Freitag, 9. Februar 2001

Die Tuareg - ein Volk wie aus einer anderen Welt

Die schönsten Frauen dieser Zeit

Euch, die ihr sagt,
ich sei unterwegs gewesen,
um die Frauen zu sehen,
frage ich:
Bei welcher, meint ihr,
bin ich gewesen?

Als ich das Tal I-n-asaken verließ,
hatten sich die Frauen
prächtig zurecht gemacht,
an der Spitze Keriba,
ihr zur Seite Daha,
Ta-anderret, die ich liebe,
und außerdem Tella.
Nebrouka, die ebenfalls da war,
hat für mich nicht ihresgleichen.
Chennou, die hasse ich nicht,
auch nicht Tehit, die Schöne,
und ebenso Rakma,
wie auch Baiia, die Herrin des Ahals.
Fankana war da, begleitet von Haiia.
Und was sagt ihr von Terzer und Mala?

Wem all diese Frauen nicht gefallen,
bei dem stimmt etwas nicht,
der ist ein unholder Geist
und kein lebendiger Mensch!

Die Tuareg – 

ein Volk wie aus einer anderen Welt

Europäer erleben den Orient

 

Vorbemerkung

Die Philosophie Mathilde Ludendorffs sieht in der kulturellen Vielfalt der Völker auf dieser Erde den größten Wert in diesem Weltall. Bei dieser Sachlage ist es doch eigentlich schon merkwürdig, wie selten die Anhänger dieser Philosophie - um von anderen Menschengruppen an dieser Stelle zu schweigen - ihre Aufmerksamkeit in das Zentrum dieser Tatsache hineinlenken. Wer das Werk Mathilde Ludendorffs „Das Gottlied der Völker“ kennt, in dem vor allem das Volk der Samoaner als ein Anschauungsbeispiel für viele allgemeinere Erkenntnisse und Einsichten dieser Kulturphilosophie herangezogen wird, der sehnt sich doch vielleicht auch einmal danach, daß die hier angeführten allgemeineren Erkenntnisse und Einsichten nun durch vielfältige anderweitige Beispiele aus anderen Kulturkreisen erweitert und ergänzt werden, und daß die in dem genannten Werk vielfältig uns Nachlebenden offengelassenen „Lücken“ endlich einmal aufgefüllt werden.

Freilich: Ein einfaches Übertragen der bezüglich des Volkes der Samoaner geäußerten Einsichten etwa auf das Volk der Tuareg wird natürlich nicht möglich sein. So einfach macht es uns die uns umgebende Wirklichkeit offenbar nicht. Eine selbständige (und auch möglicherweise tiefgehende) Denk- und Urteilsfähigkeit wird auch hier von dem die Tatsachen zur Kenntnis Nehmenden einzufordern sein. Wie ist das kulturelle Leben des Volkes der Tuareg und zahlreiche Erscheinungen in diesem Leben aus der Sicht der Philosophie Mathilde Ludendorffs zu sehen? Wie ist es einzuordnen? Was muß aus dieser Sicht heraus wichtig erscheinen, was weniger wichtig?

Den Versuch zu einer umfassenden Beantwortung derartiger Fragen und zu (allen Menschen so wichtigen) „wasserdichten“ Begründungen für etwaige Antworten - die ja sehr viel mehr auf Erlebnisgehalte, denn Vernunfteinsichten abgestimmt sein müßten - unternimmt der folgende Beitrag schlichtweg nicht. Dennoch erscheint es dem Autor wichtig und wertvoll genug, einmal darauf aufmerksam zu machen, daß es auch noch andere lebendige Völker außer den Samoanern gibt und daß sie sogar jetzt, im gegenwärtigen Augenblick genau in der gleichen Weise leben, wie es in altehrwürdigen Büchern wie modernsten Reisebeschreibungen dargestellt ist.

Eine lebendige Schilderung des Lebens eines solchen Volkes sollte Anregung zu zahlreichen kulturphilosophischen, volkspsychologischen und anderen Betrachtungen geben, die der Autor an dieser Stelle aber einmal weitgehend den Lesern selbst überlassen möchte. Denn gründliches und selbständiges Denk- und Urteilsvermögen ist es ja doch wohl auch, was unser Volk und unsere Gesellschaft wieder einigermaßen emporbringen könnten.


Abb. 1: Ein Tuareg, Mali, 1974 (Wiki)


Die Tuareg – Ein Volk wie aus einer anderen Welt


Drei auffällig hübsche Mädchen kommen uns entgegen, empfangen uns mit der typischen Art der Tuaregfrauen, einer Mischung aus Schüchternheit und Flirt. Wir wandern hinter den drei Schönheiten her immer tiefer in den schattigen Palmengarten.“ (2, S. 96 - 99) „Die Art, wie sie uns empfingen, war voller Erhabenheit.“ (3, S. 139) „Es ist wie ein Traum.“ (2, S. 151) „Nur noch einige Augenblicke betrachte ich ungläubig die märchenhafte Umgebung, die im Feuerschein flackernden, mit Teppichen und Decken behängten Schilfwände, die vom Dachgerüst aus knorrigen Ästen baumelnden Lederutensilien. Unser Gastgeber hockt auf einem bunten, gewebten Teppich, wickelt sich gerade seinen viele Meter langen Turban, den chech, vom Kopf. Während ich sein markantes, beinahe europäisch wirkendes Gesicht betrachte, fallen mir die Augen zu.“ (2, S. 36) „Es war eine imposante, hohe, kräftige Gestalt mit einem schönen, edle, ausdrucksvolle Züge aufzeigenden Kopf.“ (4, S. 363) - Begegnungen mit dem Volk der Tuareg - ein Volk wie aus einer „anderen Welt“?

