Freitag, 16. Februar 2001

Die Tuareg - ein Volk wie aus einer anderen Welt (2. Teil)


„Es ist wie ein Traum.“  

Die Tuareg -  

ein Volk wie aus einer anderen Welt

Europäer erleben den Orient (2. Teil)


Dem Kulturbild des Volkes der Tuareg, das im ersten Teil dieses Aufsatzes (s. hier) in groben Umrissen gezeichnet worden ist, sollen nun noch weitere Einzelheiten hinzugefügt werden. Es stimmt hoffnungsfreudig und ermutigend zu erfahren, daß in anderen Erdteilen – hier also in Afrika, genauer in Nordafrika, und noch genauer: in der Zentralsahara – noch Völker leben, die einem zeigen können, so wurde der erste Teil beschlossen „wie man ein wahrhaftiges Leben lebt.“ Aus diesem Grund wird sich der eine oder andere Leser die eine oder andere der folgenden Schilderungen vielleicht doch einigermaßen dankbar entgegenzunehmen bereit finden.

„Die Karawane ist ein Symbol unserer Werte.“


Zu den wichtigsten Kultur- und Wirtschaftselementen der Tuareg gehört natürlich die Karawane. „Der Anblick dieser weiten Fläche schien unsere wilden, an schweifendes Leben gewöhnten Gefährten nur zu begeistern,“ berichtet der Hamburger Afrikaforscher Heinrich Barth. „Mit angespornter Rüstigkeit“ zog er, so berichtet er, mit seinen Tuaregfreunden „über die unbegrenzte Ebene“ dahin (4, S. 128).

Und der junge französische Mönchs-Missionar nimmt sich vor: „Niemals sagen: ‚ich bin müde, ich habe Hunger, ich habe Durst!‘ Es wäre beschämend für einen Mann, sich derart zu ‚beklagen‘.“ (8, S. 88) Dieser Missionar starb noch in jungem Alter bei den Tuareg. Eine Ursache für seinen Tod mag auch gewesen sein, daß er selbst derartige Tuareg-Ideale bei seiner Arbeit für die Tuareg zu sehr überzogen hatte – ohne die gleiche lebenslange Abhärtung zuvor erfahren zu haben, wie seine Freunde, für die er sich einsetzte.

Er hatte nämlich unter den extremen Lebensbedingungen der Sahara eine Wüstenschule gegründet und geleitet. Aber die Entfernung zum nächsten Krankenhaus war zu groß, als daß ihm bei einem ernsteren Unfall oder Krankheitsfall noch geholfen werden konnte. Aus Begeisterung für die Tuareg und in Nachahmung ihrer Vorbildlichkeit opferte sich dieser Missionar für ein ihm fremdes Volk auf. „Das Tuareg-Volk von Air und ich sprechen Ihnen und der Familie Ploussard ihr tief empfundenes Mitleid aus,“ telegrafierte der örtliche Tuareg-Fürst nach Frankreich an die Mutter des verstorbenen Missionars (8, S. 153). Infolge medizinischer Unterversorgung ist der Tod auch schon in jungen Jahren für die Tuareg nicht ein sehr seltenes Ereignis.


Abb. 1: Umschlagbild eines der vielen wertvollen Bücher über die Tuareg


„Die Karawane ist ein Symbol, ein Zeichen unserer Werte: Sie ist die Herausforderung, mit der jeder mutige Mann seiner Umwelt entgegentritt. Der Wüste gegenüber darf der Targi keine Schwächen zeigen. Denn wer würde seine Klagen hören? Wer könnte ihn retten?“ (5, S. 8) Vielleicht wird erst jener Mensch, der für einige Monate oder doch besser Jahre das harte Leben der Tuareg geteilt hat, berechtigt sein, ein Urteil über ein etwaiges „sittenloses Leben“ der Tuareg zu fällen. Ein deutscher Reisejournalist jedenfalls, der 1985 an einer der anstrengendsten Karawanen-Züge der Welt, der jährlichen Salzkarawane durch die Tenere (14), teilnahm, berichtet ganz anderes (10, S. 161): „Es waren traumhafte, unwirkliche Tage, jeweils eine Woche im absoluten Nichts.“ Körperlich war er danach – nach eigener Aussage – vollkommen ruiniert. Doch sowohl seelisch wie körperlich – ebenfalls nach eigener Aussage – weitaus „gesünder“ als jemals zuvor.

Die Targia und die tagtägliche Einsamkeit in der Wüste


Von den Tuaregfrauen ist natürlich zu erfahren, daß sie die Tuareg-Ideale ebenso leben, wie ihre Männer. Es ist für einen modernen Mitteleuropäer kaum glaublich, mit wie wenig, mit welch kargem Besitz und unter welchen kargen Lebensbedingungen die Tuareg-Nomaden ihr Leben lang auszukommen gezwungen sind. Doch nie haben sie dabei das Gefühl, ihnen würde etwas fehlen. Dies gilt nicht nur für die Männer (5, S. 47f):

„Ich war immer beeindruckt von unseren Frauen, einmal wegen ihres Mutes, zum anderen wegen ihrer Ausdauer dem harten Leben gegenüber. Die Targia macht immer willig die aufreibendsten Arbeiten: Hirsekörner für die Mahlzeiten zerstoßen, den ganzen Tag über die Tiere tränken, während der langen Abwesenheit der Männer in der Karawanenzeit die Zelte gegen den Wind verteidigen und bewachen.

