artbildung in der Evolution in Erwägung gezogen. In der Geschichte des biologischen und naturwissenschaftsnahen Denkens ist dies schon hundert Jahre zuvor so vorgeschlagen und erörtert worden.

In einem neuen Artikel im "Science Magazine" (1) ist hinsichtlich der evolutionären Entstehung der Instinkte von einem Modell die Rede, das die (epigenetische) "Plastizität" der Handlungsabfolge (Instinkte) bei ihrer Erstentstehung in den Vordergrund stellt, dem das bisherige evolutionäre Modell gegenüber steht, das "Punktmutationen" verantwortlich machte für die Entstehung von gerne auch sehr komplexen instinktiven, angeborenen Handlungsabfolgen.

Abb. 1: Weiblicher Archaeoattacus edwardsii (Saturniidae) aus Indien
(Herkunft: Wikipedia)

"Epigenetik und die Evolution der Instinkte" (April 2017)

"Epigenetics and the evolution of instincts" ist der Aufsatz überschrieben, also "Epigenetik und die Evolution der Instinkte". Gleich einleitend heißt es, daß bis heute nur wenig darüber bekannt ist, wie Tiere ihre angeborenen Instinkte evoluiert haben. Tiere können angeborenermaßen ja oft die überraschendsten Dinge tun. Sie können lange Reihen von zum Teil recht komplizierten Handlungsabfolgen ausführen, ohne diese jemals gelernt zu haben (dazu am Ende dieses Aufsatzes noch ein Beispiel). Und dazu schreiben die Autoren nun weiter (1):

"Von Instinkten wird im allgemeinen angenommen, daß sie evolutionär ursprünglicher sind als erlerntes Verhalten."
(Original: "Instincts are widely held to be ancestral to learned behavior.")
Richtig! Man erinnert sich. So hat es - zum Beispiel - der Begründer der Verhaltenswissenschaft, Konrad Lorenz (1903-1989) in "Die Rückseite des Spiegels" dargestellt (2). Und so ist es auch in verschiedenen Überblicksdarstellungen referiert worden (3, 4). Die Autoren schreiben nun weiter über diese Instinkte (1):
"Einige Instinkte sind auf der zellulären und molekularen Ebene inzwischen elegant analysiert worden, aber allgemeine Prinzipien darüber, wie sie entstanden sind, gibt es noch nicht."
("Some have been elegantly analyzed at the cellular and molecular levels, but general principles do not exist.")

Allgemeine Prinzipien also, Einsichten darüber, wie Instinkte eigentlich auf der molekulargenetischen und Nervenzell-Ebene hervorgebracht werden, sind noch nicht formuliert worden. Jetzt, wo es so schlicht ausgesprochen wird, wo es einem in so schlichten Worten vor Augen geführt wird, wird einem das wohl überhaupt erst in vollem Umfang bewußt. Und allein ein solcher Satz erweitert den Denkhorizont bedeutend. Die Anstrengungen der traditionellen Verhaltensforschung - ausgehend von Konrad Lorenz - waren ja doch vornehmlich nur mit dem Phänotyp beschäftigt gewesen, so wird einem bewußt. Und sie nahmen die Instinkte zunächst einmal einfach als gegeben hin und haben sie nur ("deskriptiv") beschrieben.

Bei der Beschreibung ihrer evolutionären Entstehung hat man sich dann nur ganz kruder metaphorischer Bilder bedient. Konrad Lorenz vor allem - und viele in seinen Fußstapfen - bedienten sich des Bildes, daß sie sagten, daß angeborenes Verhalten von "der Art" "gelernt" worden sei über viele Millionen Jahre hinweg (eben durch Punktmutationen und anschließende Selektion) (2). Wenn wir die Aussage des vorliegenden Science-Artikels richtig verstehen, so sei hier schon eingeschoben, scheint er zunächst nicht davon auszugehen, daß der von ihm angenommene "Lernprozeß der Art" oder "Lernprozeß" bei Entstehung der Art über Punktmutationen Millionen von Jahre in Anspruch nahm. Grundsätzlich scheint er nicht auszuschließen, daß dieser "Lernprozeß" von einem Lebewesen während seiner eigenen Lebensdauer begonnen und abgeschlossen worden ist, dabei aber eben über epigenetische Mechanismen als Gedächtnis eingeprägt und - zugleich - vererbt worden ist (siehe unten). Exaktere Vorstellungen als eben formuliert, scheint es darüber noch nicht zu geben (siehe unten), denn der ganze hier formulierte Gedanke ist ja überhaupt sehr neu. Aber eine solche, eben beschriebene Möglichkeit scheint zumindest eher als die beim derzeitigen Stand angemessene Erklärung angesehen zu werden als eine andere, die viele Millionen Jahre benötigt. Aber dazu gleich noch mehr. Zunächst schreiben die Autoren weiter (1) (Hervorhebung nicht im Original):

"Gegründet auf aktueller Forschung argumentieren wir stattdessen, daß die Instinkte aus dem Lernen evoluiert sind, und daß sie deshalb von den gleichen allgemeinen Prinzipien geleitet werden, die das Lernen erklären.
("Based on recent research, we argue instead that instincts evolve from learning and are therefore served by the same general principles that explain learning.")

Das ist eine sehr auffallende Aussage. Denn was tun die Autoren denn, wenn sie das so - geradezu klassisch schlicht - formulieren?

Umsturz eines Weltbildes

Versuchen wir eine allgemeinere Einordnung. Es gibt wissenschaftliche Artikel, die - mögen sie auch noch so kurz sein (1) - durch das Aussprechen nur weniger Gedanken auf die Möglichkeit des Umsturzes eines ganzen Weltbildes hinweisen. Dazu kann es natürlich eines umfangreichen Vorlaufes bedürfen, der nach und nach das bisherige Welterklärungsmodell ausgehöhlt hat, als in sich widerspruchsvoll hat erkennen lassen und als im Widerspruch stehend zu einer Fülle inzwischen neu erkannter Tatsachen. Es könnte dazu eines Vorlaufs bedürfen, der auch schon alternative, angemessenere Erklärungsmodelle als zunehmend sinnvoll und als im Einklang mit allem weiter anwachsenden Wissen über unsere Welt und ihr Werden hat erkennen lassen. Sollte aber ein solcher Vorlauf einmal gegeben sein - von gerne einmal mehreren Jahrzehnten Forschung - dann kann es mitunter nur noch eines leichten Fingertips bedürfen und es könnte erkennbar werden die Möglichkeit, daß in näherer Zukunft ein großes, seit fast hundertfünfzig Jahren weltbeherrschendes Welterklärungsmodell krachend und geradezu unheimlich-lautlos in sich zusammen stürzen wird.

Und viele Umstehende könnten sich plötzlich des Entsetzens bewußt werden ob der Leere, die ein solches Zusammenstürzen zurück lassen würde. Aber mehr noch könnte unter den Umstehenden sich zunächst ein Entsetzen ausbreiten ob der Krudität und Groteskheit jenes geistig ziemlich "verarmt" daher kommenden Welterklärungsmodells, dessen Zusammensturz sich da gerade als Möglichkeit so deutlich abzeichnet im Licht der neuen Erkenntnisse und Fragestellungen in der Forschung. Es wird der Umstand deutlich, daß das neodarwinistische Welterklärungsmodell eine Frucht jenes materialistischen Zeitalters ist, in dem es zuerst formuliert worden ist.

Und das Entsetzen könnte um so größer sein, um so mehr sich die Umstehenden erinnern und bedenken, wie viele Millionen Menschen sich an dem bisherigen Welterklärungsmodell - bewußt oder unbewußt - orientiert hatten, wie oft selbst noch die bedeutendsten Denker des letzten Jahrhunderts im Grunde gar keine Alternative zu diesem Welterklärungsmodell für möglich hielten und für nötig erachtet hatten. Plötzlich könnte ihre womöglich geistige Armut und Phantasielosigkeit mit einem Schlag als deutliche Möglichkeit hervorschimmern aus der vorherigen Unerkennbarkeit der Dinge.

Solche Gefühle und Eindrücke können sich aufdrängen bei dem Lesen und Überdenken der wenigen, geradezu "klassisch" "eingemeißelten" Gedanken, die in diesem neuen Aufsatz des "Science Magazine" (1) enthalten sind. So könnte es einem umso eher ergehen, um so mehr man sich zuvor schon mit seit fast hundert Jahren vorliegenden alternativen Erklärungsmodellen von Seiten der naturwissenschaftsnahen Philosophie beschäftigt hat (3-7, 16). Eine Sichtweise, die hier schon Jahrzehnte lang vorlag, wird nun - ohne daß die meisten Naturwissenschaftler jemals von ihr etwas erfahren hatten - fast wortidentisch von eben dieser Naturwissenschaft übernommen.

"... daß die Instinkte aus dem Lernen evoluiert sind ..."

Die Autoren sagen mit dem oben angeführten Zitat dasselbe, was von biologischen und naturwissenschaftsnahen Denkern schon vor hundert Jahren fast wortidentisch auch gesagt worden ist. Und solche Aussagen waren bislang als so ziemlich die angreifbarsten Aussagen solcher Denker empfunden worden. Schließlich war es schlimmer, "wissenschaftsferner" "Lamarckismus". Hier auf dem Blog sollen als Beispiel für solche Aussagen im folgenden Aussagen zur Evolutionsdeutung von Seiten der Philosophie anhand denen von Mathilde Ludendorff (1877-1966) (Wiki) angeführt werden. Mit dieser Denkerin haben wir uns schon in anderen Zusammenhängen beschäftigt. Als Schülerin August Weismanns und Assistentin Emil Kraepelins hatte sie bei zwei der bedeutendsten Vertreter naturwissenschaftlichen Denkens ihrer Zeit wissenschaftlich gelernt, bzw. mit diesen zusammen gearbeitet. Ihr erster Ehemann war Biologe, sie selbst arbeitete als Psychiaterin.

Liest man heute Bücher dieser Frau, entsteht unweigerlich in einem der Gedanke, daß man sie zumindest als erste "Evolutionäre Psychologin" im deutschen Sprachraum bezeichnen sollte. Das muß auch gelten so sehr man sie um verschiedener anderweitiger politischer Ansichten willen vordergründig verdammen mag oder wenn man einfach das Urteil übernimmt, das in den "großen Medien" Jahrzehnte lang von dieser Frau gezeichnet worden ist. Das wird zum Beispiel sehr schnell deutlich, wenn man sie in ihrem schon 1919 erschienenen Buch "Erotische Wiedergeburt" eine Deutung der menschlichen - sowohl weiblichen wie männlichen - Sexualität geben sieht ausgehend von einer durchgängig evolutionären Argumentation. Selbst heutige Sexualpsychologen dürften sich da noch vieles von ihr abgucken können. (Und schon gar vor dem heutigen Wissensstand, wonach viele Verhaltensgene des Menschen in der Artenevolution sehr weit zurück verfolgt werden können.) Und eine ähnliche Bedeutung mag sie darum auch für andere Gebiete haben.