Zerbrechlichkeit


Ein Europäer, Eduard Pisani, gibt das treffsichere Urteil: „Die Tuareg sind von außerordentlicher Kraft, wenn sie eine Waffe in der Hand haben, und gleichzeitig von größter Zerbrechlichkeit. Es gibt nicht ihresgleichen im Kampf, der in ihrem gewohnten Umfeld“ (der Zentral-Sahara) „stattfindet. Wenn der Kampf beendet ist, sind sie meistens zwar Sieger, zugleich aber Gefangene einer immer feindlicher werdenden Umwelt.“ (5, S. 157)

Eine französische Entwicklungshelferin schreibt: „Das Volk der Tuareg, dessen Kultur und moralische Größe nur wenige Menschen kennen, ist in Gefahr unterzugehen. Das Herz blutet mir, während ich das schreibe.“ Und sie setzt fort: „Die Tuareg sind ein stolzes Volk, das nichts so sehr liebt wie seine Freiheit.“ (5, S. 133)

Ein Volk, das keine Rauschgifte, keinen Alkohol kennt, in dem Pornographie verabscheut wird. „Das Kino und die Fotographie stehlen die Seele,“ ist ihr einfaches und klares Urteil (6, S. 105). Ein lebhaftes, geistig regsames, waches Volk, ein Volk, das leicht für „Dummheiten“ zu gewinnen ist. Leicht lassen sie sich auf irgendwelche „Leichtsinnigkeiten“ ein. Doch in einer afrikanischen Bar, wo Alkohol ausgeschenkt wird, wird man Angehörige vieler Volksstämme finden – niemals aber einen Tuareg.

Wie auch (oftmals) wir Europäer sind Tuareg empfindlich, leicht vergrollt, oftmals verstockt, oftmals uneins, entzwei mit sich selbst, mit ihren Angehörigen, mit ihrer Umwelt, der Welt überhaupt. Aber es gibt eben in diesem Volk auch eine andere Seite: eine stolze, lebensbejahende, offene, weltläufige Haltung, ein freies, auf stolzer Unabhängigkeit beruhendes Benehmen.

Der Gesichtsschleier der männlichen Tuareg ist das Kennzeichen dieses Volkes. Nicht die Frauen tragen also in dieser (äußerlich sonst islamischen) Kultur den Gesichtsschleier. Sie gehen vielmehr meist unverschleiert! Nein, in dieser Kultur sind es sonderbarerweise die Männer, die ihre Verletzlichkeit, ihre „Scham“ durch einen Schleier schützen, die durch die Möglichkeiten von Verschleierung und Entschleierung ihren Weg gefunden haben, gegenüber ihrer Mitwelt ihr „Gesicht zu wahren“.

Freilich ist ihnen dabei wohl auch das Unheimliche, Bedrohliche, Abschreckende, Kriegerische, das mit einer Gesichtsverschleierung bei schwerttragenden, kamelreitenden Männern verbunden sein kann, bewußt und wohl auch willkommen. Doch das ist nicht der tiefere Anlaß für das Tragen eines Gesichtsschleiers. „Scham“, Anstand und Würde, das Streben, sich einen leicht verletzlichen Stolz nicht antasten zu lassen, gebietet den erwachsenen Männern gegenüber fremden Menschen, gegenüber Frauen – vor allem gegenüber der hochgeachteten Schwiegermutter – das Tragen eines solchen.

Leben in einer entspannten Atmosphäre


Das Alltagsleben dieses Volkes ist von einer entspannten, wohltuenden Ruhe bestimmt, die uns Europäern wohl in dieser Weise nicht – oder kaum noch – bekannt ist (bzw. leicht in Phlegma, seelische Unlebendigkeit abfallen kann): „Wir vergessen völlig, daß wir heute eigentlich noch nach Mertoutek wollen. Wieder einmal fühlen wir uns in der Gesellschaft von Tuareg äußerst wohl, genießen die Entspannung und das anregende Getränk. Es wird nicht viel geredet. Hektik und Aufdringlichkeit ist diesem Volk unbekannt,“ berichten Münchener Motorrad-Reisende (2, S. 93).

(Wir) genießen Entspannung, Kühle, Tee und die immer wieder so unbeschreiblich angenehme Atmosphäre in der Gesellschaft von Tuareg.“ (2, S. 151) All das liegt natürlich an den Menschen selbst. Europäische Reiseeindrücke lauten: „Grazie und Vornehmheit zeichnen unsere Gastgeberin aus.“ „Ich bin betroffen von der Sanftheit im Blick einer Tuaregfrau.“ „Wir verlassen das Lager, wo uns die Tuaregfrauen so gut aufgenommen haben: die Eleganz der Bewegung und das sanfte Lächeln dieser Frau scheinen uns ‚Gute Reise‘ zu wünschen.“ (7) „Alle sind außerordentlich zurückhaltend,“ so auch ein junger französischer Mönchs-Missionar: „die Atmosphäre ist sehr gesund.“ (8, S. 86)