Die Targia ist stark. Ich habe alte Frauen gesehen, die ganz allein mit ihren Ziegen mitten in der Wüste leben. Einige wollten es von sich aus, andere taten es mehr gezwungenermaßen. Niemals werde ich eine Alte aus Zaners vergessen, die in ihrem isolierten Wadi gefangen war, weil ihre Ziegen ihn nicht verlassen wollten. Jedes Mal, wenn sie versuchte, zu anderen Nomadenlagern zu gehen, kehrten ihre Tiere zu diesem einsamen Wadi zurück. Dreißig Jahre lang hat sie so in der Einsamkeit gelebt.“

Es gibt hier so vieles, was uns Europäern so schwer vorstellbar ist: Infolge der Kargheit der Vegetation müssen die Kamel-Hirten und die Ziegen-Hirtinnen Tag für Tag aufs Neue von den wenigen Wassserstellen, wo sie gemeinsam übernachten, ganz abgelegene, weit verstreute Weidegründe aufsuchen, wobei sie zumeist den ganzen langen Tag über mit ihren Tieren völlig allein sind.

Übereinstimmend wird von ihnen allen berichtet, daß dies das Schwierigste sei, was man als junger Hirte oder als junge Hirtin zu erlernen hätte: das Ertragen der Einsamkeit. Das fällt ja gerade auch einem jungen Menschen – und hier handelt es sich oft noch um Kinder – besonders schwer. Nur wenn man sich all dies vor Augen führt, wird einem klar, daß bei solchen Erfahrungen auch das Zusammenleben zwischen Menschen kulturell sehr hochwertig sein muß – wenn diese Menschen bereit sein sollen, jeden Tag aufs Neue derartige psychische und physische Strapazen ertragen zu wollen (15).

Freundschaft


Und das, was die Tuareg zu etwas kulturell Hochwertigem ausgestaltet haben, das war der Mensch selbst. Denn sie hatten ja nicht viel anderes. Die Ausbildung einer umfangreicheren materiellen (Sachgüter-)Kultur ist ja in einem Nomadenlager gar nicht möglich. Diesen Dingen wird seitens der Kulturphilosophie große Bedeutung zugesprochen und umfangreich erläutert (16, S. 111-136, 275-277). Ohne dies weiter ausführen zu können, werden im folgenden nur einige Erlebnisschilderungen gebracht, die mit den genannten Erörterungen seitens der Kulturphilosophie in vollstem Einklang zu stehen scheinen.

So ist es doch ganz erstaunlich, daß die persönlichen und menschlichen Eigenschaften der Tuareg ihnen auf der ganzen Welt Freunde gewonnen haben. Da sei zunächst einmal auf den Deutschen Heinrich Barth hingewiesen, der einer der ersten Europäer war, der diesem Volk mit Achtung entgegengekommen war (obwohl ihm die damals noch politisch selbständigen und untereinander zerstrittenenen Tuareg-Stämme – z.T. in islamischer Intoleranz gegenüber dem bekennenden Christen – große Schwierigkeiten auf seiner Reise bereiteten und ihn in mehreren brenzligen Situationen sogar mit dem Tod bedrohten).

Über einen Tuareg heißt es bei Barth (4, S. 211): „Ich mußte hier von meinem besten Kel-owi-Freunde Hamma Abschied nehmen. Er war ein in jeder Hinsicht zuverlässiger Mann, ausgenommen vielleicht in Bezug auf das schöne Geschlecht, und ein aufgeweckter Gefährte, dem unsere ganze Gesellschaft, und ich insbesondere, nicht wenig verpflichtet war. ...

Beide“ (der Genannte und sein Verwandter) „waren froh und munter, ohne Ahnung der Zukunft, aber sie zeigten beim Abschiede große Teilnahme, trösteten sich jedoch, mich gewiß einmal irgendwo wiederzusehen. Die Armen! – Beiden war bestimmt, in dem blutigen Kampfe, der im Jahre 1854 zwischen den Kel-geress und Kel-owi ausbrach, zu fallen.“ Kel heißt „Leute von“ und bezeichnet jeweils eine regionale Untergruppe dieses Volkes (17).

Von einem anderen Targi berichtet Barth: „Emeli, welcher ein sehr feines und einnehmendes Wesen hatte,“ „mochte ich doch seiner anständigen Manieren wegen wohl leiden.“ (4, S. 166, 141) Von dem Tuareg-Fürsten Annur berichtet der Hamburger, „daß er ein gerader, zuverlässiger Mann war. Er gab einfach und ohne Umschweife an, was er verlangte; aber nachdem er dies erhalten, hielt er an seinem Worte mit der größten Gewissenhaftigkeit fest.“ Er könne ihm trotz mancher Auseinandersetzungen, die er mit ihm hatte, seine Achtung „nicht versagen, sowohl als einem großen Diplomaten in seinem merkwürdigen kleinen Reiche als auch als einem Manne, ausgezeichnet durch Aufrichtigkeit und Geradheit.“ (4, S. 171, 213)

Diese Achtung beruhte auf Gegenseitigkeit. Im Gedächtnis der Tuareg lebt Heinrich Barth als der erste europäische Forschungsreisende weiter, der ihrem Volk vorurteilslos, mit Achtung und Liebe, statt Feindschaft, Haß und Verachtung entgegengekommen war (5, S. 13). Einem später reisenden Forscher wurde empfohlen, sich immer als der Sohn von Heinrich Barth auszugeben, dann würde ihm nichts passieren und er überall gern und gut aufgenommen werden!


