„Es ist wie ein Traum.“
Die Tuareg -
ein Volk wie aus einer anderen Welt
Europäer erleben den Orient (2. Teil)
Dem Kulturbild des Volkes der Tuareg, das im ersten Teil dieses Aufsatzes (s. hier) in groben Umrissen gezeichnet worden ist, sollen nun noch weitere Einzelheiten hinzugefügt werden. Es stimmt hoffnungsfreudig und ermutigend zu erfahren, daß in anderen Erdteilen – hier also in Afrika, genauer in Nordafrika, und noch genauer: in der Zentralsahara – noch Völker leben, die einem zeigen können, so wurde der erste Teil beschlossen „wie man ein wahrhaftiges Leben lebt.“ Aus diesem Grund wird sich der eine oder andere Leser die eine oder andere der folgenden Schilderungen vielleicht doch einigermaßen dankbar entgegenzunehmen bereit finden.
„Die Karawane ist ein Symbol unserer Werte.“
Zu den wichtigsten Kultur- und Wirtschaftselementen der Tuareg gehört natürlich die Karawane. „Der Anblick dieser weiten Fläche schien unsere wilden, an schweifendes Leben gewöhnten Gefährten nur zu begeistern,“ berichtet der Hamburger Afrikaforscher Heinrich Barth. „Mit angespornter Rüstigkeit“ zog er, so berichtet er, mit seinen Tuaregfreunden „über die unbegrenzte Ebene“ dahin (4, S. 128).
Und der junge französische Mönchs-Missionar nimmt sich vor: „Niemals sagen: ‚ich bin müde, ich habe Hunger, ich habe Durst!‘ Es wäre beschämend für einen Mann, sich derart zu ‚beklagen‘.“ (8, S. 88) Dieser Missionar starb noch in jungem Alter bei den Tuareg. Eine Ursache für seinen Tod mag auch gewesen sein, daß er selbst derartige Tuareg-Ideale bei seiner Arbeit für die Tuareg zu sehr überzogen hatte – ohne die gleiche lebenslange Abhärtung zuvor erfahren zu haben, wie seine Freunde, für die er sich einsetzte.
Er hatte nämlich unter den extremen Lebensbedingungen der Sahara eine Wüstenschule gegründet und geleitet. Aber die Entfernung zum nächsten Krankenhaus war zu groß, als daß ihm bei einem ernsteren Unfall oder Krankheitsfall noch geholfen werden konnte. Aus Begeisterung für die Tuareg und in Nachahmung ihrer Vorbildlichkeit opferte sich dieser Missionar für ein ihm fremdes Volk auf. „Das Tuareg-Volk von Air und ich sprechen Ihnen und der Familie Ploussard ihr tief empfundenes Mitleid aus,“ telegrafierte der örtliche Tuareg-Fürst nach Frankreich an die Mutter des verstorbenen Missionars (8, S. 153). Infolge medizinischer Unterversorgung ist der Tod auch schon in jungen Jahren für die Tuareg nicht ein sehr seltenes Ereignis.
Abb. 1: Umschlagbild eines der vielen wertvollen Bücher über die Tuareg |
„Die Karawane ist ein Symbol, ein Zeichen unserer Werte: Sie ist die Herausforderung, mit der jeder mutige Mann seiner Umwelt entgegentritt. Der Wüste gegenüber darf der Targi keine Schwächen zeigen. Denn wer würde seine Klagen hören? Wer könnte ihn retten?“ (5, S. 8) Vielleicht wird erst jener Mensch, der für einige Monate oder doch besser Jahre das harte Leben der Tuareg geteilt hat, berechtigt sein, ein Urteil über ein etwaiges „sittenloses Leben“ der Tuareg zu fällen. Ein deutscher Reisejournalist jedenfalls, der 1985 an einer der anstrengendsten Karawanen-Züge der Welt, der jährlichen Salzkarawane durch die Tenere (14), teilnahm, berichtet ganz anderes (10, S. 161): „Es waren traumhafte, unwirkliche Tage, jeweils eine Woche im absoluten Nichts.“ Körperlich war er danach – nach eigener Aussage – vollkommen ruiniert. Doch sowohl seelisch wie körperlich – ebenfalls nach eigener Aussage – weitaus „gesünder“ als jemals zuvor.