Stolz, Vornehmheit und Liebe zu schönen Dingen


Als sie eintraten, breitete sich ein Schweigen im Saal des Restaurants aus – mit einem Schlag, allein durch ihre Anwesenheit, hatten sie dem (Film-)Team den größten Respekt eingeflößt,“ schreibt ein französischer Filmregisseur über seine Zusammenarbeit mit Tuareg bei der Produktion des Filmes „Der Himmel über der Wüste“. (3, S. 137)

Der Hamburger Afrikareisende Heinrich Barth, der als einer der ersten Deutschen und Europäer in das Innere Afrikas eindrang, sprach von „dem männlichen, freien Benehmen, das niemand verfehlen kann, selbst an einem gewöhnlichen Freibeuter der Tuareg zu bewundern.“ (4, S. 145) Wie tief die Persönlichkeits-Werte des Volkes der Tuareg ihn beeindruckt hatten, stellten Barths Verwandte fest, als dieser 1855 34-jährig nach fünfjähriger aufreibender Forschungsreise aus Afrika zurückkehrte: „Sein Auftreten hatte das Ernste und Würdevolle, Zurückhaltende, Stolze, fast Hochmütige im Benehmen der Wüstensöhne angenommen.“ (4, S. 427)

„Das traditionelle Erscheinungsbild der Tuareg: der fürstliche Gang, der stolze Blick, die natürliche Mischung von Hochmut und Adel,“ erläutert ein französischer Fotograph eines seiner Bilder. (7) Ein dänischer Völkerkundler berichtet:

Eine andere Eigenschaft, die allen Tuareg eigen ist, vor allem denen der Adelsschicht, ist ihr ‚Vornehmtun‘ (ihr ‚Snobismus‘). So benennen es regelmäßig viele in Tamanrasset und Agadez ansässige Franzosen. ... Das Verhältnis der Tuareg zur Etikette ist nicht leicht in Worte zu fassen. Gang, Gesten und Körperhaltung drücken Eigenschaften wie Eleganz, Arroganz, Feinheit und Kraft aus. Wertschätzung hinsichtlich Kleidung und Schmuck ist eine weitere Eigenschaft aller Tuaerg. ... ‚Bedeutend und wichtig‘ zu sein, ‚Prestige zu besitzen‘ hat große Bedeutung für die Tuareg. Sie sind viel anspruchsvoller als alle anderen Menschen ihres Landes.“ (9, S. 14f)

Ein deutscher Reisejournalist, der an einer Tuareg-Karawane teilnahm, berichtet von einem schon älteren Tuareg: „Als einziger der Gruppe ist er mir gegenüber noch mißtrauisch, zieht seinen alten tagelmust(Gesichtsschleier) „fast grimmig über Mund und Nase, wenn ich ihn nur anschaue.“ (10, S. 80) „Das faltenreiche, dunkelblaue Übergewand wirkt zusammen mit dem gegürteten Schwert wie die Toga eines vornehmen Römers.“ (10, S. 78)

Am tiefsten läßt wohl der folgende Bericht in die Welt, die soziale Atmosphäre im Leben der Tuareg blicken: „Was die Anpassung angeht,“ berichtet der schon erwähnte junge, idealistische Mönchs-Missionar aus Frankreich, der sich darum bemühte, völlig in der Kultur der Tuareg aufzugehen und selbst in Kleidung und Verhalten ein solcher zu werden – wobei er seitens der gastfreundlichen Tuareg aufnahmebereite Unterstützung fand:

Bei der Suche nach der Anpassung um jeden Preis riskiert man, einen Umweg über den ‚Geist der Welt‘ der Tuareg zu machen: sich männliches Prestige zu sichern, vor allem gegenüber den Frauen. ... Liebe zu festlichen Kleidern, Waffen, zur Jagd, zu allen möglichen guten Dingen, Tieren und verlockenden Gegenständen.“ (8, S. 95)

Ein Tuareg-Sprichwort lautet: „Was wünscht sich der edle Tuareg? Ein weißes Kamel, einen roten Sattel, sein Schwert und ein Lied beim Ahal!“ (11, S. 5) Ahal ist das typische Tuareg-Fest mit Kamel-Wettreiten und gemeinsamem Singen zur Tuareg-Geige (der Imzad) in den fruchtbaren Jahreszeiten. „Mit Begeisterung“ spricht eine Tuareg-Frau gegenüber einer nordamerikanischen Völkerkundlerin „über das Parfüm, die Kleidung und den Schmuck, die auf den Festen getragen werden und sie liebt die lieblichen Gerüche in der Luft während der“ – den Festen ähnelnden – „Geistheilungs-Versammlungen. Das Parfüm wird von den jungen Männern auf den Festen ebenso wie während der Geistheilungs-Versammlungen getragen und hat“ – in targischen Augen – „auch Einfluß auf die Geister.“ (12, S. 19)

Geistheilungs-Versammlungen als wichtige soziale Technik


Ein wichtiger Bestandteil der Kultur der Tuareg ist ihre Ansicht, daß Menschen vom Kel assouf, vom „bösen“ oder „unholden Geist“, dem Geist eines verstorbenen Menschen befallen werden können. In Europa wurden solche Geister „Wiedergänger“ genannt oder ähnlich. In der Vorstellung, daß die Seele eines Menschen von dem Geist eines gestorbenen Menschen befallen werden kann, schwingt vielleicht eine Ahnung darüber mit, daß auch körperlich lebendige Menschen seelisch in den Zustand des „Gestorbenseins“ hineingeraten können, und daß sich ein solcher Zustand für das Gemeinschaftsleben ungünstig auswirkt.