Die geistigen Gehalte der Philosophie dieser Frau wurden aufgrund der politischen Zusammenhänge, in denen sie sich bewegt hat, bis heute kaum wahrgenommen. Wie bei jedem anderen Denker auch, muß man aber nicht die politischen Einstellungen teilen, wenn man psychologische oder philosophische Einsichten für bedenkenswert hält. Insbesondere nimmt ihre Philosophie den Ausgangspunkt von der Erkenntnis August Weismanns von der Unsterblichkeit der Einzeller und der Einführung des gesetzmäßigen Alterstodes beim Übergang zur Mehrzelligkeit. Auch auf diesem Gebiet dürften ihre philosophischen Deutungen an Bedeutung nicht verloren haben. Und nun eben auch in Bezug auf eine so grundlegende Frage wie die Artbildung selbst. Sie führt aus - vor dem Hintergrund des Wissens ihrer Zeit und ihrer philosophischen Deutung, daß die Evolution auf ein Ziel hin ausgerichtet sei -, daß neue Instinkte entstehen durch das "Aufleuchten des Schöpfungszieles" im ersten Vorfahren einer neuen Art, im "genialsten seiner Artgenossen" während des von dieser Philosophie (und natürlich auch von anderen Denkern und Forschern ihrer Zeit) angenommenen "plastischen Zeitalters" (der Artbildung), ein "Aufleuchten", das - ausgelöst durch erdweite Katastrophen ("Todesnot") sich dann von diesem ersten Vorfahren, diesem ersten Vertreter einer neuen Art aus über die Generationen hinab weiter vererbt habe. Im wörtlichen Zitat (5, S. 243, zit. auch in: 6, S. 5):

Das Schöpfungsziel, das über dem Werden der Lebewesen als sinnvolles Maß an Finalität steht, flammt wie eine flüchtige göttliche Erleuchtung in dem Einzelwesen auf und erwirkt das Werden der höheren Stufe. So mangelhaft dieses Bild für einen Vorgang, der sich nicht beschreiben läßt, auch sein mag, so hilft es doch, dem Geschehen zu folgen. (...) Wir sahen, daß die Lebewesen in Todesnot in flüchtiger göttlicher Erleuchtung neue Anlagen und Abwehrinstinkte erwarben. 

Auch von der Philosophie aus wurde also ein solches "plasticity-first"-Modell der Artbildung noch sehr vage und unscharf formuliert. Aber das Prinzip, daß Plastizität und nicht Zufallsmutationen am Anfang dieses Prozesses stehen, ist hier schon klar formuliert worden, man möchte fast sagen: vorausgesagt worden.

Und in dem von uns hier behandelten neuen Artikel (1) wird nun ebenfalls diskutiert ein "plasticity first model of evolution", das dem bisherigen "mutation first model of evolution" als Alternative an die Seite gestellt wird. Man könnte sagen: Genau das ist eine der grundlegendsten Thesen und Ausgangspunkte zur Formulierung eines neuen philosophischen Gebäudes gewesen (7). Und zugleich werden damit auch die modernen Evolutionsmodelle jenseits des Neodarwinismus immer konkreter. Es geht das alles natürlich deutlich in jene Richtung, die traditioneller Weise als der böse, böse Lamarckismus verdammt worden ist. Joachim Bauer hatte 2008 in "Das kooperative Gen" diesbezüglich den damaligen Forschungsstand schon sehr eindrucksvoll dargestellt (8).

Neurologische Forschungen an Bienen, Fliegen und Nagetieren wiesen den Weg

In dem neuen Science-Artikel wird dann hingewiesen auf jene Forschungen, die dieses neue "plasticity first-model" stützen würden (1):

"Jüngste Forschungsergebnisse über Bienen und Fliegen zeigen, daß sowohl angeborene wie erlernte Antworten auf Geruchswahrnehmungen über dieselben Nerven-Schaltkreise verschaltet sind."
("Recent results from bees and flies show that both innate and learned olfactory responses are governed by the same neural circuits.")

Also angeborene und erlernte Geruchs-Antworten sind bei Bienen und Fliegen von denselben Nervenbahnen gesteuert. Wieder einmal darf man darüber erstaunt sein, daß diese Erkenntnis so ganz neu zu sein scheint nach dem Wortlaut dieses Artikels. Dabei könnte man sich doch fragen: Nanu? Darauf ist man noch nicht früher gekommen? Und vor allem auch der so kluge Konrad Lorenz sollte eine solche Möglichkeit noch gar nicht in Betracht gezogen haben? Unter einer solchen Fragestellung wären seine Gesammelten Werke noch einmal genau zu studieren. Weiter heißt es auf ähnlicher Linie (1):

"Ebenso überlappen sich bei Nagetieren die Nerven-Schaltkreise für angeborene und erlernte Reaktionen auf furchteinflößende Wahrnehmungen - und die Serotonin-Modulierung in der Amygdala bestimmt, welche Reaktion die stärkste ist."
("Similarly, in rodents, the neural circuits organizing innate and learned fear responses overlap, and serotonin modulation in the amygdala determines which response is strongest.")

Bei dieser Gelegenheit erinnert man sich daran, daß zu Zeiten von Konrad Lorenz (2) das "Schichtendenken" eine große Rolle spielte. Auf dieses wurde auch erst jüngst etwa von dem Hirnforscher Gerhard Roth in der traditionellen Weise Bezug genommen (9). Hoimar von Ditfurth hatte - von diesem Gedanken angeregt - in seinem viel gelesenen Buch "Der Geist fiel nicht vom Himmel" (1976) deshalb eine "Paläontologie der Seele" gegeben, in der er instinktives und erlerntes Verhalten quasi gehirnanatomisch getrennt voneinander angesiedelt gesehen hatte (10). Reflexketten und angeborene Instinkte waren für ihn im Stammhirn und Zwischenhirn lokalisiert, erlerntes Verhalten war für ihn im Großhirn - oder im Übergangsfeld zum Großhirn - lokalisiert. Womöglich ist dieses Bild aus heutiger Sicht also erheblich zu modifizieren, bzw. womöglich wird diesbezüglich künftig manches deutlich differenzierter zu sehen sein. Die heutigen Überlegungen regen zu umfangreichem Überdenken der ganzen gehirnanatomischen Situation an.

Sind Instinkte "Erinnerungen des Urahnen" ("ancestral memory")?

Beziehungsweise: Die Frage stellt sich vor diesem Hintergrund ganz neu: Wie konnte aus dem streng Instinkt-gebundenen Verhalten ursprünglicherer Tierformen allmählich eine größere Bandbreite individuell erlernbaren und damit fehlerbehafteten Lernens entstehen? Wie konnten beide Ebenen nebeneinander her bestehen (ohne sich - sozusagen - "in die Quere" zu kommen)? Es wird spannend sein, diesbezüglich die Erkenntnisse der nächsten Jahre zu verfolgen.

Die Autoren zitieren auch den Aufsatz "Birds, behavior, and anatomical evolution" des früh verstorbenen Evolutionsforschers und Genetikers Alan C. Wilson von 1983, in dem viele Zusammenhänge - zumindest vom Prinzip her - schon in ähnlicher Weise umrissen worden waren. Der Autor Hermin Leupold wies schon Anfang der 1990er Jahre in Vorträgen darauf hin, daß sich gerade auch in den Ergebnissen der Zugvogel-Forschung (wie sie etwa an der Vogelwarte Radolfzell und andernorts betrieben wird) andeutet, daß beschleunigte Evolution möglich wird durch eine Kombination von Genetik und Epigenetik und daß genau das bei der oft überraschend schnellen populationsweiten Änderung des Verhaltens von Zugvögeln eine Rolle zu spielen scheint.

Die "Science"-Autoren weisen darauf hin, daß es schon lange Hinweise darauf gibt, daß streßbedingte Änderungen von Ablesezuständen der Gene an die nächste Generation weiter gegeben werden können. Sie machen sich dann im weiteren die folgenden Gedanken (1):

 Man betrachte die Frage der Entstehung eines Instinktes im Lichte dessen, was wir über die Entstehung von Gedächtnis wissen. Lernen hängt mit der erfahrungsabhängigen Verstärkung bestimmter Synapsen zusammen. Wenn Lernen definiert wird durch das Schlagwort "what fires together, wires together" -

- hierbei handelt es sich um eine Kurzfassung der sogenannten "Hebbsche Lernregel" (Wiki), die besagt, daß je häufiger ein Neuron A gleichzeitig mit Neuron B aktiv ist, umso bevorzugter die beiden Neuronen aufeinander reagieren werden -
wie werden Instinkte dann während der Entwicklung verschaltet bei Abwesenheit von erfahrungsabhängiger neuronaler Signalweiterleitung?

Das gemeinsame Reagieren von Nervenbahnen muß also schon - irgendwie - in den Genen, bzw. in der genomischen Prägung (Epigenetik) verschaltet sein. Die Autoren (1):

Im Fall des menschlichen Sprechens und Hörens wird die neuronale Entwicklung durch  die Erfahrung im Uterus bestimmt. Könnten epigenetische Mechanismen, die Änderungen in der Genablesung in Bezug auf langfristige Erinnerungen regulieren, eine ähnliche Rolle spielen während jener Entwicklung, die zur Formung von Instinkten führt?"    
("Consider the question of the formation of an instinct in light of what we know about the formation of a memory. Learning involves experience-dependent strengthening of specific synapses. If learning is defined by the notion that neurons that 'fire together, wire together', how do instincts get wired during development in the absence of experience-dependent neuronal firing? In the case of human speech and hearing, neural development is shaped by experience in utero. Could epigenetic mechanisms that regulate changes in gene expression related to long-term memories play similar roles during development to form instincts?")

Man spürt förmlich, wie dicht sich mit solchen Erörterungen und Fragestellungen einerseits die aktuelle Forschung an das annähert, was Mathilde Ludendorff vor fast hundert Jahren erörtert hat. Und man spürt andererseits, welche Fülle von weiteren Fragen sich aus dieser neuen, grundlegenden Richtungsänderung in den Fragestellungen ergeben. Der abschließende Satz des "Science"-Artikels nähert sich im Wortlaut am dichtesten an Formulierungen an, wie sie schon vor fast hundert Jahren von der Philosophie verwendet worden sind. Er lautet (1):

Wenn man einen Instinkt als das "ererbte Gedächtnis'" an eine bestimmte Antwort auf die Umwelt betrachtet, könnte das hilfreich sein dabei, die physikalischen Grundlagen des Gedächtnisses zu verstehen."     
("Considering an instinct as an "ancestral memory" of a specific response to the environment may help to guide efforts to understand the physical basis of memory.")

Also sie meinen: Wenn man den Instinkt als eine "Erinnerung des Urahnen" oder als "Erinnerung der Vorfahren" betrachtet (wie "ancestral memory" auch übersetzt werden könnte) - und genau so ist dsa ja schon vor hundert Jahren getan worden (siehe oben) -, nämlich als eine Erinnerung an eine spezifische Antwort auf Umwelt-Herausforderungen, dann könnte das, so die Autoren, auch bei der wissenschaftlichen Bemühung helfen, die physische Grundlage des (menschlichen und tierlichen) Gedächtnisses überhaupt zu verstehen. Da eben auch diese - erstaunlicherweise! - noch kaum verstanden ist.

Aber es wird auch sofort deutlich, daß hier nicht nur die Frage nach dem evolutionären Entstehen der Instinkte im Raum steht. Gemeinsam mit den Instinkten sind ja bekanntlich auch alle sonstigen Körpermerkmale evoluiert. Es steht also noch viel mehr im Raum wenn es um ein "plasticity-first"-Modell der Evolution geht. Und das alles wird auch in der Forschungsliteratur gegenwärtig schon sehr breit erörtert (11).