Die Targia und die tagtägliche Einsamkeit in der Wüste
Von den Tuaregfrauen ist natürlich zu erfahren, daß sie die Tuareg-Ideale ebenso leben, wie ihre Männer. Es ist für einen modernen Mitteleuropäer kaum glaublich, mit wie wenig, mit welch kargem Besitz und unter welchen kargen Lebensbedingungen die Tuareg-Nomaden ihr Leben lang auszukommen gezwungen sind. Doch nie haben sie dabei das Gefühl, ihnen würde etwas fehlen. Dies gilt nicht nur für die Männer (5, S. 47f):
„Ich war immer beeindruckt von unseren Frauen, einmal wegen ihres Mutes, zum anderen wegen ihrer Ausdauer dem harten Leben gegenüber. Die Targia macht immer willig die aufreibendsten Arbeiten: Hirsekörner für die Mahlzeiten zerstoßen, den ganzen Tag über die Tiere tränken, während der langen Abwesenheit der Männer in der Karawanenzeit die Zelte gegen den Wind verteidigen und bewachen.
Die Targia ist stark. Ich habe alte Frauen gesehen, die ganz allein mit ihren Ziegen mitten in der Wüste leben. Einige wollten es von sich aus, andere taten es mehr gezwungenermaßen. Niemals werde ich eine Alte aus Zaners vergessen, die in ihrem isolierten Wadi gefangen war, weil ihre Ziegen ihn nicht verlassen wollten. Jedes Mal, wenn sie versuchte, zu anderen Nomadenlagern zu gehen, kehrten ihre Tiere zu diesem einsamen Wadi zurück. Dreißig Jahre lang hat sie so in der Einsamkeit gelebt.“
Es gibt hier so vieles, was uns Europäern so schwer vorstellbar ist: Infolge der Kargheit der Vegetation müssen die Kamel-Hirten und die Ziegen-Hirtinnen Tag für Tag aufs Neue von den wenigen Wassserstellen, wo sie gemeinsam übernachten, ganz abgelegene, weit verstreute Weidegründe aufsuchen, wobei sie zumeist den ganzen langen Tag über mit ihren Tieren völlig allein sind.
Übereinstimmend wird von ihnen allen berichtet, daß dies das Schwierigste sei, was man als junger Hirte oder als junge Hirtin zu erlernen hätte: das Ertragen der Einsamkeit. Das fällt ja gerade auch einem jungen Menschen – und hier handelt es sich oft noch um Kinder – besonders schwer. Nur wenn man sich all dies vor Augen führt, wird einem klar, daß bei solchen Erfahrungen auch das Zusammenleben zwischen Menschen kulturell sehr hochwertig sein muß – wenn diese Menschen bereit sein sollen, jeden Tag aufs Neue derartige psychische und physische Strapazen ertragen zu wollen (15).
Freundschaft
Und das, was die Tuareg zu etwas kulturell Hochwertigem ausgestaltet haben, das war der Mensch selbst. Denn sie hatten ja nicht viel anderes. Die Ausbildung einer umfangreicheren materiellen (Sachgüter-)Kultur ist ja in einem Nomadenlager gar nicht möglich. Diesen Dingen wird seitens der Kulturphilosophie große Bedeutung zugesprochen und umfangreich erläutert (16, S. 111-136, 275-277). Ohne dies weiter ausführen zu können, werden im folgenden nur einige Erlebnisschilderungen gebracht, die mit den genannten Erörterungen seitens der Kulturphilosophie in vollstem Einklang zu stehen scheinen.