Die Tuareg haben nun interessante soziale Techniken entwickelt, um ihren Volksangehörigen – und damit ihrem Volk insgesamt – in einem solchen Falle helfen zu können. Solche vom Kel assouf befallenen Menschen werden in eigens dafür einberufenen Versammlungen, die den üblichen Festveranstaltungen fast gleichen, in die Mitte der Gemeinschaft genommen. Es wird wie auch auf den Festen gesungen, musiziert, ja geflirtet. Die „erotische Komponente“, die bei den Festen eine so große Rolle spielt, kommt auch bei diesen Heilversammlungen zur Geltung. (11, S. 17 u. 294)

Dabei wird den vom Kel assouf befallenen Menschen Gelegenheit gegeben, ihre innerseelischen Probleme und Konflikte im Rahmen und vor dem Hintergrund einer sowohl an ihren Problemen interessierten, wie auch sich distanziert gebenden Gemeinschaft mit sich selbst auszudiskutieren und zu lösen.

Dies geschieht vor allem durch und in die Einbettung in die targischen Kulturelemente Musik und Gesang, festliche, fröhliche Stimmung. Diese soziale Technik erlaubt es den Tuareg, ganz individuelle Probleme (Eheprobleme, Eifersucht, Untreue und anderes) vor dem Hintergrund einer zurückhaltenden, aber verständnisvollen und anteilnehmenden Gemeinschaft mit sich selbst auszudiskutieren. Und dies kann geschehen, ohne daß man dabei gegenüber den eigenen Freunden und Verwandten das Gesicht verliert. Diese „Geistheilungs-Versammlungen“ nehmen neben den Festen eine zentrale Stellung in der Tuareg-Kultur ein. (12, S. 148f)

Die Verbindung von Frau und Mann


Die Verbindung von Frau und Mann wird in vielen Liedern der Tuareg – zum Teil in erschütternder Weise – besungen. Dies geschieht vor allem auf dem Ahal, den festlichen Versammlungen in den fruchtbaren Jahreszeiten. Hier berichten die meist nur mündlich überlieferten und immer wieder abgewandelten Lieder davon, wie ein Mann allein in die Wüste reitet. Nur die Erinnerung an das Zusammensein mit der geliebten Frau läßt ihn die oft wochenlangen Einsamkeiten der Wüste ertragen. Er sehnt sich nach seiner Frau zurück – trotz seiner heldischen Lebensauffassung. Er möchte nicht mehr weiter in die Wüste reiten und so weiter. (13)

Wie in vielen anderen Einzelheiten der Tuareg-Kultur scheint auch hier wieder die innere „Zerbrechlichkeit“, die Empfindsamkeit der Tuareg bei gleichzeitigem heldischem Ideal auf. Es scheint fast, als ob Menschen und Kulturen, die nicht bereit sind, dieses Spannungsverhältnis in ihrem Innern auszuhalten, in einer Umwelt wie der Zentralsahara nicht dauerhaft zu überleben geeignet sind.

In der den Menschen übewältigenden Einsamkeit und Trostlosigkeit der Sahara schöpfen die Tuareg ihre große Lebenskraft und ihren Lebensoptimismus vor allem aus der Verbindung zwischen Mann und Frau. Diese ist für dieses Volk vielleicht noch wichtiger als für viele andere Kulturen.

Doch kann man sich beim Umsinnen dieser Tatsachen auch die Frage stellen, ob die gegenwärtigen „sozialen Wüsten“ in der Mitte Europas nicht ähnliche Lebensverhältnisse schaffen, wie jene, mit denen sich die Tuareg ihr Leben lang auseinanderzusetzen haben: „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt,“ sagte schon das bekannte Nietzsche-Wort im vorvorigen Jahrhundert. Ganz sicherlich geht von dem Gefühl, einer solchen Entwicklung weitgehend abwehrlos ausgeliefert zu sein, ein Großteil der Faszination aus, die die (psychologischen) Überlebensstrategien der Tuareg-Kultur auf viele Europäer ausüben. Auch die europäische Kultur ruht auf zerbrechlicheren Grundlagen, als viele ahnen. (Von diesem Umstand her müßte eine tiefergehende philosophische und psychologische Bewertung und Einordnung des Volkslebens der Tuareg sicherlich ihren Ausgangspunkt nehmen.)

Der Mann mit dem schwarzen Bart



Auf jeden Fall wird deutlich und verständlich, wie wichtig, existentiell die Verbindung zwischen Mann und Frau und das Geschehen, das sich dabei abspielt, für die Kultur der Tuareg ist und auch sein muß. Auch Eifersucht, Treulosigkeit, Trauer, innere Erregtheit bei äußerer Wahrung des Gesichtes spielen hier eine große Rolle. Ein großer Teil der Probleme, die auf den Geistheilungs-Versammlungen in den überlieferten Lied- und Musikformen in formeller und informeller Weise „ausdiskutiert“ werden, sind Eheprobleme oder haben allgemein mit der Verbindung zwischen Mann und Frau zu tun.