Aussagen zur Evolutionsdeutung, die schon vor hundert Jahren getätigt wurden, erscheinen in neuem Licht

Dieser "Science"-Artikel möchte seiner Intention, seiner Absicht nach zunächst einmal nur neue Perspektiven für die neurologische Forschung an Insekten und anderen Tieren aufzeigen. Für uns bedeutet dieser Artikel aber mehr. Er wirft uns geradezu um durch die Eindeutigkeit, aufgrund deren man nun geradezu gezwungen ist, schon sehr früh von der Philosophie gegebene Deutungen ernst zu nehmen. Es wird selbst solchen Menschen, die schon bereit sind, solche Deutungen insgesamt einigermaßen ernst zu nehmen, so ergehen wie dem Autor dieser Zeilen, nämlich daß man geradezu schockiert darüber ist, wie wenig ernst man viele der Deutungen und Ausführungen bislang genommen hatte. Man hat sie für sehr "vage" Beschreibungen erachtet und deshalb auch nicht als sehr wichtige erachtet bezüglich dessen, wie es bei der Artbildung zugegangen sein könnte.

Mit diesem kleinen "Science"-Aufsatz fällt man tief in eine Einsicht hinein, in vielfältige Einsichten dahingehend, wie sehr Ausführungen früherer Denker - wie etwa denjenigen von Mathilde Ludendorff - ernst und gerne auch wörtlich zu nehmen sein könnten. Solche Ausführungen sind vor dem neuen Hintergrund ganz neu zu sichten. Zum ersten mal stellt sich die Frage: Was wurde von solchen Denkern denn eigentlich konkret zu der Thematik gesagt? Und was haben Forscher, die solche Aussagen ernst nahmen dazu konkret gesagt? Hier ist ein neues Lesen angesagt, ein Lesen, das mit einem deutlich vergrößerten Verständnis des Gelesenen einher gehen kann.

Das, was in solchen früheren philosophischen Entwürfen (wie denjenigen von Mathilde Ludendorff) ausgeführt wurde, erweist sich einmal mehr keineswegs nur als "irgend welche" Theorien. Womöglich sogar als Theorien, die sehr arg in Widerspruch stehen könnte zu zentralen Aussagen der modernen Evolutionstheorie. Im Gegenteil: Die Möglichkeit steht im Raum, daß solche Aussagen auch in dieser zentralen Frage - nämlich der Mechanismen der Artbildung in der Evolution - der Naturwissenschaft über Jahrzehnte voraus waren. Daß sie auch in vielen anderen Bereichen der Naturwissenschaft voraus waren, ist andernorts schon dargestellt worden (z. B.: 3, 4), bzw. drängt sich das dem Kenntnisreichen oft ja geradezu auf.

Es wird auch deutlicher als jemals: So wie Naturwissenschaft und Philosophie (z. B. Schopenhauer) seit Jahrzehnten und Jahrhunderten gearbeitet haben, nämlich von der menschlichen Selbsterfahrung aus auf tierliches Leben zu schließen, ja, auf Evolution insgesamt, genau so könnte es auch jetzt wieder hilfreich werden, dies bei der Klärung der neu aufgeworfenen Fragen zu bedenken. Denn was Lernen ist, was Plastizität im Verhalten bedeutet - wer sollte davon mehr wissen als der Mensch? Bzw. wo sollte das anschaulicher erforscht werden können als beim Menschen selbst? Der Mensch könnte also - mit diesen neu aufgeworfenen Fragestellungen - wieder vermehrt von sich auf Tiere, bzw. auf Evolution schließen. Und genau so war ja auch das Vorgehen früherer Denker auf diesem Gebiet recht häufig. Sie sprachen sich selbst und genialen Menschen aller Zeitalter "Intuitionen", "intuitives Erkennen" zu, das sie - in einer vagen Analogie - auch den genialsten Vertretern einer Art zusprachen bei der Artbildung.

Daß aber das Prinzip des Schießens von menschlicher Erfahrung auf tierliche Erfahrung allerhand Schwierigkeiten haben kann bezüglich der Anerkennung in der Wissenschaft, davon kann man sich in der Biographie etwa der Verhaltensforscherin Jane Goodall ein anschauliches Bild verschaffen. Sie sprach Schimpansen ähnliche Gefühle zu wie sie sie selbst als Mensch hatte - und wurde fast von einer ganzen Forschergeneration anfangs als "unwissenschaftlich" herabgestuft

Gab es Intelligenz schon, bevor es Großhirne gab?

Was aber hier alles zu erklären ist, soll noch einmal an einem konkreten Beispiel erläutert werden, das im Jahr 1981 der deutsche Sachbuchautor Hoimar von Ditfurth (1921-1989) in der Einleitung Anfang seines Buches "Im Anfang war der Wasserstoff" bekannt gemacht hat (12). Mit einer sehr ausführlichen Beschreibung des Tarnverhaltens der Raupe des Schmetterlings Attacus edwardsii (Wiki) (englisch "Edwards Atlas Moth" genannt) machte er dieses Beispiel recht populär (s. Abb. 1). Man findet heute im Internet manche, die sich auf dasselbe berufen (12).

Dieser Schmetterling ist in Indien und Südostasien in feuchten Gebieten verbreitet und gehört zu den größten Schmetterlingen der Welt. Hoimar von Ditfurth entnahm sein Wissen zu ihm dem Buch "Mimicry" (13) von Wolfgang Wickler, eines Schülers von Konrad Lorenz.

Kurz gefaßt tarnt die Raupe dieses Schmetterlings ihr Verpuppungsstadium - ganz angeborenermaßen - dadurch, daß sie ein Blatt abbeißt und es mit Spinnfäden erneut anhängt und sich dann an dieses Blatt anheftet. Das Blatt verwelkt und umhüllt damit die Puppe, die so "versteckt" ist. Schon das Abbeißen des Blattes und erneute Anhängen stellt einen erstaunlichen Vorgang dar. Noch überraschender ist aber, daß diese Raupe zugleich auch noch mehrere andere Blätter abbeißt und wieder anhängt, die dann ebenfalls verwelken. Dies hat einen großen Vorteil. Ein Vogel als Freßfeind wird selbst wenn er nun verwelkte Blätter als Nahrungsquelle untersuchen würde, bald wieder davon ablassen, da er mit größerer Wahrscheinlichkeit leere als ein volles Blatt vorfinden wird.

Wie aber kann die Raupe auf einen so genialen Einfall der Tarnung kommen, auf den noch nicht einmal der menschliche Leser kommen würde, so fragte Hoimar von Ditfurth. Insgesamt will Hoimar von Ditfurth auch mit diesem Beispiel herausarbeiten, was so unzählige Beispiele von Mimicry so eindrucksvoll belegen, nämlich daß Intelligenz in dieser Welt schon vorhanden war, bevor bewußte Intelligenz in Form des Menschen evoluiert ist, ja, daß es dazu noch nicht einmal eines Großhirnes bedurfte (12, S. 16):

In Wirklichkeit verfügen wir, wie es scheint, nur deshalb über Bewußtsein und Intelligenz, weil die Möglichkeiten von Bewußtsein und Intelligenz in dieser Welt von Anfang an angelegt waren und nachweisbar sind.   

Und die zutiefst philosophische Aussage, daß Intelligenz schon in der Welt ist, bevor der Mensch als bewußtes Lebenwesen sie als solche wahrnehmen kann, weiter zu erläutern und zu veranschaulichen, ist dann das Anliegen des gesamten genannten Buches von Hoimar von Ditfurth. Es war das aber natürlich auch schon der Grundgedanke von naturwissenschaftsnahen Philosophien früherer Denker.

Und auch mit beiden stellt sich weiterhin die bis heute ganz ungeklärte Frage, wie außerordentlich überraschend intelligentes Verhalten von Tieren aufgezeigt werden kann, die noch nicht einmal ein auffallend komplexes Nervensystem haben. Woher stammt hier die Fähigkeit zum "Lernen", zur "Intuition"? Diese Frage ist bis heute von der Wissenschaft noch ganz ungeklärt. Sie sagte ja bislang so ganz langweilig, daß die Zufallsschritte genetischer Punktmutationen zu Veränderungen im angeborenen Verhalten der Tiere führten, die dann aufgrund der Selektion in ihrer Umwelt sich erhalten haben über Nachkommenschaft oder die aufgrund von mangelnder Lebenstauglichkeit ausgestorben sind. Dies ist grob zusammen gefaßt die Lehre des Neodarwinismus. Richard Dawkins hat sich - zum Beispiel in seinem Buch "Gipfel des Unwahrscheinlichen" - viel Mühe gegeben nachzuweisen, daß aus vielen solcher Zufallsschritte dennoch evolutionär etwas Sinnvolles entstehen kann und würden wir es auch als den "Gipfel des Unwahrscheinlichen" ansehen. So richtig daran geglaubt haben wird er wohl selbst niemals.

Aber wie kann eigentlich so überraschend intelligentes Verhalten von überraschend einfach strukturierten Tieren in der Evolution hervorgebracht werden? Auch das genannte evolutionäre Modell, das auf Deutsch etwa "Phänotypische Veränderbarkeit zuerst" genannt werden könnte, hat hier noch sehr, sehr viel zu klären.

Aber alles deutet darauf hin, daß die Erklärung von früheren, lange vernachlässigten Denkern zur Artbildung in der Evolution den tatsächlichen Sachverhalten wesentlich näher gekommen sein kann als alle Erklärungen des so lange Zeit allein in den Vordergrund gestellten Charles Darwin und all seinen unkritischen Nachfolgern. 

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  1. Robinson, Gene E.; Barron, Andrew B.: Epigenetics and the evolution of instincts. In: Science Mag., 7. April 2017, http://science.sciencemag.org/content/356/6333/26
  2. Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. 1973
  3. Leupold, Hermin: Wie sind die menschlichen Denk- und Erlebnisfähigkeiten zustande gekommen? Die evolutionäre Entstehung der angeborenen Formen menschlicher Erfahrung. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 72, März 1991, S. 1-11
  4. Leupold, Hermin: Der wesentliche Schritt von Tier zum Menschen. Eine philosophische Psychologie. Erster Beitrag einer Aufsatzreihe zum Rahmenthema "Die stammesgeschichtliche Entstehung des Menschen aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie". In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 89, Januar 1994, S. 1-11 
  5. Ludendorff, Mathilde: Wunder der Biologie im Lichte der Gotterkenntnis meiner Werke. 1. Band. Stuttgart: Hohe Warte, Pähl 1950
  6. Leupold, Hermin: Die stammesgeschichtliche Höherentwicklung der Lebewesen. Widersprüche zwischen naturwissenschaftlicher und philosophischer Erklärung der transspezifischen Evolution? In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 82, November 1992, S. 1-7
  7. Ludendorff, Mathilde: Triumph des Unsterblichkeitwillens. Verlag Hohe Warte, Pähl 1959 (Erstauflage 1921)
  8. Bauer, Joachim: Das kooperative Gen. 2008
  9. Roth, Gerhard: Wie das Gehirn die Seele macht.
  10. Ditfuth, Hoimar von: Der Geist fiel nicht vom Himmel. Die Evolution unseres Bewußtseins. 1976
  11. Levis, Nicholas A.; Pfennig, David W.: Evaluating ‘Plasticity-First’ Evolution in Nature - Key Criteria and Empirical Approaches. Trends in Ecology & Evolution 31(7) · April 2016, http://www.cell.com/trends/ecology-evolution/fulltext/S0169-5347(16)00091-4
  12. Ditfurth, Hoimar: Im Anfang war der Wasserstoff. 1972, https://www.dtv.de/_files_media/title_pdf/leseprobe-33015.pdf, https://machtderpolitentscheidung.files.wordpress.com/2014se/01/ditfurth_hoimar_von-im_anfang_war_der_wasserstoff.pdf (Martin Kriele 2007Esoterikforum 2012, (Heise 2016)
  13. Wickler, Wolfgang: Mimikry. Nachahmung und Täuschung in der Natur. Kinder-Verlag, München 1968 und viele Folgeauflagen bis 2002
  14. Brownrigg, Doug: Rearing the Edwards Atlas Moth. 2014, https://www.youtube.com/watch?v=2bTJWyyCtn0 (ab Minute 6)
  15. Grochowalski, Adam: Attacus atlas moth development. https://www.youtube.com/watch?v=7KOPIqv1xy4
  16. Ludendorff, Mathilde: Schöpfungsgeschichte. Verlag Hohe Warte, Pähl 1954 (Erstauflage 1923)
  17. Wikipedia-Artikel "Phenotypic plasticity, https://en.wikipedia.org/wiki/Phenotypic_plasticity