So ist es doch ganz erstaunlich, daß die persönlichen und menschlichen Eigenschaften der Tuareg ihnen auf der ganzen Welt Freunde gewonnen haben. Da sei zunächst einmal auf den Deutschen Heinrich Barth hingewiesen, der einer der ersten Europäer war, der diesem Volk mit Achtung entgegengekommen war (obwohl ihm die damals noch politisch selbständigen und untereinander zerstrittenenen Tuareg-Stämme – z.T. in islamischer Intoleranz gegenüber dem bekennenden Christen – große Schwierigkeiten auf seiner Reise bereiteten und ihn in mehreren brenzligen Situationen sogar mit dem Tod bedrohten).
Über einen Tuareg heißt es bei Barth (4, S. 211): „Ich mußte hier von meinem besten Kel-owi-Freunde Hamma Abschied nehmen. Er war ein in jeder Hinsicht zuverlässiger Mann, ausgenommen vielleicht in Bezug auf das schöne Geschlecht, und ein aufgeweckter Gefährte, dem unsere ganze Gesellschaft, und ich insbesondere, nicht wenig verpflichtet war. ...
Beide“ (der Genannte und sein Verwandter) „waren froh und munter, ohne Ahnung der Zukunft, aber sie zeigten beim Abschiede große Teilnahme, trösteten sich jedoch, mich gewiß einmal irgendwo wiederzusehen. Die Armen! – Beiden war bestimmt, in dem blutigen Kampfe, der im Jahre 1854 zwischen den Kel-geress und Kel-owi ausbrach, zu fallen.“ Kel heißt „Leute von“ und bezeichnet jeweils eine regionale Untergruppe dieses Volkes (17).
Von einem anderen Targi berichtet Barth: „Emeli, welcher ein sehr feines und einnehmendes Wesen hatte,“ „mochte ich doch seiner anständigen Manieren wegen wohl leiden.“ (4, S. 166, 141) Von dem Tuareg-Fürsten Annur berichtet der Hamburger, „daß er ein gerader, zuverlässiger Mann war. Er gab einfach und ohne Umschweife an, was er verlangte; aber nachdem er dies erhalten, hielt er an seinem Worte mit der größten Gewissenhaftigkeit fest.“ Er könne ihm trotz mancher Auseinandersetzungen, die er mit ihm hatte, seine Achtung „nicht versagen, sowohl als einem großen Diplomaten in seinem merkwürdigen kleinen Reiche als auch als einem Manne, ausgezeichnet durch Aufrichtigkeit und Geradheit.“ (4, S. 171, 213)
Diese Achtung beruhte auf Gegenseitigkeit. Im Gedächtnis der Tuareg lebt Heinrich Barth als der erste europäische Forschungsreisende weiter, der ihrem Volk vorurteilslos, mit Achtung und Liebe, statt Feindschaft, Haß und Verachtung entgegengekommen war (5, S. 13). Einem später reisenden Forscher wurde empfohlen, sich immer als der Sohn von Heinrich Barth auszugeben, dann würde ihm nichts passieren und er überall gern und gut aufgenommen werden!
„Aber es ging nicht anders.“ -
Europäische Freundschaft mit den Tuareg heute
Der schon mehrmals
erwähnte und auch zitierte Mano Dayak ist nach 1992 – trotz seiner Ablehnung
des Krieges – der militärische (und politische) Führer des Überlebenskampfes
seines 1-Millionen-Volkes geworden und hat auch Verhandlungen mit der Regierung
des Staates Niger geführt. 1995 verlor er auf einer von ihm selbst – aus
militärischen Gründen in dem sehr abgelegenen Air-Gebirge – ausgewählten und
eingerichteten, zu kurzen Landepiste
an den diese begrenzenden Felsen beim Start des Flugzeuges zusammen mit den
Begleitpersonen das Leben. Er sollte gerade zu weiteren Verhandlungen mit der
nigerianischen Regierung geflogen werden.