Ein deutscher Völkerkundler weiß hierüber manches zu berichten, das Gesellschaften, in denen immer noch – mit tiefer innerer Berechtigung – die lebenslange Einehe das kulturelle Ideal darstellt, vordergründig recht fremd erscheinen muß: „Scheidungen werden von beiden Seiten betrieben. Hat eine Frau von ihrem Mann genug, bittet sie ihn, sie zu ‚verstoßen‘. Folgende Verse wurden von einer Frau gedichtet: ‚Ich habe einen Mann gesehen mit schwarzem Bart. Er hat mich so verwirrt, daß mir aus der Hand fiel, was darinnen war, daß ich mich nackt glaubte, obwohl mit drei Gewändern bedeckt. Mit ihm Ehebruch begehen, das werde ich nicht tun, Ehebruch ist Unehre. Mein Wunsch ist: Ich möchte verstoßen werden.‘“ (11, S. 20)

Aber auch eine amerikanische Anthropologin berichtet mit einer gewissen Verständnislosigkeit von der tiefen inneren Erregtheit, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen kann: „Zum Beispiel schämte sich eine Freundin, mit in gelegentlicher Unterhaltung zu sagen, daß sie ein bestimmtes Dorf gegenüber ihrem jetzigen Wohnort bevorzugte. ... Das erste war das Zuhause ihres Ehemannes und eine Offenbarung dieser Bevorzugung würde gleichbedeutend damit sein zuzugeben, daß sie ihren Ehemann zu sehr liebt.“ (12, S. 20)

In der eingangs erwähnten Palmgarten-Szene berichten Münchener Motorrad-Reisende „von der Karawane im Qued Dehine. Zwei der drei Frauen werden ganz aufgeregt, als Abdul übersetzt. Offenbar sind ihre Männer dabei.“ (2, S. 99) Ist unser europäisches Abendland zu „alt“ geworden, um zu verstehen, was bei all dem insgesamt der bewegende Moment ist? Müßten wir 16-jährige „Teenager“ sein, um all das noch verstehen zu können?

Das können wir nicht, diese Schönheiten vertreiben.“


Und welche – orientalischen – Geschichten erzählen sich die Männer auf ihren Karawanen, „wenn sich der Tag endlos hinzieht und abends die Kälte kommt“? „Der“ – schon erwähnte – „‘Römer‘, unser alter vitaler Geschichtenerzähler, hält wohl am stärksten die Karawane zusammen – er macht sich dadurch selbst am meisten Mut und unterhält auch die anderen.“ (10, S. 80) (Von der Kälte der saharischen Nächte machen sich viele, die niemals dort waren, keinen rechten Begriff.) Es sei an dieser Stelle etwas ausführlicher eine dieser Geschichten wiedergegeben, da sie so gut in das ehrenhafte, freundliche, seelisch hinaufreißende Leben dieses Volkes einführen kann:

Es passierte in den 1950er Jahren, zur Kolonialzeit. Mein Bruder diente bei den Franzosen in der Kamelreitertruppe. Sie sollten ein Gebiet im Air freimachen, damit es als Kamelweide geschützt wäre. Auch die Bewohner einer winzigen Siedlung – sie hatten nur vier Hütten – mußten verschwinden. Soldaten gingen zur ersten Strohütte. Zwei wunderschöne Mädchen saßen darin. Sie liefen zurück und sagten: ‚Das können wir nicht, diese Schönheiten vertreiben.‘ Mein Bruder antwortete: ‚Das will ich doch sehen, ob man es nicht kann.‘ Er ging hinein, erstarrte ehrfürchtig und berichtete seinem Chef, dem Unteroffizier: ‚Bei Allah, so schöne Frauen habe ich noch nicht gesehen. Ich kann sie nicht wegjagen.‘ Der Unteroffizier wunderte sich: ‚Soldaten, die sich vor zwei Frauen fürchten, wo gibt es sowas?‘ und eilte selbst hin. Sah die beiden lange an. Von oben nach unten und umgekehrt. Dann sagte er nur ‚Entschuldigung für die Störung‘ und ging wieder. Seither blieben sie im Lager und konnten dort weiterleben.“ (10, S. 76f)

Fröhlichkeit und Lebendigkeit der Tuareg


Als Gegengewicht zu den menschenfeindlichen Entbehrungen der wüstenartigen Umwelt, in der die Tuareg von ihrer Geburt bis zum Tod leben, pflegen sie auch eine ausgeprägte Lebensfröhlichkeit und Lebendigkeit ihrer Kultur. Die Münchner Motorrad-Reisenden berichten von ihrer Rast an den vielen natürlichen Wasserbassins des sogenannten „Paradies-Canyons“ wiederum von einem Erlebnis, demgegenüber mancher Mitteleuropäer noch Fremdheit empfinden wird: „Als wir um einen großen Felsen herumschwimmen, ein zweites, engeres Becken erreichen, sind plötzlich fröhlich lachende Frauenstimmen zu vernehmen. Was wir dann sehen, läßt uns gleich mitlachen: Der Lehrer des Dorfes, ein junger, gutaussehender Targi amüsiert sich mit drei Dorfschönheiten beim Bade.“

Die vier, splitternackt wie wir, sind bei unserem Anblick alles andere als peinlich berührt. Vor allem die drei Mädchen kriegen sich vor Lachen und Schäkern überhaupt nicht mehr ein. Wieder einmal stellen wir fest, daß es innerhalb der muslimischen Lebensart verschiedene Welten gibt. Für die gläubigen Araber des Nordens mit ihrem strengen Moralkodex wäre undenkbar, was in der relativ liberalen, matriarchalisch beeinflußten Kultur der Tuareg selbstverständlich ist.“ (2, S. 152f)

