Donnerstag, 31. Dezember 2015

... die er einst mit Susette Gontard gehört hatte ....

Der "wahnsinnige" Hölderlin
- Er sang oft das Lied "Mich fliehen alle Freuden"
- Wie konnte er nur!

Eine Fülle von Lebenszeugnissen kann belegen, dass der deutsche Philosoph und Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) in seinen Altersjahren in Tübingen keineswegs - - - "wahnsinnig" war. Sondern einfach wie auch schon zuvor geistig weitaus gesünder und wacher als das ganze übrige damalige und heutige Deutschland zusammen genommen (1-5).

Abb: Hölderlins Wohnturm in Tübingen bis 1843
Zuerst sind die Lebenszeugnisse dafür von dem Franzosen Pierre Bertaux zusammen getragen worden (5). Später von anderen. Dabei hatte sein bester Freund Sinclair seinen Zeitgenossen schon ganz zu Anfang lapidar gesagt, dass es sich bei dieser - "Geisteskrankheit" nur um eine "angenommene Äußerungsart" handele. Um sich Ungemach vom Leibe zu halten. Hölderlin ließ seine Zeitgenossen also bei ihrem Glauben, förderte diesen Glauben durch oberflächliches, leichtes Verstellen. Und lebte weiter. Wie er es für seine Pflicht hielt. Er, der über den Freitod lange nachgedacht und ihn zu Ende gedacht hatte. Aber bis heute möchten sich viele über den Umstand hinweg täuschen, dass Hölderlin noch in diesen Jahren ein geistig so gesunder, rüstiger, lebendiger Mensch gewesen sein soll.

Hölderlin saß oft am Klavier und spielte

Hölderlin sah sich in jener Zeit weiterhin als Dichter und dichtete. Er zeigte volle Aufgeschlossenheit und Erschlossenheit dem Naturerleben gegenüber. Er hatte volle Aufmerksamkeit für die Schönheit von Menschen, für die Kunst. Er zeichnete auch selbst. Er hatte Aufmerksamkeit für die Musik, er spielte Klavier und sang dazu. Er hatte Humor. Und er hatte Verantwortungsbewusstsein. Für all diese Aspekte können reichen Zeugnisse angeführt werden. An dieser Stelle sollen einmal nur einige Zeugnisse für seine Beschäftigung mit der Musik angeführt werden. Christoph Schwab berichtet (1, S. 247):

Er saß am Klavier und spielte. ... Sein Spiel war sehr fertig und voll Melodie, ohne Noten. ... Einigemal, besonders, wenn er einen recht melodischen Passus ausgeführt hatte, sah er mich an. ... Es schien ihm zu gefallen, dass ich so gerührt war.
Er berichtet:
Mit kindischer Einfalt,
habe Hölderlins Auge auf ihm geruht. Wilhelm Waiblinger berichtet aus den Jahren 1827/28 (1, S. 148; 2, S. 330):
Hat er eine Zeitlang gespielt, ... so richtet sich sein Haupt empor ... und er beginnt zu singen. ... Er tats mit überschwenglichem Pathos.
Und der Schreiner Zimmer, bei dem Hölderlin in jenen Jahren wohnte, berichtete 1837 (1, S. 225):
Oder er sitzt am Spinett und musiziert vier Stunden lang, in einem Ton als wollte er den letzten Fetzen herunterspielen. Und immer dasselbe simple Lied, immer dieselbe Leier, dass einem im ganzen Hause Hören und Sehen vergeht. Man muss schon stark hobeln, sonst wird einem wüst im Kopf. Oft aber spielt er auch recht schön.
Der Besucher Diefenbach berichtet aus dem 1837 (2, S. 330):
Hölderlin war einst ein ausgezeichneter Musiker und Sänger.
Und Christoph Schwab (2, S. 461):
Gesang und Flötenspiel übte er vom Jahr 1817 an seltener, nahm es aber 1822 wieder mit Eifer für einige Zeit von Neuem auf.
"Eine seltsame Mischung von Freundlichkeit und Fremde"

Ebenso (2, S. 468):

Ein einfaches Thema, wie z. B. die Melodie: "Mich fliehen alle Freuden," variierte er unermüdlich.
Er
sah dann wieder mit einer seltsamen Mischung von Freundlichkeit und Fremde die Zuhörer an.

Mit mehr Fremde als Freundlichkeit hätte Hölderlin 1998 in das Magazin "Focus" geblickt, wo es hieß, „Mich fliehen alle Freuden“ sei eine Opernarie aus der Oper „Die schöne Müllerin“ von Giovanni Paisiello (1789) (4),

die er einst gemeinsam mit Susette Gontard gehört hatte. Der italienische Komponist war berühmt-berüchtigt für seine endlosen, schier unerträglichen Motiv-Wiederholungen, durch die, wie es damals hieß, "sogar der auf die Spitze getriebene Wahnsinn sich äußern könne".

Nun, davon, wie unsinnig eine solche Charakterisierung dieses Liedes ist, kann sich jeder heute leicht über Youtube überzeugen (z.B.: mit Klavierbegleitung oder mit Orchester) (s.a. Wiki). Leider gibt es gegenwärtig nur Aufnahmen mit dem italienischen Liedtext. In deutscher Übersetzung lautet dieser Liedtext schlicht (2, S. 467):

Mich fliehen alle Freuden,
ich sterb vor Ungeduld;
an allen meinen Leiden
ist nur die Liebe schuld.
Es quält und plagt mich immerhin,
ich weiß vor Angst nicht, wo ich bin;
wer hätte dies gedacht?
Die Liebe, ach, die Liebe
hat mich so weit gebracht,
hat mich so weit gebracht.

- Und es ist schon Wahnsinn, wenn man ein solches Lied beim Singen und Klavierspielen oft wiederholt und variiert? - - - Die spinnen, die Deutschen, die ihre größten Dichter so behandeln. Beethoven war übrigens auch so verrückt, genau zu diesem Lied sechs Variationen zu schreiben (Yt.), zum Beispiel von Elly Ney interpretiert (Yt).

"Ich bin nun orthodox geworden"

Es seien noch Zeichen für Hölderlins Interesse an der Philosophie gebracht. Davon berichtet Waiblinger (6, S. 235):

Die beginnende Schelling'sche Lehre scheint großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, wie er mir denn unter dem unverständlichsten Wortschwall zuweilen von Kant und Schelling erzählte.
Und (6, S. 245f):
Womit er viel zu schaffen hatte, das war das pantheistische Ein und All, mit großen griechischen Charakteren über meinem Arbeitstisch an die Wand geschrieben. Er sprach oft lange mit sich selbst, immer das geheimnisvolle, vielbedeutende Zeichen anschauend, und einmal sagte er: "Ich bin nun orthodox geworden, eure Heiligkeit! Nein, nein! ich studiere gegenwärtig den dritten Band von Herrn Kant und beschäftige mich viel mit der neuen Philosophie." Ich fragte ihn, ob er sich Schellings erinnere. Er sagte: "Ja, er hat mit mir zu gleicher Zeit studiert, Herr Baron!" - Ich sagte, daß er nun in Erlangen sei und Hölderlin erwiderte: "Vorher ist er in München gewesen." Er fragte, ob ich ihn schon gesprochen, und ich sagte ja.

Es steht ja außer Frage, daß ein Satz wie "Ich bin nun orthodox geworden" als ein sehr vieldeutiger Satz verstehbar ist. Hölderlin's Philosophieren bildete ja damals tatsächlich - mit Schelling und Hegel - neue Orthodoxien aus, später noch deutlicher mit Marx. Es ist überhaupt nicht auszuschließen, daß er mit dieser Äußerung genau diesen Umstand hatte benannt wissen wollen, natürlich unter dem nur leicht darüber hin gelegten Schleier vorgetäuschter Blödigkeit versteckt. Mit Orthodoxie konnte durchaus auch gemeint sein, daß Hölderlin schon damals sah, daß das idealistische Philosophieren mit Schelling und Hegel in einer Sackgasse, und zwar einer für Orthodoxie anfälligen enden würde.

Über Susette Gontard, die "Diotima" seiner Dichtungen, durch die er erst das geworden war, was er war, konnte sich der "wahnsinnige" Hölderlin zuweilen auch auslassen. J. G. Fischer berichtet darüber (2, S. 429):

"Ach," sprach er, "reden Sie mir nicht von Diotima, das war ein Wesen! und wissen Sie: dreizehn Söhne hat sie mir geboren, der eine ist Kaiser von Rußland, der andere König von Spanien, der dritte Sultan, der vierte Papst u. s. w. Und wissen Sie was dann?" Nun sprach er folgendes schwäbisch: "wisset se, wie'd Schwoba saget: Närret ist se worda, närret, närret, närret." Das sprach er so erregt, daß wir gingen, indem er uns mit tiefer Verbeugung an die Tür begleitete.

Nein, sie war nicht verrückt geworden. Sie war einfach nur gestorben an der unerfüllten und in jenen Zeiten unerfüllbaren Liebe zu ihm.

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  1. Wittkop, Gregor (Hrsg.): Hölderlin, der Pflegesohn. Texte und Dokumente 1806 - 1843 mit den neu entdeckten Nürtinger Pflegschaftsakten. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 1993
  2. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. 'Frankfurter Ausgabe', hrsg. v. D.E. Sattler u. M. Franz, Bd. 9: Dichtungen nach 1806. Mündliches. Verlag Roter Stern, Frankfurt/M. 1983
  3. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. 'Stuttgarter Ausgabe', hrsg. v. ..., Bd. 1 - .., Kohlhammer-Verlag, Stuttgart u.a. 1968
  4. Pabst, Reinhard: Hölderlins Verrückung. Neueste Erkenntnisse über die Ausgrenzung eines Dichtergenies. In: Focus 49/1998, S. 142-146
  5. Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 1978
  6. Waiblinger: Friedrich Hölderlin's Leben, Dichtung und Wahnsinn (1827). S. 221-261 (GB)

Montag, 16. März 2015

"Beseelungswissen" - Bei Peter Sloterdijk und bei Mathilde Ludendorff

Peter Sloterdijk's "Du mußt dein Leben ändern" (2009) und Mathilde Ludendorff's "Selbstschöpfung" (1927)
- Einige erste Vergleichspunkte

2009 - Sloterdijk - Du mußt dein Leben ändern
Das Buch von Peter Sloterdijk aus dem Jahr 2009 über die Selbständerungsmöglichkeiten des Menschen enthält viele ungewöhnliche, begeisternde Grundgedanken und Sichtweisen. Als einen Mangel des Buches mag man es empfinden, daß die Begeisterung für diese Grundgedanken und Sichtweisen durch eine intensive und gründliche Lektüre der vielen hundert Seiten dann nicht in jedem Fall vergrößert wird, sondern eher die Tendenz hat, sich zu verflüchtigen. Legt man es dann aber für ein paar Tage - oder Wochen oder Jahre (der Autor dieser Zeilen sogar für sechs Jahre) - erschöpft zur Seite, kann es gut sein, daß man nach dieser Zeit feststellt,  daß man die genannten Grundgedanken und Sichtweisen immer noch so begeisternd findet wie zuvor.

Auf diese Weise kann eine Art Haßliebe zu diesem Buch entstehen. Vielleicht die beste Voraussetzung, um sich an einem Buch "abzuarbeiten" und dabei - zu "üben", sprich, sich weiterzuentwickeln, sich menschlich zu ändern und zu reifen - also um das Kernthema dieses Buches gleich selbst in die Praxis umzusetzen.

In der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist übrigens schon 1927 für den Begriff "Anthropotechnik", also für die übende Selbsterschaffung, Selbstgestaltung des Humanen durch den Einzelmenschen der Begriff "Selbstschöpfung" verwendet worden (1). 

Ein Vergleich der Gedanken von Peter Sloterdijk mit den Inhalten der genannten psychologischen Philosophie des Jahres 1927 kann - wie im folgenden aufgezeigt werden soll - auf viele Themen aufmerksam machen, die (erneute) Beleuchtung und Aufmerksamkeit verdient haben. Zu einem solchen Vergleich sollen im folgenden einige erste Andeutungen, Versuche gegeben werden. Dazu sollen hier zunächst vier Themenbereiche behandelt werden und auch zu diesen selbst sollen bestenfalls einige Ideen angedeutet und umrissen werden: 1. Thema Vertikalspannung, 2. Thema Sezession und Ruhephasen, 3. Thema Brainwashing, 4. Thema Sinn des Weltalls und Lebens überhaupt, 5. Thema Altruismus.

Man könnte sicherlich einen großen Teil des Inhaltes des Buches "Selbstschöpfung" von 1927 in den Begrifflichkeiten von Sloterdijk's "Anthropotechnik" neu formulieren. Vielleicht werden wir das auch noch einmal ausführlicher versuchen. Im folgenden jedenfalls erste vortastende Erkundungen auf diesem Gebiet.

1. Zum Genie-Begriff - Thema "Vertikalspannung"


Vielleicht läßt sich sagen, daß es wenige Übungsprogramme gibt, die eine ähnlich große Vertikalspannung in sich bergen wie das genannte (1). Dieser Umstand läßt einen unter anderem die Frage stellen: Warum benutzt Sloterdijk nicht den Genie-Begriff (s.a.: 2)? Würde dieser Begriff die Vertikalspannung, an der Sloerdijk doch - und mit Recht - so viel liegt und gelegen sein muß, nicht erheblich vergrößern, verdeutlichen und explizit machen? Die großen Künstler, Komponisten, Dichter und Denker der Geschichte, die großen Politiker der Geschichte, sie waren doch ohne Zweifel Genie's. Und wer wenn nicht sie waren die Vorbilder, die "Trainer", die Übungsanleiter der "Sich-selbst-ändern-Wollenden" in der Geschichte und auch noch heute.

Nur weil wir solche heute nicht mehr anzutreffen glauben - "Genie's" also - heißt das ja noch nicht, daß wir auf den Genie-Begriff an sich verzichten müßten. Auch heute noch können wir doch Michelangelo, Beethoven, Rilke, Kant "Genie's" nennen? Was sollte uns daran hindern? Und dann stellt sich doch die Frage: Wie "übt" eigentlich ein "Genie"? Darüber sagt Sloterdijk, soweit man sieht, herzlich wenig. Er behandelt lieber Sportler, Behinderte, "Artisten", Mönche, also alles Berufsgruppen, die sich gerade nicht im Kernbereich der Kultur und der Kulturgeschichte bewegen, im Kernbereich auch des "Human Accomplishment" (s. Charles Murray).

1927 - M. Ludendorff - Selbstschöpfung
Ein Genie übt doch ganz anders als all diese anderen Berufsgruppen. Und auf sein Übungsprogramm fokussieren, hieße doch erst, die ganze Problematik des "übenden Menschen" in ihrem vollen Umfang zu übersehen und zu behandeln. Und zwar in ihrer Bedeutung für das Überleben unserer Kultur. Hier erst würde das "Prekäre" sichtbar (2). Nämlich daß Genie-Sein, daß das Geniale sich niemals so wenig von selbst verstanden hat wie heute. Aber warum eigentlich?

Weil wir längst genau dort angekommen sind, wohin Nietzsche in seiner Vorrede zum Zarathustra die Menschheit sich hinentwickeln gesehen hat. Wir glauben gar nicht mehr an das Geniale, an das Geniehafte. Wir wollen auch selbst - in dem uns gegebenen Rahmen - keine Genies sein, keine echt genialen Lebenskünstler. Immerhin: Ein genialer Lebenskünstler könnte letztlich jeder für sich selbst sein. Und allein schon eine solche Möglichkeit würde uns sehr viel Verantwortung auferlegen, etwa, mit uns selbst und anderen achtsam umzugehen.

Und könnte es denn nicht jene Sehsucht aller "Rennaisance-Menschen" und damit offensichtlich auch Sloterdijk's sein, daß es in der Welt wieder eine ähnliche Genie-Dichte gäbe wie im antiken Griechenland? Als fast jedes Dorf, jede Stadt ein Genie hervorbrachte? Und das innerhalb weniger Jahrhunderte? Wäre dies nicht das einzig Notwendige, wäre womöglich nicht genau das jene "Mindestproduktion innovativen Wandels" ("marginal production of innovative change"), die Joseph A. Tainter als notwendig ansieht, um dem "Collaps of Complex Societies" (so der Titel seines wertvollen Buches, erschienen lange vor dem viel oberflächlicheren Buch von J. Diamond zu diesem Thema) zu entgehen?

Genial, das ist doch das, was Sloterdijk zum Ausdruck bringen will, wenn er an ziemlich zentraler Stelle seiner Argumentation auf die "Gipfel des Unwahrscheinlichen" Bezug nimmt, die von der Entwicklungsgeschichte des Lebens auf dieser Erde immer wieder erreicht worden sind nach der eingängigen Deutung von Richard Dawkins. Ist nicht jede Tier- oder Pflanzenart für sich und jedes echte Kulturwerk, jede echte Kulturtat eine Genialität auf seine Weise? Dementsprechend auch ähnlich gefährdet wie alles Geniale in dieser Welt? Und kann dementsprechend nicht jeder Mensch ebenso genial werden als der einzigartige, nie wiederkehrende Mensch, der er ist?

Und wie will man denn dem auch von Sloterdijk favorisierten "Prinzip Verantwortung" gerecht werden - ohne Genialität? Wurde jemals etwas Entscheidendes und Durchbrechendes geleistet in der Menschheitsgeschichte - ohne Genialität? Ob man es nun jeweils so genannt hat oder nicht.

2. Sezession, Immunsystem


Natürlich setzt sich das Genie in Gegensatz zu den Menschen um es herum, die keine Anflüge ans Geniale haben und haben wollen. Und genau damit fängt die Problematik erst wirklich an, wie Sloterdijk ebenfalls ganz richtig erkennt. Nämlich mit der schlichten Frage: Wie hält man es aus, einsam zu sein? Auch diese Thematik behandelt Sloterdijk dann aber völlig unzureichend. Natürlich braucht man ein gesundes Immunsystem, um seine Separation, seine Einsamkeit, seine "einsame Höhe" aufrecht zu erhalten. Aber wie hält man es in Gang? Woran erneuert sich das Geniale, das Genie? Womit läßt es sich auffrischen?

Was ebenfalls viel zu unzureichend von Sloterdijk herausgearbeitet wird, ist die Erkenntnis Mathilde Ludendorffs, daß nichts die Menschenseele so verändert, wie die Art ihrer Wahl in Bezug auf das Leben beseelter Sexualität (Mathilde Ludendorff benutzt hierfür die Begriffe Erotik oder Minne). In diesem Umstand vor allem wurzeln all die vielen wesensunterschiedlichen "Askesen", die im Rahmen von Übungsprogrammen in der Menschheitsgeschichte ausgebildet wurden, zuletzt die "innerweltliche Askese" des Protestantismus nach der auch für die Interpretation der Geschichte der Neuzeit so einflußreich gewordenen Deutung von Max Weber. Auf den übrigens Sloterdijk - merkürdigerweise, so weit übersehbar und offenbar folgenreich - kein einziges mal Bezug nimmt in seinem Buch.

Auch fehlen bei Sloterdijk so wesentliche Erkenntnisse Mathilde Ludendorffs wie die "Nicht Kampf ist Leben allein, nein, jenseits des Kampfes erst ist das Erleben der Seele". Also die Betonung der entscheidenden Bedeutung von Ruhephasen und - sozusagen - der Kontemplation im menschlichen Leben für allen seelischen Wandel, für jede Form von Beseelung.

Aus dieser Erkenntnis heraus kann sie dann auch sagen, daß Seelenwandel und Selbstgestaltung, Selbstschöpfung vor allem in diesen Ruhephasen stattfinden, die sicherlich nicht primär als "Übungen" (etwa gar Meditationsübungen!) aufzufassen sind. Hiergegen  verwahrt sie sich ja mit einer Entschiedenheit, die sichtlich geschult ist an der Tatsache, daß sie mehrere Jahre als Assistentin des Begründers der naturwissenschaflichen Psychiatrie, Emil Kraepelins, gearbeitet hat und dabei viele anschauliche Erfahrungen in psychiatrischen Anstalten machen konnte. Nein, sie betont: Das Erleben der Seele läßt sich - im Gegensatz zur Behauptung vieler Esoteriker, Okkultgläubiger und eben auch vieler psychisch Erkrankter - nicht "üben". Da sein Wesen grundsätzlich die Freiheit, die Spontaneität, die Akausalität ist. So sagt zumindest Mathilde Ludendorff.

Aber sicherlich könnte auch dieser Punkt - angesichts massiver seelischer Beeinflussungen durch die Umwelt von Kindheit an (siehe gleich) - heute noch mancherlei Modifizierung erfahren.

3. Langsamer und schneller Wandel der Seele


Selbstgestaltung und seelische Reifung ist aus der Sicht von Mathilde Ludendorff nun also das langsame Erstarken des - das Geniale, Göttliche erlebenden - Ichs der Menschenseele durch Gewissensprüfungen in Ruhephasen. Und durch das Überprüfen, ob Fürwahrgehaltenes (über einen selbst) auch tatsächlich wahr ist. Diesem langsamen, allmählichen Reifen der Seele stellt sie den selteneren schnellen seelischen Wandel gegenüber, ausgelöst durch seltenes, gottwesentliches Handeln und Erleben. Etwa aus Anlaß der Konfrontation mit dem eigenen Tod oder mit dem Tod von Angehörigen, etwa der schon erwähnten Art der Wahl im Leben beseelter Geschlechtlichkeit. Außerdem bewirkt beim begabten Künstler auch das geschaffene Kunstwerk und die Frage, ob das übrige Leben des Künstlers diesem gerecht wird, ihm würdig ist, Wandel in seiner Seele. So sagt Mathilde Ludendorff.

Auch die große, riesige Thematik des "Brainwashing", der Gehirnwäsche gehört übrigens in den Bereich der Selbst- und Fremdgestaltung menschlichen, seelischen Wandels. Hierzu hat der britische Psychiater William Sargent einen wissenschaftlichen Klassiker geschrieben, dessen Lektüre und Auswertung Sloterdijk's Blickwinkel auf die von ihm gewählte spannende Thematik ebenfalls noch wesentlich hätte erweitern können. Über dieses Thema wäre es in diesem Rahmen wert, noch einen ganz eigenen, weiteren Beitrag zu schreiben. Weil nämlich eine Schlußfolgerung daraus lautet, daß Übung auch heißen könnte, negativen seelischen Wandel dadurch zu vermeiden, daß man sich gegebenenfalls selbst die Anweisung gibt, "not to get emotionally involved", sich in einem gegebenen Fall emotional gerade nicht erregen zu lassen. Hierzu gehört ein ganzes Bündel von Lebenstechniken, die noch einmal genauer zu erörtern wären.

Schnellen Wandel bewirkt im übrigen - nach Mathilde Ludendorff - auch Empörung über teuflische Antriebe in der eigenen Seele oder in der Seele insbesondere nahestehender Mitmenschen. Die Seele entflammt sich, sagt Mathilde Ludendorff, kann sich entflammen mitunter - so vorhanden - an einer "Teufelei" in der eigenen, von den Eltern übernommenen, angeborenen Charakterstruktur. (Mit diesem Entflammtsein an Teufeleien in der eigenen Seele mag auch manches im Zusammenhang stehen rund um das kulturgeschichtlich bedeutsame Phänomen der "Femme fatal". Aber das nur am Rande.) All dieser schnelle Wandel ist - wie jeder Wandel - jeweils auch in beiderlei Richtung möglich. Und wohin - zumal heute - in der Regel diese Richtung bei den meisten Menschen zeigt, bedarf sicherlich keiner Erörterung mehr. Wobei erwähnt werden könnte, daß natürlich schlicht auch Mangel an Empörung über Teufeleien in der eigenen Seele oder in der Umwelt seelischen Wandel bewirken können ... Nämlich gerne auch den heute allzu weit verbreiteten seelischen Tiefschlaf.

4. Überleben - aber wozu eigentlich?


Das Übungsprogramm von Mathilde Ludendorff ist natürlich viel stringenter, viel einheitlicher und darum auch eingängiger auf ein Ziel ausgerichtet, als das Sloterdijk für das kulturgeschichtliche Sammeln von Übungsprogrammen in seinem Buch in Anspruch nimmt und überhaupt nur nehmen kann. Sein Buch bleibt ja eigentlich hinsichtlich der entscheidensten Fragen - soweit übersehbar und typisch existentialistisch? - im Vagen und Ungefähren. - - - Was ist denn nun das Ziel aller Übungen bei Sloterdijk? Nur allein das Überleben der Menschheit hier auf dieser Erde? Klar, er sagt, unhintergehbar ist die Erkenntnis, daß sich etwas ändern muß. Darauf sagt ein Mensch wie - der von Sloterdijk auch ausführlich behandelte - Cioran doch nur zynisch: Und warum sollte dieses Überleben einen Wert haben? Zu dieser Frage nun sagt zwar der von Sloterdijk am Ende seines Buches positiv erwähnte Hans Jonas manches (und das zumeist auch in Übereinstimmung mit Mathilde Ludendorff). Nicht aber, soweit übersehbar, Sloterdijk selbst. Und darauf käme doch nun alles an.

Auch der große unserer Zeit noch nahestehende "Trainer" Konrad Lorenz hat sich um eine Beantwortung dieser Frage nicht herumgedrückt. Er hat dazu sein "Der Abbau des Menschlichen" geschrieben. Alle Bemühungen Sloterdijk's scheinen mir unabgeschlossen zu sein, ungenügend zu bleiben, solange er hierzu nicht zumindest ähnliche Antworten gibt wie Hans Jonas.

Denn sonst könnten doch alle Übungen und Askesen irgendwie zu Übungen des Hamsterrades werden. Üben nur allein um des Übens willen? Um in Form zu bleiben? Damit es nicht langweilig, niveaulos und ohne alle Vertikalspannung bleibt hier auf dieser Erde? Damit "Gipfelpunkte des Unwahrscheinlichen" erreicht werden hier auf dieser Erde? All das bliebe doch alles noch reichlich nebulös und kann in dieser Form doch keinen gesellschaftlichen Aufbruch bewirken.

Für Mathilde Ludendorff dagegen ist die ganze Sache sehr viel unzweideutiger. Das Weltall ist nach ihr entstanden, Leben und bewußtes Leben sind nach ihr in diesem Weltall entstanden, damit das im Weltall sich nur unbewußt manifestierende Göttliche, Geniale (das sich im Gipfel des Unwahrscheinlichen Ausdrückende) von einem Einzelwesen bewußt erlebt wird. Das ist - nach ihr - der Sinn des Weltalls, der Evolution und des Menschenlebens. Da das Wesen des Göttlichen aber Freiheit ist, kann das Göttliche unmöglich allein per Instinkt und zwanghaft erlebt werden. Evolution und Geschichte sind also - nach Mathilde Ludendorff - Bewußtwerden der Freiheit. Sicherlich fast überflüssig zu sagen, daß sie in vielen solchen Dingen natürlich in großen Übereinstimmungen mit den Philosophen des deutschen Idealismus steht, die man sich ja im übrigen auch einmal als Formulierer von wertvollen Übungsprogrammen ansehen könnte. (Ich würde dabei dann mit Hölderlins Gedicht "Zornige Sehnsucht" anfangen und dann weiterhin die Bücher Dieter Henrich's zur Rate ziehen. Auch von diesem wichtigen Autor liest man bei Sloterdijk nichts.)

Jedenfalls: von diesen Grundgedanken her leiten sich bei Mathilde Ludendorff die Selbstschöpfungsmöglichkeiten und das damit verbundene "übende Leben" des Menschen ab. "Der Mensch, das einzige Bewußtsein Gottes" benennt sie eine ihrer intuitiven philosophischen Grundeinsichten, formuliert vor bald hundert Jahren und bis heute von der naturwissenschaftlichen Forschung nicht widerlegt. Im Gegenteil, immer mehr Astrophysiker und -biologen scheinen davon auszugehen, daß bewußtes Leben in diesem Weltall ebenfalls einen "Gipfelpunkt des Unwahrscheinlichen" darstellt und deshalb womöglich nur sehr selten ist (vgl. Buchtitel wie "Rare Earth", deutsch "Einsame Erde"). Und dann vielleicht auch nur ähnlich zeitversetzt, wie dies auch von Mathilde Ludendorff für möglich gehalten worden ist.

5. Altruismus - Kulturheroen, Leistungsträger


Ein anderes wichtiges Thema des Buches von Peter Sloterdijk ist das Thema Altruismus. Vielleicht wird dies deutlicher als im Buchtext selbst anhand des ursprünglichen Buchumschlags (siehe oben) und der Erläuterungen von Sloterdijk zu diesem Buchumschlag in Interviews. Sloterdijk geht nämlich realistischerweise davon aus, daß es in der Menschheit immer nur eine Minderheit von Menschen sind, die den Aufruf "Du mußt dein Leben ändern" ernst nehmen. Sie aber sind die eigentlichen Träger allen kulturellen Wandels und aller kulturellen Weiterentwicklung. Sie bewirken die "Mindesproduktion innovativen Wandels" im Sinne von Tainter. Letztlich sind sie die "Kulturheroen", die "Lichtbringer", auf deren Schultern die nachfolgenden Generationen und die Menschheit überhaupt stehen und an denen also sozusagen "alles hängt" (das bringt das Umschlagbild zum Ausdruck).

Und genau für solche "Menschheitsretter" überhaupt scheint Sloterdijk realistischerweise insbesondere zu schreiben. Es sind immer nur wenige, die die Kultur und die die Menschheit überhaupt retten und weiter voranbringen. Und deshalb ist es so wichtig, daß genau diese wenigen Begabten auch wirklich in Form und in Übung bleiben und sich nicht von den nivellierenden Einflüssen, die sie umgeben, herabziehen lassen und ebenfalls in die allgemein verbreiteten "Horizontal-Entspannungen" verfallen. Daß sie "Inseln des Bestandes" bilden, so wie Werner Heisenberg sein Handeln im Deutschland in der Zeit des Dritten Reiches charakterisiert hat. Und genau dies scheint eines der wesentlicheren und zugleich begeisternden Anliegen auch von Peter Sloterdijk in seinem Buch zu sein.

Und dann erhält es doch gleich noch einmal so viel wert, wenn man es vor diesem Hintergrund aus betrachtet. Deshalb ist auch das ein Gedanke, der künftig noch weiter gedacht werden kann, und der ja auch in der Altruismusforschung der naturwissenschaftlichen Anthropologie, die wir schon häufig auf unseren Blogs behandelt haben, manche Hintergründe findet.

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  1. Ludendorff, Mathilde: Selbstschöpfung. Ludendorffs Verlag, München 1941 (Erstauflage 1927) (Archive)
  2. Bading, Ingo: "Das Genie ringt sich durch" - Ein weiser Satz oder Irrtum? Begabung für das Schaffen auf kulturellem Gebiet - ringt es sich geradezu zwangsläufig durch? Oder türmen sich Gefahren um die Verwirklichung einer Begabung?, auf: Studiengruppe Naturalismus, 25. Dezember 2012