Der deutsche Journalist
Michael Stührenberg von der Zeitschrift Geo und seine Frau Judith hatten Mano
Dayak als ihren „besten Freund“ angesehen und waren wie viele andere Freunde
Manos innerhalb seines Volkes und in der ganzen Welt über dessen Tod tief
erschüttert (18, S. 162). Stührenberg berichtet, wie die europäischen Freunde
Manos zuvor richtiggehend eifersüchtig untereinander auf die Freundschaft
dieses Mannes gewesen waren. Die Freundschaft zu ihm veranlaßte viele Menschen,
sich für den Freiheitskampf seines Volkes einzusetzen (18, S. 178):
„Unsere Hilfe für Mano forderte ihren Preis. Sein
‚Kriegsschatz‘ war aufgebraucht. Oft zahlten wir nun an seiner Stelle. Die
Telefonrechnungen ... haben uns regelmäßig ruiniert. Aber es ging nicht anders.
Während ich als Reporter unseren Lebensunterhalt verdiente und, wenn es nicht
reichte, die Bank um Kredite anbettelte, opferte meine Frau Judith ihre Zeit
ausschließlich für die Rebellen. Sie schrieb die Kommuniques, sorgte dafür, daß
sie in die Presse kamen, und erledigte, was Mano in seinen täglichen Anrufen
aus der Wüste an Bestellungen durchgab. Manchmal ähnelte die Rebellion einem
Familienunternehmen.“
Mano Dayak verstand es,
„durch anhaltende Präsenz in den Medien
weiterhin Druck auf“ die ehemalige Kolonialmacht „Frankreich und den Niger auszuüben. Zugegeben, wir halfen ihm dabei.
Doch war es sein Verdienst, denn für keinen anderen hätten wir uns derart
engagiert. Wir konnten Mano nichts verweigern, weil auch er uns nichts
verweigerte. Niemand war großzügiger, niemand selbstloser als er. Er gehörte zu
jener seltenen Spezies, von der es oft heißt, der Umgang mit ihnen mache
Menschen besser.“ (18, S. 178)
Da wandert ein heutiger
Zeitgenosse, gar ein renommierter Geo-Journalist, in das Lager der „heillosen
romantischen Verklärer“ ab! Da glaubt einer an Ideale und an das Edle im Menschen,
ja setzt sich selbst dafür ein – und das, obwohl es sich um ein angeblich so
„sittenloses“ Volk handelt!
„Wir, die Weißen.“
Bei den Tuareg galt und gilt es als vornehm, dunkelhäutig
zu sein, da dies als ein Hinweis darauf angesehen wird, wie reich und wie viele
schwarze Sklavinnen die eigenen Vorfahren hatten. Es gibt also eine
jahrhundertealte Vermischung von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft in
diesem Volk. Auch dieser Umstand bedürfte einer tiefestgehenden
kulturphilosophischen Ausdeutung, um keinerlei Mißverständnisse hervorzurufen.
Aus diesem Grund muß eine solche auch künftigen Beiträgen vorbehalten bleiben.
Weil die adligen
(hellhäutigen) Männer mit den schwarzafrikanischen Sklavinnen und den Frauen
ihrer (früheren) Vasallen Kinder hatten, können sich heute viele Tuareg auf
adlige Herkunft berufen. Trotz der Vermischungen (19) und der daraus folgenden
verschiedenartigen Abstufungen an afrikanischer Dunkelhäutigkeit in ihrem Volk
fühlen sich die Tuareg, die auch eine Berbersprache sprechen (das sogenannte
Tamaschek), sehr selbstbewußt als Weiße.
Dies rief schon bei
vielen Europäern Irritationen hervor. So berichtet etwa der französische
Dritte-Welt-Politiker Eduard Pisani (5, S. 159): „Ich
erinnere mich an eine heftige Diskussion bei Vollmond. Dann ist das Weiß weißer
als weiß und das Schwarz schwärzer als schwarz. In der Hitze der Debatte schlug
mir mein Gesprächspartner seine ebenholzschwarze Hand auf die Schulter und
sagte: ‚Wir, die Weißen ...‘ Er war Tuareg.“
Der Franzose war von
dem Präsidenten des Staates Mali zur Vermittler-Tätigkeit zwischen der
Regierung des Niger und der Minderheit der Tuareg aufgefordert worden. Dies
geschah im Anschluß an die Tuareg-Rebellion, die im Jahr 1990, nach einem
Massaker der Soldaten des Niger an wehrlosen Frauen und Kindern der Tuareg, hervorgelodert
war.