Und der Tuareg-Führer Mano Dayak erläutert dies dahingehend: „Bei uns braucht die Targia den angeblichen Schutz, den ein radikaler Isalm für die Frauen vorsieht, nicht. Sie läuft niemals Gefahr, ein ‚Sexualobjekt‘ zu werden. Kein Mann würde es je wagen, ihr den gebührenden Respekt zu verweigern oder sie gar zu belästigen.“ (5, S. 49)

So auch die Erfahrung von Europäern: „Susanne verspürt als wohltuenden Gegensatz zu den Arabern des Nordens, daß sie als ganz normaler Mensch behandelt wird und nicht als potentielles Sexual- oder gar Schauobjekt.“ (2, S. 93) Diese targische Hochachtung vor der Frau ermöglicht den targischen Frauen einen selbstsicheren, vertrauensvollen Umgang mit den Männern. Die nordamerikanische Völkerkundlerin berichtet von jener Sitte bei den Tuareg, die sowohl größte Faszination wie größte Abstoßung bei Europäern – ganz unterschiedlichster moralischer Einstellungen – hervorruft:

Am nächsten Morgen hörte ich Abdullah, den Bruder von Moussa, scherzhaft darüber reden, wie viele Männer nach der Geistheilungs-Versammlung gegangen wären, um nach den Frauen zu sehen. Für Männer ist es gebräuchlich, nachts nach Festen jeder Art, einschließlich jener Riten für Menschen, die von der Seele eines Gestorbenen befallen sind, nach den Frauen zu sehen, wenn sich alles zurückgezogen hat. (Doch kann ein Mann auch aus dem Zelt einer Frau hinausgeworfen werden, wenn sie seine Aufmerksamkeiten nicht wünscht.) Wenn junge Männer über die Heilungs-Versammlungen sprechen, sind es – mehr als die Versammlungen selbst – diese Stelldicheins, von denen sie am häufigsten sprechen.“ (12, S. 17)
 
Abb. 2: Männer der Tuareg im Niger, 1997, Fotograf: Dan Lundberg (Wiki)
 

Die „leichten Sitten“ der Tuareg ...


(Es werden an dieser Stelle die Einwände aller jener übergangen, die ein derartiges, hier beschriebenes Verhalten schon an sich für „sittenlos“ halten, ganz unabhängig von der Einbettung desselben in die übrigen Kulturelemente, die Lebensweise und Lebenshaltung eines Volkes. Stattdessen wird in der Schilderung einfach fortgefahren.) „Schamhaft verhüllen die Frauen ihre Nase, wenn sie sich im Lager von einem Fremden beobachtet fühlen.“ (7) Doch auch der Hamburger Afrikaforscher Heinrich Barth bestätigt die „leichten Sitten“ der Tuareg. Man hat den Eindruck, so manches „Oasen-Bild“ europäischer Dichter (wie etwa Nietzsches oder Ibsens) ist seinen Schilderungen entnommen. Barth erzählt nämlich von den „übermütigen Emgedesierinnen“:

Am nächsten Morgen hatte ich einen noch auffallenderen Beweis der leichten Sitten von Agadez. Fünf oder sechs Mädchen oder Frauen kamen in unser Haus, um mir einen Besuch abzustatten, und luden mich mit großer Einfachheit ein, mit ihnen lustig zu sein, da es jetzt bei der Abwesenheit des Sultans nicht mehr nötig sei, zurückhaltend zu sein. Es war in der Tat unterhaltend, zu sehen, welche Schlüsse diese Sünderinnen aus dem Motte ‚sserki yatafi‘ zogen und mit welcher Frivolität sie mich unter vielem Gelächter um ein zweideutiges ‚magani-n-tscheki‘ baten.

... Sie gehen unverschleiert, ziehen aber gelegentlich, mehr aus Koketterie als aus Schamhaftigkeit, ein Obergewand über den Kopf.“ – Ohne die deutsche Übersetzung zu den angeführten targischen Ausdrücken anzuführen, beendet der christlich erzogene, deutsche Forscher seine Ausführungen hier mit den Worten: „Diese Emgedesier Fräulein oder Frauen gingen in ihrem Übermut jedenfalls etwas zu weit.“ (4, S. 188f)

... und die „christo-maskulinen Interessen“ der Europäer


Was die Frauen angeht,“ so notiert ganz auf der gleichen Linie liegend der junge Mönchs-Missionar aus Frankreich: „Provoziert durch die umgebende Mentalität ... ist man gezwungen, den Beweis der Männlichkeit zu erbringen; der isolierte Missionar hat praktisch ständig Gelegenheit zur Sünde. Die grundsätzliche Schwierigkeit besteht vielleicht darin, daß er sich fürchtet, als abnormal, krank, Eunuch, homosexuell oder als Monster angesehen zu werden. Denn in dieser Gesellschaft wird das Ansehen mehr als anderswo durch die Frauen bestimmt. Es ist also ratsam, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Flucht vor wirklich provozierenden Gelegenheiten und einer einfachen Freundlichkeit, einem ‚christo-maskulinen‘ Interesse für die Tuareg-Damen.“ (8, S. 95)

Wie erstaunlich! Selbst der sittenstrenge, katholische Mönch kommt zu einem im Ganzen merkwürdig positiven Urteil. Er scheint deutlich über der „Moral“ seiner Religionsgemeinschaft zu stehen, wenn er weiter fortsetzt: „Die Sitten sind gesund. Es ist wahr, daß die Ehe leicht geschlossen und noch leichter wieder geschieden wird. Einige junge Leute weisen eine Aktivität in zwanzig bis dreißig aufeinanderfolgenden Ehen auf. Aber man findet auch Ehen, die ein ganzes Leben halten.“ (8, S. 51) Tatsächlich: Dieser katholische Missionar versucht das Leben anderer Völker nicht der eigenen (europäischen) Moral zu unterwerfen! Wie mag man das als wohltuend empfinden. Wie kann man bei seinen Urteilen innerlich aufatmen.