„Aber es ging nicht anders.“ -


Europäische Freundschaft mit den Tuareg heute


Der schon mehrmals erwähnte und auch zitierte Mano Dayak ist nach 1992 – trotz seiner Ablehnung des Krieges – der militärische (und politische) Führer des Überlebenskampfes seines 1-Millionen-Volkes geworden und hat auch Verhandlungen mit der Regierung des Staates Niger geführt. 1995 verlor er auf einer von ihm selbst – aus militärischen Gründen in dem sehr abgelegenen Air-Gebirge – ausgewählten und eingerichteten, zu kurzen Landepiste an den diese begrenzenden Felsen beim Start des Flugzeuges zusammen mit den Begleitpersonen das Leben. Er sollte gerade zu weiteren Verhandlungen mit der nigerianischen Regierung geflogen werden.

Der deutsche Journalist Michael Stührenberg von der Zeitschrift Geo und seine Frau Judith hatten Mano Dayak als ihren „besten Freund“ angesehen und waren wie viele andere Freunde Manos innerhalb seines Volkes und in der ganzen Welt über dessen Tod tief erschüttert (18, S. 162). Stührenberg berichtet, wie die europäischen Freunde Manos zuvor richtiggehend eifersüchtig untereinander auf die Freundschaft dieses Mannes gewesen waren. Die Freundschaft zu ihm veranlaßte viele Menschen, sich für den Freiheitskampf seines Volkes einzusetzen (18, S. 178):

„Unsere Hilfe für Mano forderte ihren Preis. Sein ‚Kriegsschatz‘ war aufgebraucht. Oft zahlten wir nun an seiner Stelle. Die Telefonrechnungen ... haben uns regelmäßig ruiniert. Aber es ging nicht anders. Während ich als Reporter unseren Lebensunterhalt verdiente und, wenn es nicht reichte, die Bank um Kredite anbettelte, opferte meine Frau Judith ihre Zeit ausschließlich für die Rebellen. Sie schrieb die Kommuniques, sorgte dafür, daß sie in die Presse kamen, und erledigte, was Mano in seinen täglichen Anrufen aus der Wüste an Bestellungen durchgab. Manchmal ähnelte die Rebellion einem Familienunternehmen.“ 

Mano Dayak verstand es, „durch anhaltende Präsenz in den Medien weiterhin Druck auf“ die ehemalige Kolonialmacht „Frankreich und den Niger auszuüben. Zugegeben, wir halfen ihm dabei. Doch war es sein Verdienst, denn für keinen anderen hätten wir uns derart engagiert. Wir konnten Mano nichts verweigern, weil auch er uns nichts verweigerte. Niemand war großzügiger, niemand selbstloser als er. Er gehörte zu jener seltenen Spezies, von der es oft heißt, der Umgang mit ihnen mache Menschen besser.“ (18, S. 178)

Da wandert ein heutiger Zeitgenosse, gar ein renommierter Geo-Journalist, in das Lager der „heillosen romantischen Verklärer“ ab! Da glaubt einer an Ideale und an das Edle im Menschen, ja setzt sich selbst dafür ein – und das, obwohl es sich um ein angeblich so „sittenloses“ Volk handelt!

„Wir, die Weißen.“


Bei den Tuareg galt und gilt es als vornehm, dunkelhäutig zu sein, da dies als ein Hinweis darauf angesehen wird, wie reich und wie viele schwarze Sklavinnen die eigenen Vorfahren hatten. Es gibt also eine jahrhundertealte Vermischung von Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft in diesem Volk. Auch dieser Umstand bedürfte einer tiefestgehenden kulturphilosophischen Ausdeutung, um keinerlei Mißverständnisse hervorzurufen. Aus diesem Grund muß eine solche auch künftigen Beiträgen vorbehalten bleiben.

Weil die adligen (hellhäutigen) Männer mit den schwarzafrikanischen Sklavinnen und den Frauen ihrer (früheren) Vasallen Kinder hatten, können sich heute viele Tuareg auf adlige Herkunft berufen. Trotz der Vermischungen (19) und der daraus folgenden verschiedenartigen Abstufungen an afrikanischer Dunkelhäutigkeit in ihrem Volk fühlen sich die Tuareg, die auch eine Berbersprache sprechen (das sogenannte Tamaschek), sehr selbstbewußt als Weiße.

Dies rief schon bei vielen Europäern Irritationen hervor. So berichtet etwa der französische Dritte-Welt-Politiker Eduard Pisani (5, S. 159): „Ich erinnere mich an eine heftige Diskussion bei Vollmond. Dann ist das Weiß weißer als weiß und das Schwarz schwärzer als schwarz. In der Hitze der Debatte schlug mir mein Gesprächspartner seine ebenholzschwarze Hand auf die Schulter und sagte: ‚Wir, die Weißen ...‘ Er war Tuareg.“ 

Der Franzose war von dem Präsidenten des Staates Mali zur Vermittler-Tätigkeit zwischen der Regierung des Niger und der Minderheit der Tuareg aufgefordert worden. Dies geschah im Anschluß an die Tuareg-Rebellion, die im Jahr 1990, nach einem Massaker der Soldaten des Niger an wehrlosen Frauen und Kindern der Tuareg, hervorgelodert war.