Durch seine Tätigkeit
wurde auch Eduard Pisani veranlaßt, sich unter die „hoffnungslosen“ Verklärer
des Tuareg-Volkes einzureihen (5,
S. 161): „Aber ich
kann mit Bestimmtheit schon jetzt sagen, daß ich die interessanteste Zeit in
meiner langen politischen Laufbahn durchlebte, als ich an der Analyse der
Dialektik von Einheit und Verschiedenheit, der Beziehung zwischen den Ethnien
und Rassen mitarbeitete. In meinem Leben waren das die eindrucksvollsten
Augenblicke sowohl in menschlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht.“
Kein eigener Staat
Zwischen 1880 und 1904, sowie bei ihrer Rebellion während
der deutsch-türkischen Offensive in Palästina in den Jahren 1916/17 haben die
Tuareg erbitterte Kämpfe gegen die Kolonialmacht Frankreich geführt. Der
Freiheitsheld, der bei ihnen noch heute in großem Ansehen steht, hieß Kaossen
ag Kedda (5, S. 17-42; 20, S. 159). Schließlich mußte dennoch ein Arrangement
mit der Kolonialmacht Frankreich gefunden werden. Als dann nach dem Zweiten
Weltkrieg die Staaten Niger, Mali, Algerien, Libyien unabhängig wurden, ist die
Gelegenheit verpaßt worden, den Tuareg ein eigenes Staatswesen zuzuweisen.
Gerade sie hatten vor der Kolonialzeit, wie alte Karten zeigen (4, S. 18f) das
größte politische Einflußgebiet im nordafrikanischen Raum innegehabt (rund um
die Zentralsahara).
Dieser Lebensraum wurde – wie dies etwa auch bei den
Kurden in Südwest-Asien der Fall war – willkürlich auf mehrere afrikanische
Staaten aufgeteilt. Und in diesen werden die Tuareg nun von Angehörigen jener
Volksstämme regiert, aus denen sie früher ihre (schwarzen) Sklaven rekrutiert
hatten, und bei denen deshalb heute immer noch eine traditionelle Abneigung
gegen die „snobistischen“ Tuareg vorherrscht.
Entwicklungshilfe-Projekte, die über diese Regierungen
laufen, erreichen die Tuareg als allerletzte oder vielmehr gar nicht. Zu
solchartigen Benachteiligungen kam die langfristige Klimaverschlechterung, die
nun in mehrjährigen Dürrezeiten (Jahrhundertdürre von 1972 – 74) das trotzige
Ideal der Tuareg „Lieber frei als satt“ (21,
S. 20) bis zur äußersten Grenze des Erträglichen angespannt hat.
„Wo sich früher die
Kühe meines Vaters fettgefressen haben, sind heute Sanddünen,“ erläutert
ein Tuareg-Führer (22). – Manchmal kommt die Entwicklungshilfe jedoch auch an.
– Und schon wieder verwandeln sich Alltagsmenschen in hoffnungslose Verklärer
und Träumer (22): „Nirgendwo in Afrika werden
die deutschen Helfer so gepriesen, wie hier im Norden Malis.“ „‘Ohne deutsche
Hilfe wären wir nicht mehr am Leben.‘ Der Mann, der dies sagt, ist kein
untertäniger Almosenempfänger. Aboure Ag Mohammed trägt den Kopf hoch und ist
ein Anführer der Tuareg, des stolzen Wüstenvolks.“ Wie schaffen es die
Tuareg selbst noch in der größten Armut ihren Mitmenschen Achtung abzugewinnen?
Wie bleiben sie noch als Bettler Könige? Sollte dies nicht nachdenklich machen?
Die Wüste
Erstaunlich bleibt es allemal,
daß auch – oder gerade? – in der Wüste der Zentral-Sahara ein so lebensfrohes
Volk existiert, das so viele abgebrühte Europäer zu begeistern und zu
faszinieren in der Lage zu sein scheint, wenn es sich nur so gibt, wie es ist.