Ihre Freiheit, ihre Leichtlebigkeit ... und auch ihre große Schönheit.“


Nein, wer die adlige Gesinnung und den Schönheitssinn der Tuareg nicht in seinem Herzen trägt, wird ihnen und ihrem Leben niemals wirklich gerecht werden können. – Aber wie leicht kann man sich über seine eigenen Gesinnungen täuschen!

Doch der unmittelbare Kontakt mit diesen Menschen verscheucht – wie so oft – manche Blödheit: Einer der französischen Regisseure des Spielfilms „Der Himmel über der Wüste“ machte erst anläßlich der Dreharbeiten seine erste Bekanntschaft mit diesem Volk. Hierbei merkte er bald, von wie vielen Vorurteilen er zuvor den Tuareg gegenüber erfüllt gewesen war. Ursprünglich ließ der Drehbuch-Autor seines Films in effekthaschender Weise eine weiße Frau, die sich in der Wüste verirrt, durch die Tuareg einer Karawane mißbrauchen. Eine solche Szene kam ihm schon bald sehr unrealistisch vor. Der Regisseur suchte sich deshalb durch persönliche Begegnung selbst ein Bild von diesem Volk zu verschaffen:

Als ich das erste mal nach Agadez kam, bat ich darum, mit ungefähr zwanzig Tuaregfrauen und – männern zusamenzutreffen. Ich habe zunächst mit den Frauen gesprochen. Ich forderte sie auf, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, von der Liebe zu reden. Die erste hieß Azahra, sie hatte mit zwölf Jahren geheiratet, sich mit dreizehn scheiden lassen. Mit dreizehneinhalb hat sie erneut geheiratet. Als ich sie traf, war sie sechsundzwanzig, hatte drei Kinder und war Witwe. Wie Azahra, die auch im Film mitspielt und die eine liebe Freundin geworden ist, erzählten mir alle unter fröhlichem Gelächter von ihren verschiedenen Ehescheidungen. Ich entdeckte ihre Freiheit, ihre Leichtlebigkeit ... und auch ihre große Schönheit.“ (3, S. 138)

Der Hamburger Barth berichtet ebenfalls, daß sich die Tuareg zumeist „mit einem einzigen Weibe begnügen; allerdings scheiden sie sich von diesem, wenn es alt wird oder sie seiner überdrüssig werden, und füllen seinen Platz mit einem jüngeren, hübscheren aus.“ (4, S. 124) In folgenden Beiträgen wird es darum gehen müssen, all diese Sachverhalte tiefergehend auszuloten und zu den üblichen Erfahrungen europäischer Kultur in Beziehung zu setzen. In der isolierten Form, in der sie hier angeführt werden, können sie natürlich – gerade bei einem solchen Thema – trotz allem in jeder nur denkbaren Weise Mißverständnisse hervorrufen.

Mit einem Tuareg-Häuptling hatte Barth das folgende Erlebnis: „Um wieder eine Heirat mit irgendeinem hübschen Amoscharh-Mädchen, einige vierzig Jahre jünger als er selbst, schließen zu können, versuchte seine ganze Schlauheit, mir das Geständnis abzulocken, daß ich etwas von meiner Ausstattung zu seinem Besten entbehren könne, ein Paar Pistolen, einen Teppich, einen Burnus oder was sonst. Obwohl dies nun gleich keinen Erfolg hatte, so wurde er doch nicht unhöflich, sondern schien eher an meinem Verhalten im allgemeinen Gefallen zu finden.“ (4, S. 100f)

Das Beste zu geben


Es ist nämlich doch darauf hinzuweisen, daß die „leichten Sitten“ der Tuareg nicht losgelöst von der Gesamtheit ihrer Kultur gesehen werden können. Erst in dieser Gesamtheit machen sie Sinn und geraten nicht in die Gefahr, von „europäischen Einstellungen“ in diesen Fragen mißverstanden zu werden. So komme als ein erster Hinweis auf die übrige Gesamtheit abschließend noch einmal der schon angeführte Filmregisseur zu Wort. In einem zweiten Teil des vorliegenden Beitrages sollen viele bisher nur angedeutete Charakterzüge der Tuareg-Kultur dann eine weiterführende Erläuterung erfahren.

Wir waren im Süden Algeriens, und jetzt galt es, fünfzig Kamele unter der sengenden Sonne der Sahara vor die Kamera zu bringen. Den Algeriern gelang das nicht und noch viel weniger den Franzosen. Da bat ich Mano“ (Mano Dayak, ein bekannter Tuareg, Gründer eines sehr erfolgreichen und wirtschaftlich wichtigen Tuareg-Reisebüros in Agadez) „die Sache in die Hand zu nehmen. Er ließ einige seiner Tuareg-Freunde kommen. Sie sind in Agadez aufgebrochen, drei Tage und Nächte ohne Pause durchgefahren und waren dann eines Abends bei uns. Als sie eintraten, breitete sich ein Schweigen im Saal des Restaurants aus – mit einem Schlag, allein durch ihre Anwesenheit, hatten sie dem Team den größten Respekt eingeflößt. ... Und dann rissen sie das Team einfach mit sich. Wenn die Franzosen erschöpft waren, wenn die Algerier müde wurden – dann lachten sie, gingen voran, und die anderen wurden einfach mitgezogen.