Durch seine Tätigkeit wurde auch Eduard Pisani veranlaßt, sich unter die „hoffnungslosen“ Verklärer des Tuareg-Volkes einzureihen (5, S. 161): „Aber ich kann mit Bestimmtheit schon jetzt sagen, daß ich die interessanteste Zeit in meiner langen politischen Laufbahn durchlebte, als ich an der Analyse der Dialektik von Einheit und Verschiedenheit, der Beziehung zwischen den Ethnien und Rassen mitarbeitete. In meinem Leben waren das die eindrucksvollsten Augenblicke sowohl in menschlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht.“

Kein eigener Staat


Zwischen 1880 und 1904, sowie bei ihrer Rebellion während der deutsch-türkischen Offensive in Palästina in den Jahren 1916/17 haben die Tuareg erbitterte Kämpfe gegen die Kolonialmacht Frankreich geführt. Der Freiheitsheld, der bei ihnen noch heute in großem Ansehen steht, hieß Kaossen ag Kedda (5, S. 17-42; 20, S. 159). Schließlich mußte dennoch ein Arrangement mit der Kolonialmacht Frankreich gefunden werden. Als dann nach dem Zweiten Weltkrieg die Staaten Niger, Mali, Algerien, Libyien unabhängig wurden, ist die Gelegenheit verpaßt worden, den Tuareg ein eigenes Staatswesen zuzuweisen. Gerade sie hatten vor der Kolonialzeit, wie alte Karten zeigen (4, S. 18f) das größte politische Einflußgebiet im nordafrikanischen Raum innegehabt (rund um die Zentralsahara).

Dieser Lebensraum wurde – wie dies etwa auch bei den Kurden in Südwest-Asien der Fall war – willkürlich auf mehrere afrikanische Staaten aufgeteilt. Und in diesen werden die Tuareg nun von Angehörigen jener Volksstämme regiert, aus denen sie früher ihre (schwarzen) Sklaven rekrutiert hatten, und bei denen deshalb heute immer noch eine traditionelle Abneigung gegen die „snobistischen“ Tuareg vorherrscht.

Entwicklungshilfe-Projekte, die über diese Regierungen laufen, erreichen die Tuareg als allerletzte oder vielmehr gar nicht. Zu solchartigen Benachteiligungen kam die langfristige Klimaverschlechterung, die nun in mehrjährigen Dürrezeiten (Jahrhundertdürre von 1972 – 74) das trotzige Ideal der Tuareg „Lieber frei als satt“ (21, S. 20) bis zur äußersten Grenze des Erträglichen angespannt hat.

„Wo sich früher die Kühe meines Vaters fettgefressen haben, sind heute Sanddünen,“ erläutert ein Tuareg-Führer (22). – Manchmal kommt die Entwicklungshilfe jedoch auch an. – Und schon wieder verwandeln sich Alltagsmenschen in hoffnungslose Verklärer und Träumer (22): „Nirgendwo in Afrika werden die deutschen Helfer so gepriesen, wie hier im Norden Malis.“ „‘Ohne deutsche Hilfe wären wir nicht mehr am Leben.‘ Der Mann, der dies sagt, ist kein untertäniger Almosenempfänger. Aboure Ag Mohammed trägt den Kopf hoch und ist ein Anführer der Tuareg, des stolzen Wüstenvolks.“ Wie schaffen es die Tuareg selbst noch in der größten Armut ihren Mitmenschen Achtung abzugewinnen? Wie bleiben sie noch als Bettler Könige? Sollte dies nicht nachdenklich machen?
 
Abb. 2: Ein Tuareg-Mann aus dem Hoggar in Algeria; Fotograf: Garrondo (Wiki)
 

Die Wüste


Erstaunlich bleibt es allemal, daß auch – oder gerade? – in der Wüste der Zentral-Sahara ein so lebensfrohes Volk existiert, das so viele abgebrühte Europäer zu begeistern und zu faszinieren in der Lage zu sein scheint, wenn es sich nur so gibt, wie es ist. Daß das folgende tatsächlich auch über Menschen (und nicht nur über Pflanzen und Tiere) gesagt werden kann, mag als allergrößtes Wunder erscheinen (23, S. 7f):

„Es ist bewegend und erregend zu beobachten, wie die Erde in unbeirrbarem Drang selbst dort etwas Lebendiges hervorzubringen trachtet, wo scheinbar nichts mehr gedeihen kann. Wer hat nicht schon einmal vor Verwunderung vor einem Felsenriß oder vor einem winzigen Sprung in einem Gemäuer gestanden, aus dem sich ein Strauch oder nur ein Grasbüschel hervorgezwängt hat! ... Dasein, nur dasein ... das ist ihr Gesetz. Eine Stätte kann noch so unwirtlich, leer, tot, verdorrt oder eisig sein, es finden sich dennoch Geschöpfe, die imstande sind, hier ihr Leben zu fristen.  ...