Daß das folgende tatsächlich auch über Menschen (und nicht nur über Pflanzen
und Tiere) gesagt werden kann, mag als allergrößtes Wunder erscheinen (23,
S. 7f):
„Es ist bewegend und erregend zu beobachten, wie die Erde in
unbeirrbarem Drang selbst dort etwas Lebendiges hervorzubringen trachtet, wo
scheinbar nichts mehr gedeihen kann. Wer hat nicht schon einmal vor
Verwunderung vor einem Felsenriß oder vor einem winzigen Sprung in einem
Gemäuer gestanden, aus dem sich ein Strauch oder nur ein Grasbüschel
hervorgezwängt hat! ... Dasein, nur dasein ... das ist ihr Gesetz. Eine Stätte
kann noch so unwirtlich, leer, tot, verdorrt oder eisig sein, es finden sich
dennoch Geschöpfe, die imstande sind, hier ihr Leben zu fristen. ...
Die Namen, die der Mensch den abgeschiedenen Orten gibt,
Namen des Todes, der Verfluchtheit, der Hölle, der Trostlosigkeit, verraten,
wie verhaßt ihm diese Landstriche sind und wie sehr er sich vor ihnen fürchtet.
Aber das Leben fürchtet sich vor nichts. Es nützt die geringste und
allergeringste Gelegenheit gierig aus, um sich zu verkörpern, auch im Tal des
Todes, auch auf dem Teufelsfelsen, auch in der Steppe des Grauens, auch in der
Sorge-Bucht, auch am Hunger-Kap. Warum? Der Erdball hat doch gedeihliche, üppige,
gesegnete Landstriche und Gewässer genug und übergenug. Warum muß gerade hier
geblüht und gelebt werden? Das Leben antwortet nicht. Es blüht und lebt.“
Die Kinderliebe der Tuareg
Und so sei denn
abschließend möglicherweise nur noch auf eine „Nebensächlichkeit“ im Volk der
Tuareg hingewiesen. Eine Nebensächlichkeit? Gibt es überhaupt irgendetwas
Nebensächliches in dem Leben eines lebendigen Volkes? „Das Verhalten schon der jungen Tuaregfrauen,“ so wird von mehreren
Seiten unabhängig voneinander immer wieder bestätigt, „ist von einer großen Liebe zu ihren Kindern geprägt.“ (24, S.
111f; 5, S. 142) Anläßlich einer
zufälligen Szene, in der eine Tuareg-Frau sich um ein Kind sorgt, schreibt ein
französischer Fotograph (5, S. 142): „Bei ihnen ist
jede Bewegung, selbst die alltäglichste, schön.“
Auch diese Aussage
könnte wieder in Beziehung gesetzt werden zu wesentlichen Aussagen in der
Kulturphilosophie. Der französische Missionar und Mönch, der bei den auch im
Islam nicht sehr gesetzesfesten Tuareg mit seinen Missions-Bemühungen keinen
großen Erfolg hatte, überzeugte die Eltern davon, daß Schulbildung in der
heutigen Welt für ihre Kinder doch etwas recht Wesentliches wäre. Er
berichtete (7, S. 137): „Oft verlassen mich die
Mütter und sagen mir unter Tränen: ‚Also jetzt ist es entschieden, ich vertraue
dir meinen Sohn an, gib gut auf ihn acht, tu, was für ihn getan werden muß.‘
Wenn Ihr sehen würdet, wie schön und intelligent diese Kinder sind. Ich fühle
mich sehr geehrt, daß man mir ihre Erziehung anvertraut.“ Auch
hier wieder ein – „hoffungsloser“ Verklärer.
Doch auch in dem
Bericht der deutschen Motorrad-Reisenden wird die ausgeglichene Erziehung, die
die Tuareg-Kinder durch ihre Eltern und ihre Kultur erfahren, deutlich (2, S. 102): „Abends leisten uns einige Kinder
Gesellschaft. Anders als die Araberkinder im Norden sind sie weder aufdringlich
noch im geringsten daran interessiert, uns etwas zu stibizen. Sie wollen uns
ganz einfach nur zusehen, auf eine liebenswerte Art ihr Schul-Französisch üben.