Ich wußte vorher nichts über die Tuareg, war voller ärgerlicher Vorurteile, so wie alle Welt sie mit sich herumschleppt: Tuareg mit undurchdringlicher Miene auf dem Gipfel einer Düne aus brennend heißem Sand. Aber die Wirklichkeit war viel stärker.“ (3, S. 137)

Und wenn nun noch seine folgenden Worte angeführt werden, so möge sich doch der Leser immer wieder daran erinnern, daß hier nicht von irgendeinem Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ oder irgendeinem romantischen Traum die Rede ist, sondern von einer Wirklichkeit unserer Zeit: „Was heute“ (1990 – 1992) „den Tuareg zustößt, macht mich um so betroffener, als sie den Krieg ablehnen. Ich weiß nicht, was wir ihnen beibringen können, aber ich weiß, was ich von ihnen gelernt habe: mein Bestes zu geben. Indem wir mit ihnen arbeiten oder mit ihnen zusammen sind, entwickeln wir in uns unsere edelste Seite. ... Im Gegensatz zu uns, die wir sehr verwöhnt und zum größten Teil privilegiert sind und die wir nicht aufhören, uns zu beklagen oder um irgendetwas zu betteln, egal, um was, verlangen sie nur Achtung und natürliche Anerkennung. Die Tuareg sind zutiefst würdevolle Menschen: Sie verlangen nie mehr als das, was ihnen ihrer Meinung nach zukommt.“ (3, S. 139f) Im Grunde wird sich kaum ein Leser dagegen wehren können, solche Worte als etwas bloß Märchenhaftes zu empfinden – wenn er ehrlich zu sich selbst ist.

Erst wenn er sich diesen Sachverhalt klarmacht, wird ihm nun die Schwergewichtigkeit des folgenden Urteils eingehen, mit dem der genannte Regisseur seine Eindrücke zusamenfaßt: „Die Tuaregfrauen und –männer sind erfahrene Menschen, und sie leben ihren Sitten mit großer Authentizität. Es gibt zweifellos auf unserem Planeten immer weniger Völker, die einem zeigen können, wie man ein wahrhaftiges Leben lebt.“ (3, S. 138) – Natürlich: Solche Aussagen müssen in der heutigen Zeit als eine maßlose romantische Verklärung empfunden werden, die mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun haben kann. Oder die – nicht wahr, lieber Leser? – für unser eigenes Leben ohne jede Bedeutung ist.

Erich Meinecke

/Diesem Beitrag folgt noch ein --> 2. Teil./

Schrifttum


Einleitendes Gedicht: (1, S. 39).
  1. Sommer, Heike Miethe (Hrsg.): Poesie der Tuareg. Verlag Wendelin Niedlich, Stuttgart 1994
  2. Troßmann, Thomas: Wüstenfahrer. Mit dem Motorrad durch das Land der Tuareg (Erlebnisberichte, Reisetips, Länderkunde) Verlag Frederking u. Thaler, München (3. Aufl.) 1992
  3. Moszkowicz, Fernand: Persönliche Begegnungen. In: siehe 5, S. 137 – 140
  4. Barth, Heinrich: Die große Reise. Forschungen und Abenteuer in Nord- und Zentralafrika 1849 - 1855. Edition Erdmann in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 1986
  5. Dayak, Mano: Die Tuareg-Tragödie. Horlemann-Verlag, Bad Honnef 1996 (Paris 1992)
  6. Dayak, Mano: Geboren mit Sand in den Augen. Unionsverlag, Zürich 1997
  7. Sebe, Alain: Tagoulmoust. Die Menschen mit dem Schleier. Fotos aus der Sahara begleitet von Gedichten der Touaregs. Verlag Karl Schillinger, Freiburg 1982
  8. Ploussard, Jean: Mein Leben bei den Tuareg. Bd. II: Auf den Spuren von Charles de Foucauld. Verlag Neue Stadt, München 1977
  9. Nicolaisen, Johannes: Ecology and Culture of the Pastoral Tuareg. With particular reference to the Tuareg of Ahaggar and Ayr. (Diss.) National Museum of Copenhagen 1963
  10. Gartung, Werner: Durchgekommen. 1.000 Wüstenkilometer mit der Tuareg-Salzkarawane. Pietsch Verlag, Stuttgart‑1987
  11. Göttler, Gerhard: Die Tuareg. Kulturelle Einheit und regionale Vielfalt eines Hirtenvolkes. DuMont-Buchverlag, Köln 1989
  12. Rasmussen, Susan J.: Spirit possession and personhood among the Kel Ewey‑Tuareg. Cambridge University Press, Cambridge/US 1995
  13. Lichtenhahn, Ernst (Prof. für Musik-Ethnologie, Zürich): Die Lieder der Tuareg in der Republik Niger. (Unveröffentl.) Vortrag-Mitschrift, Universität‑Mainz 1995

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen