"Er tat seinen Mund auf und sprach." So lautet eine Formulierung, die sich schon in den Dichtungen Babyloniens findet (6, S. 215).
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Abb. 1: Ein Hörender - Das Reinheimer Pferdchen (Saarland), 370 v. Ztr. (Replikat) (Wiki) |
Sprechen und Zuhören waren in den Völkern der Vorgeschichte heilige Akte. Das macht diese kurze Formulierung deutlich. "Höret, was ich euch zu sagen habe," mag auch eine Formulierung gewesen sein, mit der in der Völkergeschichte Jahrtausende lang das Reden von Mensch zu Mensch eingeleitet worden ist.
Für den vorgeschichtlichen Menschen war also - weitaus mehr als für den heutigen -
sowohl das Sprechen wie das Hören ein bedeutungsvolles Ereignis. Alles kulturelle Wissen wurde - so war dem Menschen der Vorzeit bewußt - über das Hören weiter gegeben an die
nächste Generation. Auch die Gesänge etwa des Orpheus oder des
Homer waren ja noch für die Ohren von Hörenden bestimmt, nicht für die Augen von Lesenden. Daher womöglich auch ihr "hoher Ton". Diese Gesänge wurden
deklamiert, sie wurden vorgetragen, sie versetzten in eine andere, "gehobene" Erlebens-Sphäre.
Der keltische Gott der Beredsamkeit - Ogmios
Über den griechischen Satyriker Lukian von Samosata (120 bis 200 n. Ztr.) (Wiki) ist eine wertvolle Schilderung und Deutung des keltischen Gottes Ogmios überliefert, an der er sich selbst in höherem Alter in seiner Erzählung "Herkules" folgendermaßen aufrichtet (WikiSource):
Die Gallier nennen den Herkules in ihrer Sprache Ogmius, und geben auf ihren Gemälden diesem Gotte ein höchst abenteuerliches Aussehen. Er erscheint hier als ein hochbetagter Greis mit einer tiefen Glatze und eisgrauen Haaren, so viel er deren noch übrig hat, und einem von Runzeln durchfurchten, und von der Sonne schwarz gebrannten Angesicht, gerade wie sonst alte Seeleute auszusehen pflegen; so daß man einen Charon, Iapetus, oder irgend einen andern Bewohner des Tartarus, kurz alles Andere eher, als einen Herkules in ihm vermuten sollte. Allein ungeachtet dieses Aussehens trägt er doch die ganze Ausrüstung eines Herkules. Er hat die Löwenhaut um, die Keule in der Rechten, den Köcher auf der Schulter, und hält in der Linken den gespannten Bogen – ist also in so weit ganz der echte Herkules.
Ich glaubte anfänglich, die Gallier hätten durch diese seltsame Gestalt die griechischen Götter lächerlich machen, und besonders durch ein solches Gemälde sich an Herkules rächen wollen, weil dieser einst, als er die Abendlande durchzog, um die Herden des Geryones zu suchen, auch ihr Land mit Plünderung heimgesucht hatte.
Doch das Sonderbarste an diesem Bilde kommt noch. Jener hochbetagte Herkules führt nämlich eine ungemein große Menge Menschen hinter sich her, die er sämtlich an den Ohren gebunden hält. Die Bande selbst aber sind ungemein fein gearbeitete Ketten aus Gold und Bernstein, und gleichen dem schönsten Halsgeschmeide. So schwach diese Fesseln sind, denkt doch keiner an Flucht, die doch so leicht wäre. Nicht einmal einiges Widerstreben, dem Zuge zu folgen, zeigen sie; sondern alle laufen munter und lustig hinterher, jauchzen ihrem Führer Beifall zu, und drängen sich sogar vorwärts, so daß die Ketten ganz schlaff an ihnen herabhängen, und es unverkennbar ist, wie leid es ihnen wäre, wenn er sie los ließe. Das Allerseltsamste aber ist, daß der Maler, der ihm die Enden der Ketten nicht in die Hände geben konnte, indem er schon in der einen die Keule, in der andern den Bogen hält, die Zungenspitze des Gottes durchlöchert und sie dort befestigt hat. So zieht nun dieser den ganzen Haufen mit sich, indem er den Kopf nach ihnen zurückdreht und ihnen freundlich zulächelt.
Voller Verwunderung stand ich einst lange vor diesem Gemälde, und fing an ungeduldig zu werden, weil ich es mir nicht zu deuten wußte. Da trat ein in einheimischer Weisheit vermutlich wohl unterrichteter Gallier zu mir, der, wie sich zeigte, auch in unserer Literatur nicht unbewandert war, und das Griechische sehr rein und geläufig sprach. "Ich will," hob er an, "dir das Räthsel dieses Bildes lösen, Fremdling, weil du ja doch, wie ich sehe, damit nicht zurecht kommen kannst. Wisse denn, daß bei uns Galliern nicht Merkur für den Gott der Beredtsamkeit gilt, wie bei euch Griechen, sondern Herkules, weil dieser ja weit stärker ist als jener. Daß er aber als Greis abgebildet ist, darf dich nicht befremden. Denn die Kraft zu reden ist es ja allein, die sich im höheren Alter in ihrer vollen Reife zeigt; wie denn auch eure Dichter sehr richtig sagen:
"Stets ja flattert das Herz den Jünglingen - -" (Ilias III, 108.)
Dagegen wird das Alter stets
"Weit mehr, denn junge Leute, klugen Rat erseh’n".
Fließt ja doch honigsüß die Rede aus dem Mund eures Nestor, und die liebliche Rede der Trojischen Ältesten wird verglichen mit der Lilienblüte: Lilie aber heißt bei euch, wenn ich mich recht erinnere, eine Blumengattung.
Daß also dieser alte Herkules, d. h. die [personifizirte] Beredtsamkeit, die Menschen mittelst ihrer Ohren an seine Zunge gebunden hat und so nach sich zieht, ist, bei der nahen Verwandtschaft der Zunge und der Ohren, nicht zu verwundern. Es liegt durchaus kein Spott gegen ihn darin, daß jene durchlöchert dargestellt ist. Ich erinnere mich, die Verse eines eurer Komiker gelesen zu haben:
"– – – – denn die Zungenspitze ist
Den redesel’gen Leuten allen durchgebohrt."
Überhaupt sind, wir des Glauben, Herkules habe, als ein Mann von großer Weisheit, das meiste, was er getan, nicht sowohl durch Stärke, als durch des Wortes und der Überredung Gewalt ausgeführt. Seine Geschosse sind, dünkt mich, eindringliche, wohlgezielte, schnell treffende Worte, welche tief in den Gemütern der Hörenden haften; wie ihr denn selbst auch von geflügelten Worten sprechet.“ So weit mein Gallier.
Wie mir also neulich mein Entschluß, hier vor euch aufzutreten, das Bedenken erregte, ob es auch geraten sei, in meinen Jahren, und nachdem ich schon seit so langer Zeit meine öffentlichen Vorlesungen eingestellt hatte, mich abermals dem Urteile so vieler Richter auszusetzen, so kam mir recht zur guten Stunde die Erinnerung an jenes Gemälde in den Sinn. Denn ich war in der Tat sehr ängstlich gewesen, man möchte mein Vorhaben für ein jugendliches Wagestück ansehen, das meinem Alter sehr schlecht anstände; und irgend ein Homerischer Jüngling könnte mich mit den Worten schelten:
"Deine Kraft ist gelöst, und mühsames Alter beschwert dich;
Auch ist schwach dein Wagengefährt’ und müde die Rosse" (Ilias VIII, 103.),
einen spottenden Blick dabei auf meine Beine werfend. Aber jetzt brauche ich mich nur an jenen greisenhaften Herkules zu erinnern, um Mut zu Allem zu fühlen, und, als ein Altersgenosse jenes gemalten Gottes, vor einem solchen Wagestück mich nicht mehr zu erblöden.
So fahret denn wohl, Stärke, Schnelligkeit, Schönheit und alle ihr Vorzüge des Körpers: und auch dein Amor, Tejischer Sänger, schwinge immer sein Goldfieder bei’m Anblick meiner erbleichenden Haare, und flattre schneller als ein Adler davon: "was kümmert das den Hippoklides?" Für mich ist’s jetzt an der Zeit, in meinen Vorträgen mich wieder zu verjüngen, und hier eine Kraft zu zeigen, die jetzt erst in ihrer Blüte steht, indem ich so viele Ohren, als ich nur immer kann, an mich fessle, und reichliche Geschosse der Worte entsende, an welchen mein voller Köcher mich keinen Mangel befürchten läßt. - Du siehst, wie ich mich über mein hohes Alter zu trösten weiß. Aber diese Vorstellung gab mir Mut, mein längst angelegt gewesenes Schiffchen wieder flott zu machen, und nach bestem Vermögen ausgerüstet der hohen See abermals anzuvertrauen. Sendet guten Wind zur Fahrt, ihr Götter! Denn mehr als je bedarf ich des günstigen Hauches, der meine Segel schwelle; damit man auch mir einst, wenn ich’s je verdiene, jene Homerischen Worte zurufe:
"Welche stattliche Lende der Greis aus den Lumpen hervor streckt!"
Das sind schöne Worte und immer noch ganz im antik-griechischen Geist des 2. Jahrhunderts n. Ztr. geschrieben, obwohl dieser damals schon in der Ausbreitung von orientalischen Mysterienkulten zugrunde zu gehen begann (s. Wiki). So findet man es auch auf den Wikipedia-Einträgen zu Ogmios erwähnt (Wiki, engl).
Die Macht des Gesanges - Orpheus
Nicht die Macht der Beredsamkeit, aber die Macht des Gesanges ist ja der Kerninhalt der Orpheus-Verehrung in der Antike. Auf einer der ältesten Darstellungen, die uns von Orpheus aus der Antike überliefert sind, sind alle Dargestellten
als Hörende dargestellt (Abb. 3). Die Verehrung von Orpheus hat in der Antike eine ebenso große
Rolle gespielt wie die Verehrung des Homer. Davon war in der Antike sogar eine
ganze religionsgeschichtliche Bewegung getragen gewesen (Stgen2022). Wenn Orpheus seine "Stimme erhob", lauschten nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere und Pflanzen, selbst die Steine bekamen Ohren.
Man erinnere sich auch an die getragenen, inhaltsschweren Worte (antik-)griechischer Tragödien. Das Sagen und das Hören - sie hatten Gewicht, sie waren voller Inhalt.
Das Hören fand auch nicht nur von Mensch zu Mensch statt. Die Stimme
der Götter wurde über das Hören vernehmlich. In der Ilias hören die
Helden die Stimmen von Göttinen und Göttern. In
der Bibel sprechen Gott, Engel und Teufel mit dem handelnden Personal. Sie raten ihnen zu, sie raten ihnen ab,
sie drohen, sie verheißen, sie verdammen, sie belohnen. Etwas milder als in der Bibel findet das Gespräch zwischen Menschen und Göttern in der Edda statt. Auch in deutschen
Heldensagen findet sich Vergleichbares: Held Siegfried "hört" die Stimmen der
Vögel, nachdem er im Drachenblut gebadet hat. Dieser enge Austausch von
Menschen und Göttern ist übrigens auch schon für Sargon von Akkad (2356 bis 2300 v. Ztr.) bezeugt (Wiki):
Die
Sumerische Sargonlegende handelt davon, daß die Göttin Inanna
beschlossen hat, daß Sargon König werden soll. So treten Vorzeichen
dafür auf, daß der Mundschenk den regierenden Herrscher ablösen wird.
Alle Gegenmaßnahmen, die Ur-Zababa ergreift, werden von der Göttin
vereitelt.
Eine Göttin greift hier ebenso selbstverständlich in die Handlungen der Menschen
ein - und ebenso entscheidend - wie noch über tausend Jahre später in der "Ilias", bzw. wie zweittausend Jahre später in der Bibel.
Auch
daß man sich im Zweifelsfall gegenüber verführerischen Gesängen, Reden
und Ratschlägen schützen muß, die "Ohren verstopfen" muß, wußten schon die
Menschen der Vorzeit und der Antike. Odysseus verstopfte sich die Ohren vor den Gesängen der Sirenen (GAj2021). Unter den germanischen Göttern war Loki derjenige, der "das meiste Übel rät".
Die großen Ohren des Keltenfürsten vom Glauberg - entdeckt 1994
Warum sollte es es angesichts dieser Bedeutung des Hörens für den vorgeschichtlichen Menschen eigentlich verwundern, daß ein solches Hören auch einmal in vergleichsweise frühen Phasen der Kunst zur Darstellung gekommen ist (Beispiele: Abb. 1, 2)?*)
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Abb. 2: Die Sandsteinfigur des Fürsten vom Glauberg in Mittelhessen, 500 v. Ztr. (Wiki)
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Die "großen Ohren" der 1994 entdeckten Steinfigur des
Keltenfürsten vom Glauberg in Mittelhessen aus der Zeit um 500 v.
Ztr. (Wiki):
Könnte es - endlich - eine etwas befriedigendere Erklärung geben für sie?
Dem Wikipedia-Artikel zur sogenannten "Keltischen Blattkrone" (Wiki),
mit dem diese Steinfigur - wie andere solche Steinfiguren ähnlicher
Zeit - geschmückt zu sein scheint, ist nämlich zu entnehmen,
daß eine besonders plausible Erklärung für diese
Kopfbedeckung zwar noch keineswegs gefunden worden ist. Neuerdings finden wir auf dem Wikipedia-Artikel auch den -
für uns neuen - Hinweis auf das "Reinheimer Pferdchen", das sich auf dem
Deckel der
"Reinheimer Kanne" findet, enthalten in einem keltischen Fürstinnengrab
bei Reinheim im
Saarland aus der Zeit um 370 v. Ztr. (Wiki). Und dieses Pferdchen nun - - - weist ebenfalls "große Ohren" auf (Wiki) (Abb. 1).
Unser
Gedanke: Vielleicht
sind "große Ohren" einfach ein Zeichen dafür, daß eine mächtige
Gottheit, mit der der Fürst in Verbindung steht, "alles hört" und
deshalb - wie das Dichterpferd Pegasus - "inspiriert" ist,
möglicherweise
vor allem vom Rauschen der Blätter der Bäume Heiliger Haine.
Denn: Es
werden ja auch Blätter in Zusammenhang mit diesem Kopfschmuck angedeutet
und der Baumkult der Kelten ist ja auch sonst gut bekannt (3). Erst vor
vier Wochen beschäftigten wir uns mit den
keltoromanischen
Jupiter-Giganten-Säulen, in denen die Erinnerung an die vormalige, gut
bezeugte Verehrung Heiliger Bäume durch die Kelten nachklingt (3).
Ein Zeichen für "der Seherin Gesicht" .... ?
Womöglich
sind die großen Ohren auch ein Zeichen für etwas wie der "Seherin Gesicht" (Wiki), die ja auch einen - - - Eschenbaum (Wiki)
kennt. Und wie wunderbar, jetzt schon auf Wikipedia sehr schnell den
Text der Edda-Übersetzung von Simrock aus dem Jahr 1876 zugänglich zu
haben. Wir HÖREN (!!!) ihrer "Schau" (zit. n. Wiki) .....
Allen Edeln gebiet ich Andacht,
Hohen und Niedern von Heimdalls Geschlecht;
Ich will Walvaters Wirken künden,
Die ältesten Sagen, der ich mich entsinne.
(...)
Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum netzt weißer Nebel;
Daher kommt der Tau, der in die Täler fällt.
Immergrün steht er am Brunnen der Urd.
Daher kommen Frauen, vielwissende,
Drei aus dem See dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine, die andre Werdandi:
Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose, das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen, das Schicksal verkündend.
Allein saß sie außen, da der Alte kam,
Der grübelnde Ase, und ihr ins Auge sah.
Warum fragt ihr mich? was erforscht ihr mich?
Alles weiß ich, Odin, wo du dein Auge bargst:
In der vielbekannten Quelle Mimirs.
Met trinkt Mimir allmorgentlich
Aus Walvaters Pfand! wißt ihr was das bedeutet?
Ihr gab Heervater Halsband und Ringe
Für goldene Sprüche und spähenden Sinn.
Denn weit und breit sah sie über die Welten all.
An anderer Stelle in den Edda-Überlieferungen werden die Inhalte dieser Schau noch einmal in Prosa-Form weiterghend erläutert (Wiki):
... Da
fragte Gangleri: Wo ist der Götter vornehmster und heiligster
Aufenthalt? Har antwortete: Das ist bei der Esche Yggdrasils: da sollen
die Götter täglich Gericht halten. Da fragte Gangleri: Was ist von
diesem Ort zu berichten? Da antwortete Jafnhar: Diese Esche ist der
größte und beste von allen Bäumen: seine Zweige breiten sich über die
ganze Welt und reichen hinauf über den Himmel. Drei Wurzeln halten den
Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen: die eine zu den Asen, die andere
zu den Hrimthursen, wo vormals Ginnungagap war; die dritte steht über
Niflheim, und unter dieser Wurzel ist Hwergelmir und Nidhöggr nagt von
unten auf an ihr. Bei der andern Wurzel hingegen, welche sich zu den
Hrimthursen erstreckt, ist Mimirs Brunnen, worin Weisheit und Verstand
verborgen sind. Der Eigner des Brunnens heißt Mimir, und ist voller
Weisheit, weil er täglich von dem Brunnen aus dem Giallarhorn trinkt.
Einst kam Allvater dahin und verlangte einen Trunk aus dem Brunnen,
erhielt ihn aber nicht eher bis er sein Auge zum Pfand setzte. So heißt
es in der Wöluspa:
Alles weiß ich, Odin, wo dein Auge blieb:
In der vielbekannten Quelle Mimirs.
Met trinkt Mimir jeden Morgen
Aus Walvaters Pfand: wißt ihr was das bedeutet?
Unter
der dritten Wurzel der Esche, die zum Himmel geht, ist ein Brunnen, der
sehr heilig ist, Urds Brunnen genannt: da haben die Götter ihre
Gerichtsstätte; jeden Tag reiten die Asen dahin über Bifröst, welche
auch Asenbrücke heißt. ....
Wir
sehen hier, daß im germanischen Mythos der Gott Odin ein Auge lassen
mußte,
um "sehend" zu werden, um Weisheit zu erlangen. Wenn hier dem Auge eine
solch große Bedeutung
zugemessen worden ist, um allwissend zu werden - warum sollte dann nicht
- in verwandten indogermanischen, kulturellen Zusammenhängen - auch dem Ohr eine große
Rolle zugemessen worden sein beim Erlangen von Weisheit? Nebenbei sei
erwähnt, daß dieser Welteneschen-Mythos auch in der Philosophie des 20.
Jahrhunderts Deutung gefunden hat (5).
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Abb.
3: Orpheus unter den Thrakern, Mitte 5. Jhdt. v. Ztr., Athen -
Rotfigurige Vasenmalerei - Orpheus mit siebensaitiger Lyra dargestellt
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Und
sind dem Mythos in den weiteren Ausführungen nicht auch alle die Pferde
- mit Namen - wichtig, auf denen die
Götter zum Rat an der Weltenesche reiten? Nur Thor geht zu Fuß. Ach, und das "Reinheimer Pferdchen" ist ja auch ein Pferd
(Abb. 1). Es lauscht mit dem Gesicht eines Menschen und den Ohren -
womöglich - eines Gottes. Aber worauf? Worauf?
Wäre es nicht ein schöner Gedanke, mit den großen Ohren eines klugen Pferdes auf "der Seherin Gesicht" zu hören ....? In früheren Jahrtausenden fühlten sich die Menschen noch mehr mit den Tieren verbunden und sprachen ihnen heilige Bedeutung zu, den Pferden, den Vögeln. Aber was erfahren wir noch, wenn mit "big ears prehistory" und ähnlichen Worten suchen? Ausgerechnet im 6. Jahrhundert v. Ztr. beginnen mehrere griechische Völkerkundler und Geographen, zuerst Sylax, von "Panoti", von "Ohrenmenschen" zu berichten (Wiki):
Skylax schreibt den Panoti schaufelgroße Ohren zu, laut Ktesias reichen deren Ohren um den Rücken und bis zum Ellenbogen. Nach Megastehenes schlafen diese Menschen auch auf ihren Ohren. Spätere klassische Autoren wiesen den Panoti als Heimat eine Insel im nördlichen Ozean zu oder ließen sie in Skytien leben.
Auch Plinius der Ältere schreibt von ihnen (Wiki). - - - Und 1994 graben deutsche Archäologen - grob gesehen in jenem "Skythien" - einen solchen ersten "Ohrenmenschen" aus - ? Könnte das möglich sein? Auf diese überraschende Übereinstimmung machte übrigens schon ein belgischer Arzt und Forschender 2005/2006 aufmerksam (4).
Ein Wikingerteppich aus dem Jahr 1270 n. Ztr.
Schauen wir uns noch ein wenig weiter um zu Darstellungen von inspirierten Menschen oder Göttern mit "großen Ohren", die - womöglich - in einen solchen Zusammenhang eingeordnet werden könnten. 1909 wurden fünf sehr alte Wandteppiche in einer schwedischen Kirche in Överhogdal gefunden (Wiki).
Die Ortschaft liegt 430 Kilometer nördlich von Stockholm. Die Wandteppiche waren um das Jahr 1000 n. Ztr. herum entstanden, also in der Zeit der Christianisierung. Drei von ihnen
scheinen in ihrer Mitte die Weltenesche darzustellen. Außerdem finden
sich auf zwei dieser Wandteppiche Wikingerschiffe dargestellt und auf drei
Wandteppichen unterschiedliche Gebäude: Kirchen, Versammlungsgebäude.
Hirsche und Rentiere bilden die weiteren Inhalte der Darstellung (so wie auf berühmten skythischen Teppichen), vielleicht
auch Fabelwesen (der achtbeinige Sleipnir?), sowie auch mehrere Reiter.
Einer der Teppiche weist aber auch nur Muster auf.
1912 wurde dann aber in einer Kirche in Skog in Schweden, 230 Kilometer nördlich von Stockholm, ein Wandteppich aus der Zeit um 1270 n. Ztr. (Wiki) entdeckt, also aus dem Hochmittelalter und aus jener Zeit, in der christliche Gelehrte in Skandinavien die alten heidnischen Überlieferungen aufschrieben. Dieser Teppich ist vielleicht noch interessanter (Abb. 4).
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Abb. 4: Möglicherweise Odin, Thor und Freya - Auf einem Wandteppich in Skog in Schweden, um 1270 n. Ztr. |
In
der Mitte dieses Wandteppichs scheinen zwei prächtigere Holzgebäude
abgebildet zu sein, von denen das rechte einen Glockenturm darstellen
dürfte (bekrönt von einem christlichen Kreuz, drei Figuren ziehen an den
Glockenseilen). Im linken Gebäude stehen fünf Hauptfiguren, von denen
zwei ebenfalls eine kleine Glocke mit einem Glockenseil läuten. Bei den
Gebäuden könnte es sich um mittelalterliche skandinavische Stabkirchen
handeln, um die sich die Gemeinden versammelt haben. Am Dach der Kirchen
befinden sich Drachenköpfe. Die Gebäude scheinen umgeben zu sein von
Hühnern.
Links
und rechts von diesem Mittelfeld scheinen größere Fabelwesen abgebildet
zu sein, Löwen, Drachen oder Greifen, und zwar auf jeder Seite
mindestens sieben, zwischen ihnen jeweils aber noch kleinere Fabelwesen
mit denselben Umrissen. Zwischen den Fabelwesen stehen auch weitere
menschliche Gestalten. Mit ihnen könnte man versucht haben, "Feinde"
der Kirche darzustellen, die den Bestand der Kirche gefährden, vielleicht alte
heidnische Kräfte (die ja damals im östlichen Bereich der Ostsee noch recht lebendig waren, übrigens).
Ganz
links von den Fabelwesen stehen dann drei mythisch aussehende
Gestalten, eine mit einem Beil, eine mit einer Streitaxt und eine dritte
vielleicht mit einer Spindel (?) (Abb. 1). Die Figur mit dem Beil hat nur ein Auge ... Zu ihren Füßen sind zwei
Hunde abgebildet, im
"Hintergrund" weitere kleinere Menschen und Tiere. Es gibt die Deutung,
daß es sich um drei skandinavische Könige handeln könnte. Es gibt aber
auch die Deutung, daß es sich um drei heidnische Götter - etwa: Odin,
Thor und Freya (oder Freyr) - handeln könnte.
Was besonders
auffällig erscheint: Bei allen dreien ist der Bereich der Ohren
besonders hervorgehoben - durch irgend eine Art von Kopfschmuck, der nicht besonders
leicht zu deuten und zu identifizieren ist. Etwa Hirschgeweihe wie sie - archäologisch vielfach bezeugt - von den mesolithischen Schamanen Nordeuropas und Osteuropas getragen worden sind?
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Abb. 5: Tempel- und Grabanlage der Hongshan-Kultur bei Niuheliang (links),
sowie zentrales Grab mit geschnitztem Jadeschmuck von einer anderen
Tempel- und Grabanlage (rechts) (Archäologisches Institut von Lianoning,
Shenjang 2004) (aus: 1)
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Wer sich über die Bedeutung des Hörens für die religiöse Haltung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit interessiert, ist vermutlich immer gut beraten, sich bildenerische Darstellungen der Heiligen Cäcilia (Wiki)
aus dieser Zeit durchzusehen.
Sie gilt in christlicher Zeit als die Schutzpatronin der Musik. Wir finden zahllose Gemälde der
Kunstgeschichte, in der sie als ein andächtiger, auf die Musik hörender
Mensch dargestellt ist. Der religiöse Mensch ist hier vor allem ein hörender
Mensch. Das Hören wird als der "innigste" aller Sinne empfunden, die Musik geht von
allen Künsten am direktesten zum Herzen. Religiöse Erhebung
heißt "stille werden", nach innen hören, heißt aufnahmebereit werden,
heißt, "große Ohren" bekommen.
Aber noch ein weiteres kann uns die Kunstgeschichte lehren: Der am innigsten mit Gott verbundene Mensch ist auch kein Hörender mehr. Diesen Umstand mag man sich - zum Beispiel - an den Menschendarstellungen des genialen deutschen Bildhauers und Bildschnitzers Tilman Riemenschneider vor Augen führen: Die Sinne sind nicht mehr der "Weg zu Gott". Der Mensch ist nun schlicht Gott.
/ Ergänzt um Ausführungen zu Ogmios:
12.5.23 /
______________
*) Als Anmerkung sei noch dargestellt, auf
welch wunderlichen Wegen wir zu diesem Gedanken überhaupt gekommen sind. Da hatten wir uns mit der weltgeschichtlich womöglich nicht unbedeutenden Hongshan-Kultur
(4.700-2.900 v. Ztr.) (
Wiki)
des Mittelneolithikums in der Mandschurei beschäftigt (
Stgen15.11.2021). Hier wird
neuerdings der ethnische, genetische und sprachliche
Ursprung nicht nur der Koreaner, Japaner, Mongolen und Tungusen vermutet, sondern auch derjenige der Turkvölker. (Übrigens wären das ja auch jene
Völker, die ja nicht selten für die Ausbreitung des Odins-Glaubens bis
hin zu den germanischen Stämmen im Westen verantwortlich gemacht werden, gemeinsam
mit den Sarmaten und Alanen.)
Dabei stoßen
wir - wiederum eher nebenbei - auf eine Studie aus dem Jahr 2006, die auf die eindrucksvolle Tempel-, bzw.
Grab-Anlage der Hongshan-Kultur bei Niuheliang (
Wiki)
aufmerksam macht (1). Ein dort an zentraler Stelle begrabener König hat einen eindrucksvollen Jade-Kopfschmuck getragen (1) (s. Abb. 5).
Bei dem Anblick dieses Königs drängt es sich fast auf, diesen Kopfschmuck in Parallele zu
setzen zu dem Kopfschmuck des Urvolkes der Indogermanen wie er sich in indogermanischen Kriegergräbern - wie in Warna
in Rumänien oder Giurgiulești
in Moldavien - um 4.500 v. Ztr. zeigt (2). Und bei solchen Parallelen möchte
man dann gerne einmal einen Beitrag schreiben über solchen eindruckvollen
Kopfschmuck als Kennzeichen einer bestimmten, ursprünglicheren Phase der Kulturentwicklung
der Menschheit, der Entwicklung gesellschaftlicher Komplexität in verschiedenen Teilen der Erde.
Während wir noch darüber nachsinnen, erinnern wir uns an die "großen Ohren" der 1994 entdeckten Steinfigur des
Keltenfürsten vom Glauberg in Mittelhessen aus der Zeit um 500 v.
Ztr. (Wiki). War das ein Ohrenschmuck?
Zum Thema "Kopfschmuck in der Vorgeschichte und Völkerkunde" bitte also noch künftige Beiträge hier auf dem Blog abwarten.
__________________
- Patterned variation in prehistoric chiefdoms. Robert D. Drennan,
Christian E. Peterson Proceedings of the National Academy of Sciences
Mar 2006, 103 (11) 3960-3967; DOI: 10.1073/pnas.0510862103, https://www.pnas.org/content/103/11/3960.
- Bading, Ingo: Die Indogermanen des 5. Jahrtausends v. Ztr., 5/2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/05/die-indogermanen-des-5-jahrtausends-v.html
- Bading, Ingo: Die Jupiter-Giganten-Säulen Ein eindrucksvolles Zeugnis der Religionspsychologie und Religionsgeschichte, 18/10/2021, https://studgendeutsch.blogspot.com/2021/10/die-jupiter-giganten-saulen.html
- Tainmont, T.: The Panoti and some other fantastic forms of macrotia. Presented at the meeting of the Royal Belgian Society of Ear, Nose, Throat, Head and Neck Surgery on 17 November 2005. In: B ENT, 2006 (pdf)
- Bading, Ingo: "Aus weiter Ferne komm ich her ...", Mai 2016, https://studiengruppe.blogspot.com/2016/05/aus-weiter-ferne-komm-ich-her.html
- Greßmann, Hugo (Hrsg.): Altorientalische Texte zum Alten Testament. 1909 (Archive); De Gruyter, Berlin 1926 (GB)