Als es dunkel wird, sagen sie höflich zu jedem von uns, auch zu Susanne, ‚Bonne
nuit, Monsieur!‘ und gehen nach Hause.“
Ein noch nicht
angeführter, bekannter französischer Filmregisseur urteilt (5, S. 135): „Nachdem ich sie ein wenig kennengelernt
hatte, schien es mir, als lebten sie in ihrer unglaublichen Würde und in ihrer
kulturellen Identität wie in einem wirklichen Reichtum, wovon schon die
jüngsten unter ihnen, zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt, ein klares
Bewußtsein hatten.“
Nach so vielen
Lobpreisungen über ein Volk stellt sich natürlich die Frage: Wo sind denn nun
die Schattenseiten? Wenn man sie suchen möchte, findet man sie sicherlich.
Doch: Warum muß „alles in der Welt immer auch seine dunklen Seiten“ haben? Inwiefern
wäre eine solche Sicht nicht wiederum die typisch
europäisch-abendländisch-pessimistische?
„Das Leben antwortet nicht. Es
blüht und lebt.“ – Und: Lasse man doch den einen oder anderen unter uns
seine ihm lieben „Träume“ träumen! Allzulang wird er sich ihnen sowieso nicht
zuwenden können. Die harte Realität sieht anders aus. Doch die Verschwiegeneren
unter uns wissen es besser, sie wissen: Die Träumer sind es, die an der Zukunft
der Menschheit bauen. Sind es so wenige, die das wissen?
Erich Meinecke
Schrifttum
Zu 1. bis 13. siehe den ersten Teil dieses
Beitrages. (Abschließendes Gedicht: (1, S. 49))
14. Fuchs,
Peter: Das Brot der Wüste. Sozio-Ökonomie der Sahara-Kanuri von Fachi. Franz
Steiner-Verlag, Wiesbaden 1983
15. Spittler,
Gerd: Hirtenarbeit. Die Welt der Kamelhirten und Ziegenhirtinnen von Timia.
Rüdiger Köppe-Verlag, Köln 1998
16. Ludendorff,
Mathilde: Das Gottlied der Völker. Eine Philosophie der Kulturen. Ludendorffs‑Verlag,
München 1936
17. Bode,
Petra: Internet-Seite zu den Tuareg: http://home.t-online.de/home/petra.bode/
18. Stührenberg,
Michael: Nachwort. In: siehe 5., S. 162 ‑ 184
19. Spittler,
Gerd: Warum sind die Kel Ewey-Tuareg so schwarz? In: G. Göttler (Hrsg.): Die
Sahara. Mensch und Natur in der größten Wüste der Erde. DuMont-Buchverlag, Köln
(2.‑Aufl.) 1987, S. 308 ‑ 310
20. Gaudio,
Attilio: Uoimini blu: Il drama die Tuareg tra sotria e futuro. Editioni Cultura
della Pace. Firenze 1993
21. Heinrichs,
Hans-Jürgen: Die Tuareg – Nomaden in dürftiger
Zeit. In: Erzählungen und Gedichte der Tuareg. Qumran-Verlag,
Frankfurt/M. 1980, S. 19 – 25
22. Michler,
Walter: Die Rückkehr der Wüstenritter. Bonn hilft Nomaden. In: Focus 2/1998, S. 168 – 171
23. Disney,
Walt: Die Wüste lebt. Nach dem Film beschrieben von Manfred Hausmann. Blüchert-Verlag, Stuttgart
1955
24. Sommer,
Heike Miethe (Hrsg.): Poesie der Tuareg. Verlag Wendelin Niedlich, Stuttgart
1994
Einsam und verlassen
Kamid, wie erträgst du
das Fehlen der Liebsten?
Sie ist von dir gegangen,
du bist hier geblieben.
Nimm eine Pfeife
und ein Pfund Tabak
mit in die Länder,
in die du jetzt ziehst!
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