Sonntag, 10. September 2017

Die intelligentesten Arten einer Tiergruppe weisen die intensivste Paarbindung auf

Konrad Lorenz, der Forscher und Mahner, in wenig bekannten Film- und Tondokumenten

Im Jahr 1972 hielt der Begründer der Verhaltenswissenschaft Konrad Lorenz (1903-1989) (Wiki) in Göttingen einen Vortrag mit einem Titel ("Soziale Bindungen und die in ihrem Dienste ritualisierten Verhaltensweisen"), der nicht unbedingt gleich deutlich werden läßt, mit welchen grundlegenden Dingen er in diesem Vortrag befaßt war (5): Soweit uns das übersehbar ist, äußerte er in diesem Vortrag mehrere bedeutsame Erkenntnisse, die in Schriftform so von ihm niemals veröffentlicht worden sind. Sie stellen aber mehr oder weniger "Intuitionen" dar, die oft erst Jahrzehnte später - sprich erst vor wenigen Jahren - ihre außerordentlich überraschende wissenschaftliche "Verifikation" erlangt haben, also den gültigeren, allgemeinen Nachweis, daß - und wie sehr - diese seine Intuitionen der Wirklichkeit entsprechen.




Zu diesen Intuitionen, die er aus den verschiedensten Verhaltensbeobachtungen während seines langen Lebens gewonnen hat, und die er durch den ganzen Vortrag hindurch breit referiert, gehört insbesondere auch jene, daß Konrad Lorenz an einer Stelle im Vortrag sagt, daß die intelligentesten Arten einer Gruppe von Fischen oder Entenvögeln oder Hühnervögeln auch die intensivste Paarbindung haben, daß es also zwischen Paarbindung und Intelligenzevolution auf sehr grundlegender Ebene einen Zusammenhang gibt. Er behandelt also lang und breit die unterschiedlichsten Erscheinungen, die mit der Paarbindung bei unterschiedlichsten Tierarten verbunden sind und sagt dann (5, 21.38'ff):
Es ist also ganz sicher so, daß die Bindung auf individuellen Kommunikationen beruht, die also individuell verschieden sein müssen. Es setzt also die individuelle Bindung immer schon eine gewisse Lernfähigkeit, eine hohe Lernfähigkeit auf dem Gebiete der Gestaltwahrnehmung und auch sonst voraus. Damit stimmt eine sehr interessante Korrelation, daß nämlich innerhalb einer Tiergruppe seien es die Fische oder die Entenvögel oder die Hühnervögel immer gerade die Klügsten, die Lernfähigsten diejenigen sind, bei denen die besten Paarbindungen stattfinden.
Konrad Lorenz gibt viele gute Beispiele für den Hintergrund und die Konsequenzen dieses Zusammenhangs. Er kommt später auch auf aggressives Verhalten und Rangordnungs-Verhalten zu sprechen. Und am Ende spricht er sogar über menschliche Gruppen und die individuellen Freundschaften, auf die sie aufgebaut sind. Nämlich ab Minute 47.53', wo er zusammen faßt (5):
Also Bindungen, persönliche Bindungen sind die Basis alles fruchtbaren Zusammenhaltens von kleinen menschlichen Gruppen.
Und dann kommt er auf jene seiner Intuitionen zu sprechen, die den Menschen als Gruppenwesen betreffen. Hier äußert er schon im Jahr 1972 viele Gedanken, die ebenfalls erst in den letzten Jahrzehnten (ebenfalls nicht zuletzt durch die Forschungen des britischen Anthropologen Robin Dunbar) vielfältige Bestätigung, Ergänzung und Erweiterung erfahren haben innerhalb der naturwissenschaftlichen Forschung, etwa insbesondere im Bereich der Social Brain-Theorien. (Das im einzelnen nachzuweisen, soll an dieser Stelle vorerst nicht geleistet werden.)

Der erstgenannte außerordentlich bedeutsame Gedanke wurde erst vor zehn Jahren - 2007 - von dem britischen Anthropologen Robin Dunbar und seinen Mitarbeitern anhand von statistischen Artvergleichen verifiziert - und zwar von diesen im Grunde ganz unbeabsichtigt. Darüber ist an anderer Stelle von uns schon 2007 berichtet worden (6, 7). Und ein Jahr später wurde in einer anderen Studie auch die Evolution von Altruismus mit Paarbindung in Verbindung gebracht (8). Schließlich haben neun Jahre später auch andere Wissenschaftler diesen Stab aufgenommen und gehen diesen Gedanken in allgemeinerer Weise nach (9, 10). Konrad Lorenz wäre von diesen Forschungen, daran dürfte wohl kein Zweifel bestehen, sehr angetan.

Vor zwei Jahren nun hatten wir das eingangs erwähnte Video von Konrad Lorenz entdeckt (an einer Stelle, wo es zwischenzeitlich wieder aus dem Netz genommen ist). Und wir wiesen Robin Dunbar auf die Inhalte dieses deutschsprachigen Vortrages von Konrad Lorenz hin. Robin Dunbar antwortete:
Oh, that is VERY neat! Thanks VERY much for sending me this. You see, science consists in simply rediscovering what the great minds of the past already knew…..
Zu Deutsch also:
Oh, das ist wirklich großartig! VIELEN Dank, daß Sie mir das gesendet haben. Sie sehen, Wissenschaft eigentlich nur darin, das wieder zu entdecken, was die großen Köpfe der Vergangenheit schon lange gewußt haben.
Dieser Kennzeichnung ist nichts hinzuzufügen. Er könnte womöglich auch insgesamt auf die Bedeutung von Film- und Tondokumenten von Konrad Lorenz hinweisen, was die Aufgabe dieses Beitrages sein soll.

Die beiden Langspielplatten "Umweltgewissen" von 1989


Das Leben und Lebenswerk des Verhaltensforschers, Philosophen und Naturbewahrers Konrad Lorenz (1903-1989) (Wiki) ist der Leserschaft der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" in verschiedenen Beiträgen aus tiefer Begeisterung heraus dargestellt worden (1, 2). Wer diese Beiträge auf sich hat wirken lassen, dem sollte das Bewußtsein von der großen Bedeutung des Lebenswerkes von Konrad Lorenz für die Geistesgeschichte der Menschheit nicht mehr abhanden kommen können.




Insbesondere als Begründer der Evolutionären Erkenntnistheorie hat Konrad Lorenz grundlegendste Beiträge zu unserem heutigen, modernen Weltbild geleistet. Aus dem reichen Erkenntnissen seines Forscherlebens heraus wurde Konrad Lorenz in seinen letzten Lebensjahrzehnten zusätzlich aber auch noch zu einem der bekanntesten Gesellschaftskritiker seiner Zeit. Fast möchte man sagen, daß es schon zu seiner Zeit keinen authentischeren, thematisch breit aufgestellten und allgemein bekannten Gesellschaftskritiker gegeben hat als Konrad Lorenz. Und das mag auch noch für unsere heutige Zeit gelten.

Freilich gibt es andere Gesellschaftskritiker. Viele gibt es. Aber viel zu oft ist das, was sie vertreten, "durchstilisiert" entlang bestimmter "gruppenevolutionärer Strategien". Man spürt viel zu oft die Absicht, ist verstimmt und legt die Mahnungen unwirsch beiseite. Dies kann einem bei Konrad Lorenz nicht passieren. Hier spricht ein freier Mensch, nur sich selbst, der Wahrheit und der Kultur, der er angehört, verantwortlich.

Nun aber soll der vorliegende Beitrag dazu dienen, die genannten Beiträgen in der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" dadurch zu ergänzen, daß auf die vielfältigen, inzwischen bekannt und leicht zugänglich gewordenen Ton- und Filmdokumente von und mit Konrad Lorenz aufmerksam gemacht wird. Diese sind womöglich noch eindrucksvoller als jede schriftliche Übermittlung und jede Übermittlung über Bildbände. Sie geben einen Eindruck von dem tiefen Ernst im Denken, Leben und Handeln von Konrad Lorenz (3).

Der Autor dieser Zielen stieß erst vor wenigen Wochen auf eine frühere, größere Zusammenstellung von Hördokumenten von Konrad Lorenz, die schon 1989 unter dem Titel "Umweltgewissen" auf zwei Langspielplatten (bzw. Hörkassetten) veröffentlicht worden sind (3). Dabei können diese Hördokumente - laut Angabe - schon seit 2012 auf Youtube frei verfügbar angehört werden*). Auch weil man bei bloßen Hördokumenten nicht abgelenkt wird von Seh-Eindrücken, mögen solche Tondokumente manchmal noch eindrucksvoller in ihrer Wirkung sein als Filmaufnahmen von und mit Konrad Lorenz (die inzwischen ja auch reichlich verfügbar sind [4]).

Man kann Reden und Vorträge, in denen Konrad Lorenz weniger als Wissenschaftler denn als Mahner spricht (3), nicht anhören, ohne selbst von dem tiefen Ernst ergriffen zu werden, in dem Konrad Lorenz seine Gedanken vorträgt. Und somit ist über sie sicherlich noch ein direkterer, unmittelbarerer Eindruck vom Menschen und Menschheitswarner Konrad Lorenz möglich  geworden als über andere Formen der Mitteilung. Dies womöglich gerade auch für die Jugend, der es heute mitunter schwerer als früher zu fallen scheint, sich an ernsthaftere, populärwissenschaftliche Literatur in Bücherschränken und Buchhandlungen heranzuwagen.

Auf den beiden Schallplatten "Umweltgewissen" finden sich zum Beispiel auch viele Kerngedanken von Konrad Lorenz angesprochen, und zwar oft auch ganz neu oder anders formuliert als man es von anderen Quellen her kannte. So spricht Konrad Lorenz auf diesen etwa über die "Sinnentleerung der Welt" (3) (im dritten Video). Er äußert Gedanken, wie dieser Sinnentleerung entgegen gesteuert werden kann. Diese Gedanken stehen in voller Übereinstimmung mit den Anliegen des vorliegenden Blogs und mit denen der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule". Und so findet man noch viele andere überraschende Gedanken und Handlungen auf diesen beiden Langspielplatten, von denen andernorts (vor allem in Büchern) noch nichts zu hören war.

Diese beiden Langspielplatten aus dem Jahr 1989 sind aber nun - und auch das überraschenderweise - gar nicht einmal die einzigen Tondokumente, die von Konrad Lorenz überliefert sind und inzwischen frei verfügbar geworden sind. Auf der Internetseite von "Konrad Lorenz Haus Altenberg" findet sich eine Zusammenstellung aller frei verfügbaren Tondokumente und Filme von und über Konrad Lorenz, die womöglich regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht wird. Und indem man auf diese Internetseite stößt, stößt man auf einen unglaublich reichen Schatz (4). Auf dieser Seite finden sich auch zahlreiche ausführliche Radio-Interviews mit Konrad Lorenz, sowie Ansprachen anläßlich von Preisverleihungen.


/Überarbeitet und ergänzt: 
26.9.2017, 4.5.2020/

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*) Es erscheint einem hier nicht zum ersten mal merkwürdig, wie lang bestimmte, wertvolle Video's auf Youtube veröffentlicht sind, ohne daß man jemals auf sie gestoßen ist. (In diesem Fall fünf Jahre lang!) Ob es hier bewußte Manipulationen der Suchalgorithmen gibt, die verhindern, daß man solche früher entdeckt, stehe dahin. (Solche Manipulationen sind ja inzwischen von der Firma Google gut bezeugt.) Jedenfalls wundert sich der Autor dieser Zeilen, der in den letzten Jahren gewiß häufiger nach neuen Video's von und über Konrad Lorenz gesucht hat, daß ihm die Hördokumente, auf die in diesem Beitrag hingewiesen wird, bislang entgangen sind - obwohl sie doch schon im Jahr 2012 veröffentlicht worden sind. (Oder sind wir in früheren Jahren über sie hinweg gegangen, da es sich "nur" um Hördokumente gehandelt hat? Das soll an dieser Stelle nicht völlig ausgeschlossen sein.)
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  1. Schäfler, Wilhelm: Tierfreund, Erforscher tierischen und menschlichen Verhaltens, Philosoph und Naturbewahrer. Leben und Werk von Konrad Lorenz. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 63, September 1989, S. 1-12
  2. Leupold, Hermin: Wie sind die menschlichen Denk- und Erlebnisfähigkeiten zustandegekommen? Die evolutionäre Entstehung der angeborenen Formen menschlicher Erfahrung. In: In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 72, März 1991, S. 1-11
  3. Lorenz, Konrad: Umweltgewissen. Ein Hörbild mit Stimmdokumenten aus zwei Jahrzehnten begleitet von Bernd Lötsch. 2 Langspielplatten, CBS Schallplatten GesmbH, Wien 1989, https://www.youtube.com/watch?v=Nk8h8etRmjs&t=1s, https://www.youtube.com/watch?v=w_7NBsRYSd4&t=66s, https://www.youtube.com/watch?v=6_-p_Gg-UUc, https://www.youtube.com/watch?v=LSP13I5_osk, https://www.youtube.com/watch?v=6GwhGanh15s, https://www.youtube.com/watch?v=fB9alMDQJ4o; (s.a. Discogs)
  4. Filme und Audiodokumente über Konrad Lorenz. Konrad Lorenz Haus Altenberg, http://klha.at/kl_filme.html [10.9.2017] 
  5. Lorenz, Konrad: Soziale Bindungen und die in ihrem Dienste ritualisierten Verhaltensweisen. Vortrag anläßlich der Tagung Encyclopaedia Cinematographica, Göttingen 3. Oktober 1972, Film des Instituts für den wissenschaftlichen Film, https://youtu.be/QdnhQV2JyiU, https://youtu.be/Po22rgYOXRw.
  6. Bading, Ingo: Ist die monogame Bindung der Kern aller Intelligenz-Evolution auf der Erde? Die sensationellen neuen Thesen des britischen Anthropologen Robin Dunbar. Auf: Studium generale, 31. August 2008 (zuerst 15.11.2007), http://studgendeutsch.blogspot.de/2008/08/ist-die-monogame-bindung-der-kern-aller.html
  7. Bading, Ingo: Das menschliche Gehirn ist evoluiert, "um zu lieben". Auf: Studium generale, 16. November 2007, http://studgendeutsch.blogspot.de/2007/11/das-menschliche-gehirn-ist-evoluiert-um.html
  8. Bading, Ingo: Stand die monogame Lebensweise an der stammesgeschichtlichen Wurzel allen komplex-sozialen Lebens auf der Erde? Auf: Studium generale, 31. August 2008, http://studgendeutsch.blogspot.de/2008/08/stand-die-monogame-lebensweise-der.html
  9. Jacqueline R. Dillard: Disentangling the Correlated Evolution of Monogamy and Cooperation. In: Trends in Ecology & Evolution 31(7), May 2016, https://www.researchgate.net/publication/301829279_Disentangling_the_Correlated_Evolution_of_Monogamy_and_Cooperation 
  10. Jacqueline R. Dillard and David F. Westneat: Monogamy and Cooperation Are Connected Through Multiple Links - Why does cooperation evolve most often in monogamous animals. In: The Scientist, 1. August 2016, http://www.the-scientist.com/?articles.view/articleNo/46608/title/Opinion--Monogamy-and-Cooperation-Are-Connected-Through-Multiple-Links/

Samstag, 2. September 2017

"Ich glaube, daß man durch den Tod gezwungen wird, sinnvoll zu leben"

Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer äußert Grundgedanken der Philosophie von Mathilde Ludendorff und beklagt, daß ein entsprechender "philosophischer, konzeptioneller Überbau nicht propagiert" wird.

In einem Interview mit dem 70-jährigen Konstanzer Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (geb. 1947) (Wiki), das Anfang Januar dieses Jahres 2017 veröffentlicht worden ist (1), äußert sich dieser zu sehr grundlegenden Fragen nach dem Sinn des Todesmuß des Lebens und nach dem Sinn des Lebens. Viele seiner Gedanken stehen in hundertprozentiger Übereinstimmung mit der Philosophie von Mathilde Ludendorff (1877-1966) (Wiki). Aber ihren Namen nennt er an keiner einzigen Stelle. Dieses Interview soll im folgenden etwas gründlicher erörtert werden.

Gleich am Anfang des Interviews erörtert Ernst Peter Fischer den Gedanken:

"Der Tod ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden." 

Leider ist dieser Satz schon aus rein naturwissenschaftlicher Sicht nicht ganz richtig. Auch bei den weiteren Ausführungen sind leider manche gedanklichen Unschärfen bei der Mitteilung des naturwissenschaftlichen Forschungsstandes festzustellen. Aber man kann die Gedanken, die Fischer äußern will, ja hier noch einmal gedanklich etwas präziser fassen. Denn es ist klar, was er sagen will. Er spricht über die Einführung des gesetzmäßigen Alterstodes in der Evolution beim Übergang des Lebens vom Einzeller zum Vielzeller.

Die Einführung des gesetzmäßigen Alterstodes in der Evolution

Er vergißt zu erwähnen, daß Einzeller zwar nicht unbedingt einen gesetzmäßigen Alterstod kennen, daß aber Tod sehr wohl Teil ihres Leben ist und daß es den Tod sehr wohl seit der Zeit gibt, seit der es Leben gibt. Denn Einzeller können den Unfalltod sterben. Und sie sterben ihn in der Regel auch. Nur das "Todesmuß", der gesetzmäßige Alterstod, ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden. Das ist der Kerngedanke, den Ernst Peter Fischer hier zum Ausdruck bringen will.

Und das ist sehr wertvoll, daß er das tut. Dieser Kerngedanke stammt von dem berühmten deutschen Evolutionsforscher August Weismann. Und er ist zugleich der Ausgangspunkt der naturwissenschaftsnahen Philosophie seiner Schülerin Mathilde Ludendorff. Diese Philosophie ist ab dem Jahr 1921 nieder gelegt worden. Würde sich Ernst Peter Fischer auf diese Philosophie beziehen, würde es ihm wohl nicht so schwer fallen, seine Gedanken präziser zu fassen. Das Nichterwähnen dieser Philosophie wenn solche naturwissenschaftlichen im Zusammenhang mit philosophischen Fragen angesprochen werden, kann man heute kaum noch für intellektuell redlich halten.

Denn die philosophische Deutung der evolutionären Einführung des Alterstodes durch Mathilde Ludendorff steht sehr einzigartig da in der Philosophie-Geschichte. Dem Autor dieser Zeilen ist kaum eine Alternative zu dieser sehr grundlegenden philosophischen Deutung bekannt geworden. Diese philosophische Deutung schließt aber zugleich unmittelbar an auch noch an den heutigen Forschungsstand in der Naturwissenschaft, also jenen, auf den sich - unscharf - Ernst Peter Fischer in diesem Interview bezieht. Also darf man Mathilde Ludendorff nicht mit Schweigen übergehen. Denn welcher Gedanke ist naheliegender als ihrer, nämlich daß der materielle Unsterblichkeitswille der lebenden Zellen, der sich in ihrer Tendenz zur Zellteilung und Zellvermehrung Ausdruck verschafft, im Verlauf der Evolution und dann im Verlauf der Kulturgeschichte der Menschheit sich "vergeistigt" hat zu einem Unsterblichkeitwillen bewußter, mit einem Großhirn ausgestatteter Lebewesen? Zum menschlichen Willen, wie Ernst Peter Fischer es ausdrückt, auch bezüglich des Lebensendes "Grenzen überschreiten" zu wollen.

Krebszellen, so sagt Ernst Peter Fischer - im Einklang mit dem gegenwärtigen Forschungsstand - gewinnen die potentielle Unsterblichkeit zurück, schalten also evolutionär primitivere, einfachere Programme an, zerstören dabei aber das Leben des vielzelligen Organismus, dem sie angehören. Anhand dieses Umstandes will Fischer aufzeigen, daß auch noch in allen sterblichen Zellen aller Vielzeller die Tendenz vorhanden ist, sich unendlich teilen zu wollen und damit unsterblich zu leben, und dabei aber auf Kosten des Gesamtorganismus zu "wuchern".

Der (gesetzmäßige) Alterstod eines vielzelligen Organismus kommt aber - nach Fischer - gemäß eines Gedankenganges, den er in dem Interview leider ebenfalls viel ausführlicher erläutern müßte, um verständlich zu sein, dadurch zustande, "daß die einzelne Zelle im Gesamtverband des Organismus ihre Aufgabe erfüllt". Und diese Aufgabe besteht unter anderem - aber nur unter anderem - darin, nicht zur Krebszelle zu werden. Ansonsten besteht die Aufgabe der einzelnen Zelle eines Vielzellers vor allem darin, Nervenzellen das Leben zu unterhalten und damit schrittweise in der Evolution größeres Bewußtsein - bis hin zum Großhirn des Menschen - zu ermöglichen. So wie es Fischer ausdrückt, ist es aber natürlich noch keine vollständige Theorie des gesetzmäßigen Alterstodes. Aber immerhin.

Zum Nachdenken von Ernst Peter Fischer über diese Fragen könnte auch dazu gehören, daß er - wenigstens ansatzweise, aber vielleicht ungenügend - um das Nachdenken und die Forschungen meines Onkels, seines Konstanzer Kollegen, des Zellphysiologen Gerold Adam (1933-1996) (Wiki), wußte, für den das Wechselspiel zwischen dem Streben der einzelnen Zelle nach Unsterblichkeit (unendlicher Zellteilungsfähigkeit) und der Einordnung der einzelnen Zelle in einen vielzelligen, aber sterblichen Organismus mit streng gesetzmäßiger Zahl von Zellteilungen je nach Gewebeart das Hauptthema der Forschung seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte an der Universität Konstanz war.

Mit Bewußtsein unsterblich leben?

Bei einem anderen - eher philosophischen - Gedanken ist Fischer sich dann wieder sicherer, nämlich daß unsterbliches körperliches Leben mit einem bewußten Leben sehr schwer in Einklang zu bringen sein würde, daß vielmehr unser bewußtes Leben deshalb so ereignisreich und tatfroh ist wie es ist, weil wir sterblich sind. Würden wir körperlich viele hundert oder tausend Jahre leben, gäbe es ja keinen Grund, so Fischer, heute das zu tun, was man auch morgen tun könnte. Und der Mensch neigt ja bekanntermaßen dazu "aufzuschieben". Und dieser Gedanke ist natürlich ein sehr leicht nachzuvollziehender Gedanke. Es ist ein Gedanke, der genau so auch schon von Mathilde Ludendorff 1921 geäußert wurde.

An diesen kann auch der Gedanke angeschlossen werden, daß die Evolution selbst vergleichsweise langweilig war, solange es den gesetzmäßigen Alterstod noch nicht gab, daß sie mehrere Milliarden Jahre nur so "vor sich hin tuckerte" im Einzeller-Status, und daß sie ihre unglaubliche spannende, mannigfaltige Artenvielfalt der Vielzelligkeit erst entfaltete als der gesetzmäßige Alterstod eingeführt worden war (sichtbar vor allem ab dem Präkambrium und der Kambrischen Artenexplosion).

Dann sagt Ernst Peter Fischer - wie oben schon angedeutet -, daß das Streben des Menschen immer schon gewesen ist, Grenzen zu überwinden, also natürlich auch die Grenze des Alterstodes. Mathilde Ludendorff hat dies den menschlichen "Unsterblichkeitwillen" genannt. In den vielfältigen menschlichen Religionen auf dieser Erde sind vielfältige Versuche unternommen worden, diese Grenze zu überwinden, sagt Fischer. Und genau das ist auch der Grundgedanke des Buches von Mathilde Ludendorff aus dem Jahr 1921 "Triumph des Unsterblichkeitwillens". Er wird in diesem Buch gleich einleitend angesprochen:

Wie Schatten flüchtig gleiten die Menschengeschlechter über die Erde,
Sie blühn und vergehen und singen dabei das hohe,
Das niemals verstummende Lied unsterblichen Lebens.
"Ich glaube," sagt Fischer, "daß man durch den Tod gezwungen wird, nicht nur biologisch zu existieren, sondern sinnvoll zu leben." - Nun, gezwungen wird man nicht - viele Menschen nutzen ja die Möglichkeit des Vergessens und Verdrängens bezüglich ihres Wissens, daß sie irgend wann sterben müssen. Aber natürlich ist die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit durchaus ein starker Antrieb, wenn nicht einer der stärksten Antriebe dazu, sinnvoll zu leben. Genau das ist wiederum der Grundgedanke der Philosophie von Mathilde Ludendorff. Also darf sie schlichtweg, wenn ein solcher Gedanke geäußert wird, nicht unerwähnt bleiben, denn ihre Philosophie ist Teil der Geistesgeschichte, Teil des naturwissenschaftsnahen Denkens der letzten einhundert Jahre.

Ein angemessener "philosophischer, konzeptioneller Überbau"

Im übrigen ist dieser von Ernst Peter Fischer geäußerte Gedanke natürlich ein Gedanke, dem man noch sehr viel Raum in seiner Seele lassen könnte, auf daß er sich entfalte. Was heißt denn - im Angesicht der Endlichkeit unseres körperlichen Lebens - "sinnvoll" zu leben?, ist natürlich eine Frage, die sich anschließt. Sehr schön ist dazu zum Beispiel auch der Kommentar eines Zuhörers auf Youtube:

"Tolle (...) Antworten. Ich würde ihm gerne die Frage stellen: Wie hält man so tief ins Sein gedacht die politische/gesellschaftliche Realität, die wir uns bereiten, aus?"

Das ist sicherlich eine gute Frage. Und tatsächlich gibt es auf diese Frage auch aus der Wissenschaft schon erste Antworten: Durch Vergessen. Menschen hingegen, die mit dem eigenen Tod konfrontiert werden, die an ihn erinnert werden, sind in ihren moralischen Urteilen rigoroser und kompromißloser, werden leichter zornig. Sie halten die politische, gesellschaftliche Realität also keineswegs unwidersprochen aus. Und das ist sicher einer der Gründe, weshalb in den Medien der Tod ständig verharmlost wird und werden muß in der Form, daß der Fernsehzuschauer und Zeitungsleser zum Darstellungen und Meldungen zu Todesfällen, Mord und Totschlag geradezu in Dauerberieselung überschüttet wird, werden muß, ohne daß das emotional noch tiefere Auswirkungen bei ihm hinterläßt. Und dementsprechend kann seit wenigen Jahrzehnten auch der Tod ganzer Kulturräume (des Abendlandes, der westlichen Welt) fortlaufend erörtert werden in der Medienwelt, ohne daß der Mensch sich noch angemessen aufrafft, um scharf und entschieden auf dieses weltgeschichtliche Geschehen zu reagieren.

Schön ist dann weiterhin, daß Ernst Peter Fischer dem Menschen - und auch den Tieren - nicht die Seele abspricht, sondern daß er den begeisternden Gedanken äußert, daß unsere Wahrnehmung darauf ausgerichtet ist, das Individuelle eines Mitmenschen wahrzunehmen und den Mitmenschen darin mit Achtung zu begegnen. Dies ist ein Gedanke, so kann man hier lernen, der von dem griechischen Philosophen Aristoteles stammt, und aus dem Aristoteles die menschliche Moral abgeleitet hat. Interessant! Im weiteren Verlauf des Interviews wird die Frage erörtert, was aus naturwissenschaftlicher Sicht eigentlich Bewußtsein ist. Fischer sagt an einer Stelle:

"Natürlich wäre jetzt die Aufgabe, dem Ganzen einen philosophischen oder konzeptionellen Überbau zu geben. Aber das wird nicht propagiert."

Diesen Satz kann man ja einmal weitgehend unkommentiert lassen. Wir hatten schon darauf hingewiesen, daß Ernst Peter Fischer ja im Grunde genommen selbst viel Anlaß hat, einen solchen Überbau zu "propagieren", einfach indem er intellektuell redlich aufhört, den Namen Mathilde Ludendorff zu verschweigen.

Ein weiterer schöner Gedanke ist es, daß er sagt, daß Aufklärung und Romantik komplementär zueinander wären, also zwei unterschiedliche Annäherungsweisen an dieselbe Wirklichkeit darstellen würden, die beide notwendig sind zu berücksichtigen wären, wenn das Phänomen Wirklichkeit möglichst vollständig erfasst werden soll. Das ist ein sehr tiefer Gedanke. Schließt er doch auch die Möglichkeit aus, daß man - wozu es heute viele Neigungen gibt - das eine gegen das andere auszuspielen. Nein, erst gemeinsam geben sie ein vollständiges Bild der Wirklichkeit. Fischer leitet diesen Gedanken aus dem komplementären Denken der Physik zum Welle-Teilchen-Dualismus ab. Das Denken in Komplementarität stammt ja unter anderem von den Atomphysiker Niels Bohr. Mit diesem Gedanken ist natürlich eine bedeutende Aufwertung der Geisteswissenschaft gegeben durch einen Naturwissenschaftler, eine Aufwertung, die wiederum vollständig auf der inhaltlichen Linie der Aussagen der Philosophie von Mathilde Ludendorff liegt.

Im zweiten Teil des Interviews wird sehr oft deutlich, daß es Fischer selbst noch an dem von ihm geforderten philosophischen Überbau fehlt, einem Überbau nämlich, der klar ausspricht, daß es eine zweite Seite der Wirklichkeit gibt, die dem Menschen über das Werterleben, über das ästhetische Erleben, über das Erleben des Wahren, Guten und Schönen zugänglich ist, und daß erst im Erschließen des Erlebens dieser zweiten Seite der Wirklichkeit der Sinn des Menschenlebens hier auf dieser Erde erfüllt wird (2).

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  1. Huemer, Werner: „Der Tod ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden“ - Zu Besuch bei Ernst Peter Fischer. ThantaosTV, 4.1.2017, https://www.youtube.com/watch?v=0bmEnFKl5rE
  2. Leupold, Hermin: Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Die Deutsche Volkshochschule, Bühnsdorf 2001, 2014

Dienstag, 4. Juli 2017

Von der Weisheit einer deutschen Sage des Mittelalters

Die Sage vom eisernen Landgrafen von Thüringen

Es gibt deutsche Sagen, deren Inhalt überzeitlichen Charakter hat, und die sehr direkt in die Seele von Menschen greifen können, die noch heute leben und zum Handeln aufgefordert sind. Zu diesen Sagen gehört die jene vom "Hart geschmiedeten Landgraf". 

Abb. 1: Landgraf Ludwig der Eiserne (1128-1172)
Grabstein in Eisenach
Fotograf: Wolfgang Sauber (Wiki)

Diese Sage ist sehr kurz. Sie soll im folgenden vollständig wiedergegeben werden (1). Denn es mag ja durchaus viele geben, die das Wort "Landgraf, werde hart" schon einmal gehört haben. Aber kennt man auch die Geschichte dazu? Die Sage handelt interessanterweise gar nicht einmal von einer Sagengestalt, sondern von einer historischen Gestalt der deutschen Geschichte, nämlich des Landgrafen von Thüringen, Ludwig des Eisernen (1128-1172) (Wiki). Dieser war mit der Schwester Jutta des deutschen Kaisers Friedrich Barbarossa verheiratet. So lautet sie:

Der hart geschmiedete Landgraf

Zu Ruhla im Thüringerwald liegt eine uralte Schmiede, und sprichwörtlich pflegte man von langen Zeiten her einen strengen, unbiegsamen Mann zu bezeichnen: er ist in der Ruhla hart geschmiedet worden.

Landgraf Ludwig zu Thüringen und Hessen war anfänglich ein gar milder und weicher Herr, demütig gegen jedermann; da huben seine Junkern und Edelinge an stolz zu werden, verschmähten ihn und seine Gebote; aber die Untertanen drückten und schatzten sie aller Enden. Es trug sich nun ein Mal zu, daß der Landgraf jagen ritt auf dem Walde, und traf ein Wild an; dem folgte er nach so lange, daß er sich verirrte, und ward benächtiget. Da gewahrte er eines Feuers durch die Bäume, richtete sich danach und kam in die Ruhla, zu einem Hammer oder Waldschmiede. Der Fürst war mit schlechten Kleidern angetan, hatte sein Jagdhorn umhängen. Der Schmied frug: wer er wäre? "Des Landgrafen Jäger." Da sprach der Schmied: "Pfui des Landgrafen! wer ihn nennet, sollte alle Mal das Maul wischen, des barmherzigen Herrn!" Ludwig schwieg, und der Schmied sagte zuletzt: "Herbergen will ich dich heut; in der Schuppen da findest du Heu, magst dich mit deinem Pferde behelfen; aber um deines Herrn willen will ich dich nicht beherbergen." Der Landgraf ging beiseit, konnte nicht schlafen. Die ganze Nacht aber arbeitete der Schmied, und wenn er so mit dem großen Hammer das Eisen zusammen schlug, sprach er bei jedem Schlag: "Landgraf werde hart, Landgraf werde hart, wie dies Eisen!" und schalt ihn, und sprach weiter: "Du böser, unseliger Herr! was taugst du den armen Leuten zu leben? siehst du nicht, wie deine Räte das Volk plagen und mären dir im Munde?" Und erzählte also die liebe lange Nacht, was die Beamten für Untugend mit den armen Untertanen übeten. Klagten dann die Untertanen, so wäre niemand, der ihnen Hülf täte; denn der Herr nähme es nicht an, die Ritterschaft spottete seiner hinterrücks, nennten ihn Landgraf Metz, und hielten ihn gar unwert. Unser Fürst und seine Jäger treiben die Wölfe ins Garn, und die Amtleute die roten Füchse (die Goldmünzen) in ihre Beutel. Mit solchen und andern Worten redete der Schmied die ganze lange Nacht zu dem Schmiedegesellen; und wenn die Hammerschläge kamen, schalt er den Herrn, und hieß ihn hart werden wie das Eisen. Das trieb er an bis zum Morgen; aber der Landgraf fassete alles zu Ohren und Herzen, und ward seit der Zeit scharf und ernsthaftig in seinem Gemüt, begunnte die Widerspenstigen zwingen und zum Gehorsam bringen. Das wollten etliche nicht leiden, sondern bunden sich zusammen, und unterstunden sich gegen ihren Herrn zu wehren.

Diese Sage ist erstaunlicherweise schon 300 Jahre nach dem Tod des Landgrafen aufgeschrieben worden. Wir erfahren (Wiki):
Während Ludwigs Herrschaft wurde die Bevölkerung Thüringens vom Adel häufig tyrannisiert und drangsaliert. Daraufhin begann er gegen diese Zustände hart einzugreifen, was ihm schließlich auch seinen Beinamen einbrachte. Um diese Taten Ludwigs rankt sich auch eine Sage, die 1421 von Johannes Rothe aufgezeichnet wurde. Danach habe der Landgraf eines Abends unerkannt in einer Schmiede in Ruhla ein Nachtlager gefunden. Der Schmied habe auf seinen Landesherrn und die Zustände im Land heftig geflucht und schließlich gerufen: „Landgraf, werde hart!“ Diese Worte hätten den Landgrafen schließlich bewogen, gegen das Raubrittertum einzuschreiten. Der Sage nach soll er die Missetäter vor einen Pflug gespannt und einen Acker umgraben lassen haben.
Es ist das eine Sage, die eine Charakterschwächen der Deutschen aufs Korn nimmt, die gerade in heutigen Zeiten einmal wieder besonders stark ausgeprägt ist: ihre Gutmütigkeit.


Abb. 2: Postkarte aus dem Jahr 1912


Im Grunde muß doch heute fast jeder Deutsche zum Schmied in Ruhla in die Schule gehen. Es ist dort eine Lehrzeit von nicht weniger als zehn Jahren zu veranschlagen. Man bringe sich eine gute Freundin mit - so wie Jutta, die Schwester des Kaisers -, um diese schwere Lehr- und Leidenszeit emotional gut durchzuhalten und um dabei ein Mensch zu bleiben (3).

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  1. Der hart geschmiedete Landgraf. In: Heinz Rölleke: Das große Deutsche Sagenbuch. Albatros-Verlag 2001, http://gutenberg.spiegel.de/buch/sagen-aus-th-58/26
  2. Jutta Assel; Georg Jäger: Sagenmotive auf Postkarten - Eine Dokumentation. Der Schmied von Ruhla oder: Landgraf werde hart! und Der Edelacker. Eingestellt: Januar 2015, http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/legenden-maerchen-und-sagenmotive/der-edelacker.html
  3. Ludendorff, Mathilde: Vom tiefen Leid gottnaher Menschenliebe. In: diess.: Von der Moral des Lebens. Verlag Hohe Warte, Pähl 1977, S. 108-115

Freitag, 16. Juni 2017

Die zu erstrebende Wiedergewinnung einer indogermanischen Gottauffassung

Die heutigen - erdweiten, gesellschaftlichen - Erschütterungen kündigen sie an.

Ihr liegt dementsprechend eine gewisse geschichtliche Notwendigkeit inne.

Abb. 1: Ein Steinadler - Der Götterbote des Zeus
Fotograf: Richard Bartz
(Wiki)
Der Absurditäten auf unserer Erde gibt es schon lange zu viele. Eine Woge von niedrig stehender Kultur und Menschlichkeit umspült unseren Erdball. Wer angesichts dessen seine Sinne beieinander hat,  der sagt sich schon seit längerem: Es ist genug, es ist tausendmal genug. Und wenn man ein bisschen in sich hinein hört, beginnt man zu ahnen, daß es doch auch die Rückbesinnung auf die edleren Werte des Indogermanentums sein wird, die menschliches Leben auf diesem Erdball zu Würde zurück führen kann. Und so mögen wir uns aufgefordert fühlen, wir Indogermanen, das Schicksal dieses Erdballes wieder tatkräftiger in unsere Hand zu nehmen. Denn dem genuin indogermanischen Gestaltungswillen ist es längst schmählich aus den Händen entwunden worden, womöglich schon vor mehr als tausend Jahren. .... 


"Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet." 
(Gneisenau, Militärreformer, an seinen König - 1811)


"Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer."
(Friedrich Nietzsche/Der Antichrist)


- - - Diese irrsinnige Destabilisierung in der heutigen Welt, deutet sie nicht darauf hin, daß etwas ganz Neues auf dieser Erde im Werden ist? Kann nicht das der Sinn derselben sein? Und das beklemmende Schweigen, das um dieses Große liegt, ist es nicht vor allem erst einmal darin begründet, daß wir kaum noch Worte verwenden wollen zur Kennzeichnung dessen, dieses Neuen? Sind uns nicht alle Worte längst aus dem Munde genommen worden, herum gedreht worden, verdreht worden, als man uns umerzog zu täppischen Narren einer "neuen Weltordnung"? "Make the world safe for democracy," lautete eine der diesbezüglich gegebenen Verheißungen. Aus dieser kann heute nur noch Höllengelächter herausgehört werden. Nichts ist sicher. Schon gar nicht die demokratische Lebensweise, die es in echterem Sinne womöglich nie gegeben hat bislang. Jede Zeit, die dem Untergang reif ist, trägt ihr Kainsmal auf der Stirn ... Das heuchlerische Kainsmal unserer heutigen Zeit mag man gerne nennen: "Make the world safe for democracy". Oder auch: "Ende der Geschichte" im versumpften "Delta der Beliebigkeit". Wobei doch hinter allen nur eines hervor schimmert: die Fratze des absolut und abartig Bösen.

Notwendig ist diese Begleitmusik verlogener Verheißungen. Weil die alten, religiösen Mächte das Heraufkommen des Neuen fürchten. Sie müssen es - ihrer Natur nach - fürchten. Ihrer Verbrechen sind so viele geschehen. Und dennoch wird der Sieg des Neuen ihr Untergang sein. Nur noch ein dumpfes, trockenes, lautloses in sich Zusammenfallen eines irrsinnigen Machwerks von Lüge in Qualm und Schwefel wird diesbezüglich wahrzunehmen sein. Nur die Stimmen der Gemarterten, der Geschändeten, der Gemordeten - sie werden noch Jahrhunderte nachhallen durch die Weltgeschichte. Und das wissen die alten religiösen Mächte. Und deshalb vor allem wehren sie sich mit dem Irrsinn der Verzweifelten gegen ihr Überflüssigwerden. Und sie haben ein zähes Leben während sie sich dagegen wehren. Sie haben ein sehr zähes Leben. Und aus diesem heraus suchen sie das Neue seit spätestens zweihundert Jahren immer umfassender und punktgenauer, effizienter, mit wissenschaftlicher Präzision: - - - Zu sezieren, zu zerreden, zu zersetzen, zu zerstören, abzuwürgen. - - -

Abb. 2: Ein Steinadler im Flug -
Der Götterbote späht nach dem Land der Verheißung
Aber nur die Gedankenlosigkeit, die Oberflächlichkeit der Massen, die menschlich überfordert sind, ist ihnen dabei Hilfe und Schutz. Auf etwas anderes können sie sich nicht stützen. Und um diese aufrecht zu erhalten, müssen sie vor allem alle materiellen Finanzressourcen auf dieser Erde auf sich bündeln und mit diesen immensen Finanzressourcen Meinungen bilden, Stimmungen erzeugen, Völker und politische Gruppen aufeinander hetzen, Haß, Krieg und Unfrieden in die Welt tragen, wo immer sie es nur können. Sie müssen die Verdummung und Bequemlichkeit fördern, wo immer sie nur können. Und sie brauchen das Geld, um den zehntausenden ihrer Helfershelfer, ihrer ihnen notwendigen "Judasse" in den Völkern dieser Welt den ihnen doch so notwendigen Judaslohn zukommen zu lassen. Und auch weil die von ihnen beherrschten Völker ohne diese ungeheure Beraubung fast wie von selbst reich und selbständig werden könnten, allein aufgrund ihres Wohlstandes. So aber sollen sie jedes selbständigen Handelns beraubt sein, hilflos sein und als blödsinnige, willenlose Heloten dem Finanzkapital dienen und nach seiner Pfeife tanzen, wie immer es dieses will.

Die Frage bleibt: Worum handelt es sich bei dem Neuen?


- - - Worum handelt es sich aber bei dem Neuen, das diese abgelebte Welt überwinden wird? Um die moderne Formulierung der indogermanischen Gottauffassung. Dies ist das Losungswort, das die Völker - insbesondere zunächst der indogermanischen Welt - zur Besinnung bringen wird, das sie innehalten lassen wird - in Entsetzen -, das sie aufblicken lassen wird, hinauf zu den Möglichkeiten menschlichen Seins, das sie wieder Perspektive wird gewinnen lassen (1-3). All jenen, denen alle Perspektiven genommen worden waren, zerredet worden waren. Jene Völker indogermanischer Weltauffassung, die neunzig Prozent der kulturellen Errungenschaften der Menschheit der letzten dreitausend Jahre Weltgeschichte hervorgebracht haben (4), und die deshalb auch heute noch - und weiterhin - der Möglichkeit nach die Erben und Träger des Fortschrittsgedankens der Menschheit sind.

Dieser Umstand ist ihren Genen eingeboren und ihrer Kultur, ihrer Sprache eingeboren. Und der Gott hat sie schon längst angerufen (5). Wie könnten sie sich überhaupt nur noch ihrer Verantwortung entziehen? Sie werden ruhig zu ihm aufblicken. Sie werden ihm klar ins Gesicht sehen. Denn es ist ihr eigenes Gesicht. Und sie werden sein Gebot kennen, das Gebot ihrer Art zu leben.

Diese Indogermanen, deren Vorfahren die Sonne auf ihrem Wagen verehrten, den Mond verehrten, Zeus, den Vater des strahlenden Himmels verehrten, Eos, die Göttin der goldglänzenden Morgenröte verehrten, die das heilige Zwillingsgespann der Pferde verehrten, den Donar und den Thor (Wiki) - - - einst begannen sie damit in ihrer abgelegenen Urheimat weit draußen an der Wolga (Wiki) (6-8; 13-15). Dort schulten sie ihren Geist an den schnellen Pferden, die sie domestizierten. Und von dort haben sie ihre Religion und ihr Wahrheitssehnen über den ganzen Erdball getragen in jenen sechstausend Jahren Weltgeschichte, die wesentlich von ihnen bestimmt und getragen gewesen sind.

Abb 3: Der Wohnturm Friedrich Hölderlins
in Tübingen bis 1843
Welche Völker waren streitlustiger als die Indogermanen, kampfeslustiger als die Indogermanen, wandelfroher, veränderungsbereiter als sie?*) Die heutigen Völker, die sich ihre Nachkommen nennen (oder schimpfen) sind übrig Gebliebene des großen indogermanischen Völkersterbens der Spätantike zwischen Altai-Gebirge und Taklamakan im Osten und dem Gibraltar im Westen. Ja, es handelte sich um ein großes indogermanisches Völkersterben. Denn sie, die Weltgeschichte, ist großzügig und verschwenderisch in ihrem Hervorbringen und in ihrem Untergehenlassen auch noch der herrlichsten Erscheinungen der Weltgeschichte. Darin unterscheidet sie sich nicht von der Natur selbst, aus der sie, die Weltgeschichte hervorging, und deren kontinuierliche Fortentwicklung sie darstellt. Diese übrig Gebliebenen also, sie wurden dann als solche - völlig ahnungslos - von einer der merkwürdigsten Religionen der Weltgeschichte überwältigt (9, 10), noch ehe sie ganz zur Besinnung gekommen waren darüber, um was es sich hier eigentlich handelte. Sie wurden überwältigt von einer Religion genannt Christentum, die ein Indogermane vom Schlage des Römers Publius Cornelius Tacitus (58-120 n. Ztr.) (Wiki) noch wenige Jahrhunderte zuvor wie selbstverständlich als eine der minderwertigsten denkbaren Religionen überhaupt gekennzeichnet hatte. Aber das half ihnen nicht, denn die Kultur der Römer war untergegangen. In unendlich schwerem Leid, in unendlich schwerer Entfremdung von sich selbst mußten sie sich deshalb empor arbeiten aus dem aberwitzigen, abartigen Dunkel des Mittelalters bis hin schließlich zur Helligkeit und Würdigkeit aufgeklärten bürgerlichen Seins im europäischen 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

- Einer ihrer weitsichtigsten Vertreter, Friedrich Hölderlin (1770-1843), dichtete Anfang des 19. Jahrhunderts im Rückblick und noch selbst unter den schweren seelischen Erschütterungen seines Zeitalters stehend:
Nämlich vom Abgrund haben
Wir angefangen und gegangen
Dem Leuen gleich, in Zweifel und in Ärgernis ...
Diese Völker, sie verstehen heute ihr Schicksal nicht. Sie verstehen es nicht mehr. Ihnen ist die ihnen eigene Stimme, die ihnen eigene Herzensstimme genommen worden. Schon vor langer Zeit. Jene Herzensstimme, die schon seit vielen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden für die Völker der Welt philosophiert und formt und singt und erfindet und forscht - sie verstehen ihr eigenes Herz nicht mehr. Und sie werden darum irre an vielem, ja an allem. "Germany must perish" schreien, jubeln, hecheln, ja geifern viele unter ihnen von Wladiwostok diesseits des Pazifik einmal rund um den Erdball herum bis San Franzisco jenseits des Pazifik. "Tochter Zion freue dich am Untergang der weißen Rasse" jubeln sie. In ihrem grenzenlosen Unverstand, in ihrer grenzenlosen Abgeschnittenheit von aller Vernunft und von aller religiösen Innigkeit. "Bomber Harris do it again" schreien sie, schimpfen und zetern sie voller Haß auf jenes "heilige Herz der Völker", das 
wehrlos Rat gibt rings
den Königen und den Völkern,
(Hölderlin) und das längst jene moderne indogermanische Gottauffassung zur Fomulierung gebracht hat (1-3), einsam, groß, stark, unerbittlich in seinen Wäldern, überschattet von seinen Bergen, kaum von einem menschlichen Ohr belauscht dabei, kaum von einem menschlichen Auge beobachtet dabei. Oben an den Hängen des Kramer bei Garmisch-Partenkirchen, auf den Höhen der "festgebaueten Alpen".

Abb. 4: Blick vom Kramer-Plateau bei Garmisch auf das Zugspitz-Massiv
- Hier lebte 1920/21 Mathilde Ludendorff und gab ihren großen philosophischen Intuitionen Wortfassung

Aber der Gott, der es sah (5), er blickte weit. Er blickte weit voraus - - - als er dieser Formulierung ansichtig ward. - - -

"Es scheint nicht, daß die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist oder sein soll, befriedigen könne," hatte der genialste Vertreter indogermanischen Geistes seiner Zeit, Friedrich Hölderlin, noch 125 Jahre zuvor gesagt (wobei er im Sprachgebrauch der damaligen Zeit die Biologie in die Physik mit einschloß) (2). 125 Jahre später aber war es schon anders geworden. Da konnte ausgesprochen werden, was "vor Augen ihr lag", der "Germania", nämlich "wie eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein" muß. Da konnte ihr Wortfassung gegeben werden, der indogermanischen Philosophie unserer Zeit, der Philosophie der Freiheit, die Hölderlin von einem späteren Zeitalter erwartete in großer seherischer Sicherheit (1, 2).

Und als die Formulierung gegeben war, da schrieb schon damals eine Frau in Deutschland über die schweren Erschütterungen ihres Zeitalters unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (11):
... Aber welch unfaßliches Wunder sind doch in diesem trostarmen Reiche die Scharen der siegessicheren Völkischen und darüber hinaus der siegesfrohen Schar derer, die noch nicht ahnen, daß und weshalb sie zu den Völkischen gehören. (...) Gerade weil es sich nicht um die Beherrschung eines Volkes oder einer Gruppe von Völkern, sondern um die tatsächlich vollendete Weltherrschaft der Diener von Lug und List handelt, sehen wir nur ganz wenige, matte Seelen verzagend ausrufen: "Zu spät erkannt, hier ist Rettung nicht mehr möglich," hören wir nur ganz wenige mutarme Herzen von der Todesstunde, von dem Untergange unseres Volkes faseln. Die Vielen aber, in denen das Blut der Ahnen noch lebendig kreist, in denen Erbweisheit noch wach wohnt, die sehen wir gerade angesichts der vollendeten Allherrschaft der List- und Lug-Diener mit einem male so siegesfroh, ja siegessicher werden. Erbweisheit ist es, die dies Wunder schuf, denn vor vielen Jahrtausenden saßen unsere Ahnen zu Füßen der Seherin. Sie aber kündete ihnen, daß einmal der Tag auf Erden kommen wird, wo Fenrewolf und Mitgartschlange die Welt beherrschen werden und das Göttliche bedrohen. Sie kündete von dem großen Endringen des Göttlichen mit diesen finsteren Mächten und - von dem herrlichen Siege des Guten, der endgültigen Tilgung dieser Mächte der Finsternis.
Aber wir sind in unserer Siegessicherheit nicht auf Erbweisheit allein angewiesen. So wie in jenen Urzeiten der Menschwerdung der erste Mensch in furchtbarer Todesnot alles Lebendigen aus unterbewußter Tierheit erwachte, so ist in der Stunde der höchsten Todesnot des Gottesbewußtseins in unserem Volke gewaltige Gottoffenbarung erwacht und sie läßt uns nicht nur das Notwendige dieser einmalig erfüllten Herrschaft der Diener von List und Lug, nicht nur die Sicherheit des Sieges des Guten in dem letzten großen Ringen wissen, sondern sie läßt uns auch die Gesetze erschauen, die während der ganzen Zeit des Endringens in der Menschheit unseres Sternes herrschen. ...
Sie schrieb von der "Allmacht der reinen Idee", denn sie allein war zur einsamen und reinsten Verkünderin indogermanischer Gottauffassung geworden. "Triumph des Unsterblichkeitwillens" (12), so hatte sie in ewiger, unzerstörbarer - noch aus der tiefsten Vernichtung und Verachtung wiederauferstehender - indogermanischer Geisteshaltung gejubelt.

Und diese unsere indogermanische Gottauffassung und Geisteshaltung, sie siegt, in uns, mit uns, mit ihr und allen, die ihres Geistes sind (s. 10). Wenn wir sie in uns siegen lassen.


/Manches 
umformuliert:
30.8.2017/

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*) Schon 1982 wurde über sie festgestellt (6, S. 25):
Es hat in der Weltgeschichte viele hochentwickelte Kulturen gegeben, in Kunst und Religion, in Organisation und Dichtkunst und vielem anderen der abendländischen ebenbürtig. Doch keine wies jenes schonungslose Vorwärtsdrängen im kriegerischen wie im friedlichen Sinne auf, wie es den Indoeuropäern innewohnte, jenes "novarum rerum cupidum", das "Begierigsein auf Neues", jenes offene Aufnehmen fremder Kulturelemente, die dann dem eigenen Volkscharakter angepaßt wurden.

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  1. Schäfler, Wilhelm: Friedrich Hölderlin - Versuch zur Erfassung seines Werkes. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 69, September 1990, S. 21-24; erneut: http://fuerkultur.blogspot.de/1990/09/friedrich-holderlin.html
  2. Leupold, Hermin: Antworten auf Grundfragen zur menschlichen und kosmischen Existenz. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 71, Januar 1991, S. 1-4; erneut: http://fuerkultur.blogspot.de/2017/06/antworten-auf-grundfragen-zur.html
  3. Bading, Ingo: Der Absturz der Religionen vom Gotterleben Und die Rückkehr zu demselben über Kunst, Wissenschaft und Philosophie. In: Die Deutsche Volkshochschule - Digitale Zeitschrift, 17. Februar 2016, http://fuerkultur.blogspot.de/2016/02/der-absturz-der-religionen-vom.html
  4. Murray, Charles: Human Accomplishment. The Pursuit of Excellence in the Arts and Sciences, 800 B.C. to 1950, Harper Collins 2003
  5. Hölderlin, Friedrich: Germanien (Hymne). http://gutenberg.spiegel.de/buch/friedrich-h-262/165
  6. Schmöckel, Reinhard: Hirten, die die Welt veränderten. Der vorgeschichtliche Aufbruch der europäischen Völker. Rowohlt, Hamburg 1982
  7. Anthony, David W.: The Horse, the Wheel and Language. How Bronze-Age Riders from the Eurasian Steppes Shaped the Modern World, Princeton University Press 2007 (Wiki, Archive)
  8. Krause, Johannes (Direktor, Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Jena): Die genetische Herkunft der Europäer. Vortrag am 26. Januar 2016 im Rahmen der Vorlesungsreihe "Vom Selbstverständnis der Naturwissenschaften" am Einstein-Forum in Potsdam, Gesprächsleitung: Dr. Matthias Kroß, Potsdam
  9. von Zydowitz, Kurt: Glaubensumbruch, ein Verhängnis. 700 Jahre germanisch-deutsche Geschichte. Verlag Mein Standpunkt, Westerstede, 1976
  10. Hunke, Sigrid: Europas eigene Religion. Der Glaube der Ketzer. Bergisch Gladbach 1983
  11. von Kemnitz, Mathilde (spätere Ludendorff): Die Allmacht der reinen Idee. Völkischer Verlag, Pasing 1924
  12. von Kemnitz, Mathilde (spätere Ludendorff): Triumph des Unsterblichkeitwillens. 1921
  13. Anthony, David W.; Brown, Dorcas R.: The Secondary Products Revolution, Horse-Riding, and the Mounted Warfare. In: Journal of World Prehistory, 24/2011, S. 131-160
  14. Haak, Wolfgang et al (u.a. David W. Anthony, David Reich): Massive migration from the steppe was a source for Indo-European languages in Europe. Nature, 11. Juni 2015, https://www.academia.edu/28416535/Haak_et_al_2015_Massive_migration_from_the_steppe_was_a_source_for_Indo-European_languages_in_Europe 
  15. Bading, Ingo: Neue Forschungen zur Entstehung der Indogermanen - Wie entstanden die modernen europäischen Völker? - Ancient-DNA-Forscher David Reich berichtet über den aktuellen Forschungsstand. Auf: Studium generale, 2. Juli 2017, http://studgendeutsch.blogspot.de/2017/07/neue-forschungen-zur-entstehung-der.html