Die Namen, die der Mensch den abgeschiedenen Orten gibt, Namen des Todes, der Verfluchtheit, der Hölle, der Trostlosigkeit, verraten, wie verhaßt ihm diese Landstriche sind und wie sehr er sich vor ihnen fürchtet. Aber das Leben fürchtet sich vor nichts. Es nützt die geringste und allergeringste Gelegenheit gierig aus, um sich zu verkörpern, auch im Tal des Todes, auch auf dem Teufelsfelsen, auch in der Steppe des Grauens, auch in der Sorge-Bucht, auch am Hunger-Kap. Warum? Der Erdball hat doch gedeihliche, üppige, gesegnete Landstriche und Gewässer genug und übergenug. Warum muß gerade hier geblüht und gelebt werden? Das Leben antwortet nicht. Es blüht und lebt.“ 

Die Kinderliebe der Tuareg

Und so sei denn abschließend möglicherweise nur noch auf eine „Nebensächlichkeit“ im Volk der Tuareg hingewiesen. Eine Nebensächlichkeit? Gibt es überhaupt irgendetwas Nebensächliches in dem Leben eines lebendigen Volkes? „Das Verhalten schon der jungen Tuaregfrauen,“ so wird von mehreren Seiten unabhängig voneinander immer wieder bestätigt, „ist von einer großen Liebe zu ihren Kindern geprägt.“ (24, S. 111f; 5, S. 142)  Anläßlich einer zufälligen Szene, in der eine Tuareg-Frau sich um ein Kind sorgt, schreibt ein französischer Fotograph (5, S. 142): „Bei ihnen ist jede Bewegung, selbst die alltäglichste, schön.“ 

Auch diese Aussage könnte wieder in Beziehung gesetzt werden zu wesentlichen Aussagen in der Kulturphilosophie. Der französische Missionar und Mönch, der bei den auch im Islam nicht sehr gesetzesfesten Tuareg mit seinen Missions-Bemühungen keinen großen Erfolg hatte, überzeugte die Eltern davon, daß Schulbildung in der heutigen Welt für ihre Kinder doch etwas recht Wesentliches wäre. Er berichtete (7, S. 137): „Oft verlassen mich die Mütter und sagen mir unter Tränen: ‚Also jetzt ist es entschieden, ich vertraue dir meinen Sohn an, gib gut auf ihn acht, tu, was für ihn getan werden muß.‘ Wenn Ihr sehen würdet, wie schön und intelligent diese Kinder sind. Ich fühle mich sehr geehrt, daß man mir ihre Erziehung anvertraut.“ Auch hier wieder ein – „hoffungsloser“ Verklärer.

Doch auch in dem Bericht der deutschen Motorrad-Reisenden wird die ausgeglichene Erziehung, die die Tuareg-Kinder durch ihre Eltern und ihre Kultur erfahren, deutlich (2, S. 102): „Abends leisten uns einige Kinder Gesellschaft. Anders als die Araberkinder im Norden sind sie weder aufdringlich noch im geringsten daran interessiert, uns etwas zu stibizen. Sie wollen uns ganz einfach nur zusehen, auf eine liebenswerte Art ihr Schul-Französisch üben. Als es dunkel wird, sagen sie höflich zu jedem von uns, auch zu Susanne, ‚Bonne nuit, Monsieur!‘ und gehen nach Hause.“

Ein noch nicht angeführter, bekannter französischer Filmregisseur urteilt (5, S. 135): „Nachdem ich sie ein wenig kennengelernt hatte, schien es mir, als lebten sie in ihrer unglaublichen Würde und in ihrer kulturellen Identität wie in einem wirklichen Reichtum, wovon schon die jüngsten unter ihnen, zwischen zwölf und fünfzehn Jahre alt, ein klares Bewußtsein hatten.“ 

Nach so vielen Lobpreisungen über ein Volk stellt sich natürlich die Frage: Wo sind denn nun die Schattenseiten? Wenn man sie suchen möchte, findet man sie sicherlich. Doch: Warum muß „alles in der Welt immer auch seine dunklen Seiten“ haben? Inwiefern wäre eine solche Sicht nicht wiederum die typisch europäisch-abendländisch-pessimistische?  „Das Leben antwortet nicht. Es blüht und lebt.“ – Und: Lasse man doch den einen oder anderen unter uns seine ihm lieben „Träume“ träumen! Allzulang wird er sich ihnen sowieso nicht zuwenden können. Die harte Realität sieht anders aus. Doch die Verschwiegeneren unter uns wissen es besser, sie wissen: Die Träumer sind es, die an der Zukunft der Menschheit bauen. Sind es so wenige, die das wissen?

Erich Meinecke



Schrifttum

Zu 1. bis 13. siehe den ersten Teil dieses Beitrages. (Abschließendes Gedicht: (1, S. 49))

14. Fuchs, Peter: Das Brot der Wüste. Sozio-Ökonomie der Sahara-Kanuri von Fachi. Franz Steiner-Verlag, Wiesbaden 1983
15. Spittler, Gerd: Hirtenarbeit. Die Welt der Kamelhirten und Ziegenhirtinnen von Timia. Rüdiger Köppe-Verlag, Köln 1998
16. Ludendorff, Mathilde: Das Gottlied der Völker. Eine Philosophie der Kulturen. Ludendorffs‑Verlag, München 1936
17. Bode, Petra: Internet-Seite zu den Tuareg: http://home.t-online.de/home/petra.bode/
18. Stührenberg, Michael: Nachwort. In: siehe 5., S. 162 ‑ 184
19. Spittler, Gerd: Warum sind die Kel Ewey-Tuareg so schwarz? In: G. Göttler (Hrsg.): Die Sahara. Mensch und Natur in der größten Wüste der Erde. DuMont-Buchverlag, Köln (2.‑Aufl.) 1987, S. 308 ‑ 310
20. Gaudio, Attilio: Uoimini blu: Il drama die Tuareg tra sotria e futuro. Editioni Cultura della Pace. Firenze 1993
21. Heinrichs, Hans-Jürgen: Die Tuareg – Nomaden in dürftiger  Zeit. In: Erzählungen und Gedichte der Tuareg. Qumran-Verlag, Frankfurt/M. 1980, S. 19 – 25
22. Michler, Walter: Die Rückkehr der Wüstenritter. Bonn hilft  Nomaden. In: Focus 2/1998, S. 168 – 171
23. Disney, Walt: Die Wüste lebt. Nach dem Film beschrieben von  Manfred Hausmann. Blüchert-Verlag, Stuttgart 1955
24. Sommer, Heike Miethe (Hrsg.): Poesie der Tuareg. Verlag Wendelin Niedlich, Stuttgart 1994





Einsam und verlassen

Kamid, wie erträgst du
das Fehlen der Liebsten?

Sie ist von dir gegangen,
du bist hier geblieben.

Nimm eine Pfeife
und ein Pfund Tabak
mit in die Länder,
in die du jetzt ziehst!
 

Freitag, 9. Februar 2001

Die Tuareg - ein Volk wie aus einer anderen Welt

Die schönsten Frauen dieser Zeit

Euch, die ihr sagt,
ich sei unterwegs gewesen,
um die Frauen zu sehen,
frage ich:
Bei welcher, meint ihr,
bin ich gewesen?

Als ich das Tal I-n-asaken verließ,
hatten sich die Frauen
prächtig zurecht gemacht,
an der Spitze Keriba,
ihr zur Seite Daha,
Ta-anderret, die ich liebe,
und außerdem Tella.
Nebrouka, die ebenfalls da war,
hat für mich nicht ihresgleichen.
Chennou, die hasse ich nicht,
auch nicht Tehit, die Schöne,
und ebenso Rakma,
wie auch Baiia, die Herrin des Ahals.
Fankana war da, begleitet von Haiia.
Und was sagt ihr von Terzer und Mala?

Wem all diese Frauen nicht gefallen,
bei dem stimmt etwas nicht,
der ist ein unholder Geist
und kein lebendiger Mensch!

Die Tuareg – 

ein Volk wie aus einer anderen Welt

Europäer erleben den Orient

 

Vorbemerkung

Die Philosophie Mathilde Ludendorffs sieht in der kulturellen Vielfalt der Völker auf dieser Erde den größten Wert in diesem Weltall. Bei dieser Sachlage ist es doch eigentlich schon merkwürdig, wie selten die Anhänger dieser Philosophie - um von anderen Menschengruppen an dieser Stelle zu schweigen - ihre Aufmerksamkeit in das Zentrum dieser Tatsache hineinlenken. Wer das Werk Mathilde Ludendorffs „Das Gottlied der Völker“ kennt, in dem vor allem das Volk der Samoaner als ein Anschauungsbeispiel für viele allgemeinere Erkenntnisse und Einsichten dieser Kulturphilosophie herangezogen wird, der sehnt sich doch vielleicht auch einmal danach, daß die hier angeführten allgemeineren Erkenntnisse und Einsichten nun durch vielfältige anderweitige Beispiele aus anderen Kulturkreisen erweitert und ergänzt werden, und daß die in dem genannten Werk vielfältig uns Nachlebenden offengelassenen „Lücken“ endlich einmal aufgefüllt werden.

Freilich: Ein einfaches Übertragen der bezüglich des Volkes der Samoaner geäußerten Einsichten etwa auf das Volk der Tuareg wird natürlich nicht möglich sein. So einfach macht es uns die uns umgebende Wirklichkeit offenbar nicht. Eine selbständige (und auch möglicherweise tiefgehende) Denk- und Urteilsfähigkeit wird auch hier von dem die Tatsachen zur Kenntnis Nehmenden einzufordern sein. Wie ist das kulturelle Leben des Volkes der Tuareg und zahlreiche Erscheinungen in diesem Leben aus der Sicht der Philosophie Mathilde Ludendorffs zu sehen? Wie ist es einzuordnen? Was muß aus dieser Sicht heraus wichtig erscheinen, was weniger wichtig?

Den Versuch zu einer umfassenden Beantwortung derartiger Fragen und zu (allen Menschen so wichtigen) „wasserdichten“ Begründungen für etwaige Antworten - die ja sehr viel mehr auf Erlebnisgehalte, denn Vernunfteinsichten abgestimmt sein müßten - unternimmt der folgende Beitrag schlichtweg nicht. Dennoch erscheint es dem Autor wichtig und wertvoll genug, einmal darauf aufmerksam zu machen, daß es auch noch andere lebendige Völker außer den Samoanern gibt und daß sie sogar jetzt, im gegenwärtigen Augenblick genau in der gleichen Weise leben, wie es in altehrwürdigen Büchern wie modernsten Reisebeschreibungen dargestellt ist.

Eine lebendige Schilderung des Lebens eines solchen Volkes sollte Anregung zu zahlreichen kulturphilosophischen, volkspsychologischen und anderen Betrachtungen geben, die der Autor an dieser Stelle aber einmal weitgehend den Lesern selbst überlassen möchte. Denn gründliches und selbständiges Denk- und Urteilsvermögen ist es ja doch wohl auch, was unser Volk und unsere Gesellschaft wieder einigermaßen emporbringen könnten.


Abb. 1: Ein Tuareg, Mali, 1974 (Wiki)


Die Tuareg – Ein Volk wie aus einer anderen Welt


Drei auffällig hübsche Mädchen kommen uns entgegen, empfangen uns mit der typischen Art der Tuaregfrauen, einer Mischung aus Schüchternheit und Flirt. Wir wandern hinter den drei Schönheiten her immer tiefer in den schattigen Palmengarten.“ (2, S. 96 - 99) „Die Art, wie sie uns empfingen, war voller Erhabenheit.“ (3, S. 139) „Es ist wie ein Traum.“ (2, S. 151) „Nur noch einige Augenblicke betrachte ich ungläubig die märchenhafte Umgebung, die im Feuerschein flackernden, mit Teppichen und Decken behängten Schilfwände, die vom Dachgerüst aus knorrigen Ästen baumelnden Lederutensilien. Unser Gastgeber hockt auf einem bunten, gewebten Teppich, wickelt sich gerade seinen viele Meter langen Turban, den chech, vom Kopf. Während ich sein markantes, beinahe europäisch wirkendes Gesicht betrachte, fallen mir die Augen zu.“ (2, S. 36) „Es war eine imposante, hohe, kräftige Gestalt mit einem schönen, edle, ausdrucksvolle Züge aufzeigenden Kopf.“ (4, S. 363) - Begegnungen mit dem Volk der Tuareg - ein Volk wie aus einer „anderen Welt“?

Zerbrechlichkeit


Ein Europäer, Eduard Pisani, gibt das treffsichere Urteil: „Die Tuareg sind von außerordentlicher Kraft, wenn sie eine Waffe in der Hand haben, und gleichzeitig von größter Zerbrechlichkeit. Es gibt nicht ihresgleichen im Kampf, der in ihrem gewohnten Umfeld“ (der Zentral-Sahara) „stattfindet. Wenn der Kampf beendet ist, sind sie meistens zwar Sieger, zugleich aber Gefangene einer immer feindlicher werdenden Umwelt.“ (5, S. 157)

Eine französische Entwicklungshelferin schreibt: „Das Volk der Tuareg, dessen Kultur und moralische Größe nur wenige Menschen kennen, ist in Gefahr unterzugehen. Das Herz blutet mir, während ich das schreibe.“ Und sie setzt fort: „Die Tuareg sind ein stolzes Volk, das nichts so sehr liebt wie seine Freiheit.“ (5, S. 133)

Ein Volk, das keine Rauschgifte, keinen Alkohol kennt, in dem Pornographie verabscheut wird. „Das Kino und die Fotographie stehlen die Seele,“ ist ihr einfaches und klares Urteil (6, S. 105). Ein lebhaftes, geistig regsames, waches Volk, ein Volk, das leicht für „Dummheiten“ zu gewinnen ist. Leicht lassen sie sich auf irgendwelche „Leichtsinnigkeiten“ ein. Doch in einer afrikanischen Bar, wo Alkohol ausgeschenkt wird, wird man Angehörige vieler Volksstämme finden – niemals aber einen Tuareg.

Wie auch (oftmals) wir Europäer sind Tuareg empfindlich, leicht vergrollt, oftmals verstockt, oftmals uneins, entzwei mit sich selbst, mit ihren Angehörigen, mit ihrer Umwelt, der Welt überhaupt. Aber es gibt eben in diesem Volk auch eine andere Seite: eine stolze, lebensbejahende, offene, weltläufige Haltung, ein freies, auf stolzer Unabhängigkeit beruhendes Benehmen.

Der Gesichtsschleier der männlichen Tuareg ist das Kennzeichen dieses Volkes. Nicht die Frauen tragen also in dieser (äußerlich sonst islamischen) Kultur den Gesichtsschleier. Sie gehen vielmehr meist unverschleiert! Nein, in dieser Kultur sind es sonderbarerweise die Männer, die ihre Verletzlichkeit, ihre „Scham“ durch einen Schleier schützen, die durch die Möglichkeiten von Verschleierung und Entschleierung ihren Weg gefunden haben, gegenüber ihrer Mitwelt ihr „Gesicht zu wahren“.

Freilich ist ihnen dabei wohl auch das Unheimliche, Bedrohliche, Abschreckende, Kriegerische, das mit einer Gesichtsverschleierung bei schwerttragenden, kamelreitenden Männern verbunden sein kann, bewußt und wohl auch willkommen. Doch das ist nicht der tiefere Anlaß für das Tragen eines Gesichtsschleiers. „Scham“, Anstand und Würde, das Streben, sich einen leicht verletzlichen Stolz nicht antasten zu lassen, gebietet den erwachsenen Männern gegenüber fremden Menschen, gegenüber Frauen – vor allem gegenüber der hochgeachteten Schwiegermutter – das Tragen eines solchen.

Leben in einer entspannten Atmosphäre


Das Alltagsleben dieses Volkes ist von einer entspannten, wohltuenden Ruhe bestimmt, die uns Europäern wohl in dieser Weise nicht – oder kaum noch – bekannt ist (bzw. leicht in Phlegma, seelische Unlebendigkeit abfallen kann): „Wir vergessen völlig, daß wir heute eigentlich noch nach Mertoutek wollen. Wieder einmal fühlen wir uns in der Gesellschaft von Tuareg äußerst wohl, genießen die Entspannung und das anregende Getränk. Es wird nicht viel geredet. Hektik und Aufdringlichkeit ist diesem Volk unbekannt,“ berichten Münchener Motorrad-Reisende (2, S. 93).

(Wir) genießen Entspannung, Kühle, Tee und die immer wieder so unbeschreiblich angenehme Atmosphäre in der Gesellschaft von Tuareg.“ (2, S. 151) All das liegt natürlich an den Menschen selbst. Europäische Reiseeindrücke lauten: „Grazie und Vornehmheit zeichnen unsere Gastgeberin aus.“ „Ich bin betroffen von der Sanftheit im Blick einer Tuaregfrau.“ „Wir verlassen das Lager, wo uns die Tuaregfrauen so gut aufgenommen haben: die Eleganz der Bewegung und das sanfte Lächeln dieser Frau scheinen uns ‚Gute Reise‘ zu wünschen.“ (7) „Alle sind außerordentlich zurückhaltend,“ so auch ein junger französischer Mönchs-Missionar: „die Atmosphäre ist sehr gesund.“ (8, S. 86)

Stolz, Vornehmheit und Liebe zu schönen Dingen


Als sie eintraten, breitete sich ein Schweigen im Saal des Restaurants aus – mit einem Schlag, allein durch ihre Anwesenheit, hatten sie dem (Film-)Team den größten Respekt eingeflößt,“ schreibt ein französischer Filmregisseur über seine Zusammenarbeit mit Tuareg bei der Produktion des Filmes „Der Himmel über der Wüste“. (3, S. 137)

Der Hamburger Afrikareisende Heinrich Barth, der als einer der ersten Deutschen und Europäer in das Innere Afrikas eindrang, sprach von „dem männlichen, freien Benehmen, das niemand verfehlen kann, selbst an einem gewöhnlichen Freibeuter der Tuareg zu bewundern.“ (4, S. 145) Wie tief die Persönlichkeits-Werte des Volkes der Tuareg ihn beeindruckt hatten, stellten Barths Verwandte fest, als dieser 1855 34-jährig nach fünfjähriger aufreibender Forschungsreise aus Afrika zurückkehrte: „Sein Auftreten hatte das Ernste und Würdevolle, Zurückhaltende, Stolze, fast Hochmütige im Benehmen der Wüstensöhne angenommen.“ (4, S. 427)

„Das traditionelle Erscheinungsbild der Tuareg: der fürstliche Gang, der stolze Blick, die natürliche Mischung von Hochmut und Adel,“ erläutert ein französischer Fotograph eines seiner Bilder. (7) Ein dänischer Völkerkundler berichtet:

Eine andere Eigenschaft, die allen Tuareg eigen ist, vor allem denen der Adelsschicht, ist ihr ‚Vornehmtun‘ (ihr ‚Snobismus‘). So benennen es regelmäßig viele in Tamanrasset und Agadez ansässige Franzosen. ... Das Verhältnis der Tuareg zur Etikette ist nicht leicht in Worte zu fassen. Gang, Gesten und Körperhaltung drücken Eigenschaften wie Eleganz, Arroganz, Feinheit und Kraft aus. Wertschätzung hinsichtlich Kleidung und Schmuck ist eine weitere Eigenschaft aller Tuaerg. ... ‚Bedeutend und wichtig‘ zu sein, ‚Prestige zu besitzen‘ hat große Bedeutung für die Tuareg. Sie sind viel anspruchsvoller als alle anderen Menschen ihres Landes.“ (9, S. 14f)

Ein deutscher Reisejournalist, der an einer Tuareg-Karawane teilnahm, berichtet von einem schon älteren Tuareg: „Als einziger der Gruppe ist er mir gegenüber noch mißtrauisch, zieht seinen alten tagelmust(Gesichtsschleier) „fast grimmig über Mund und Nase, wenn ich ihn nur anschaue.“ (10, S. 80) „Das faltenreiche, dunkelblaue Übergewand wirkt zusammen mit dem gegürteten Schwert wie die Toga eines vornehmen Römers.“ (10, S. 78)

Am tiefsten läßt wohl der folgende Bericht in die Welt, die soziale Atmosphäre im Leben der Tuareg blicken: „Was die Anpassung angeht,“ berichtet der schon erwähnte junge, idealistische Mönchs-Missionar aus Frankreich, der sich darum bemühte, völlig in der Kultur der Tuareg aufzugehen und selbst in Kleidung und Verhalten ein solcher zu werden – wobei er seitens der gastfreundlichen Tuareg aufnahmebereite Unterstützung fand:

Bei der Suche nach der Anpassung um jeden Preis riskiert man, einen Umweg über den ‚Geist der Welt‘ der Tuareg zu machen: sich männliches Prestige zu sichern, vor allem gegenüber den Frauen. ... Liebe zu festlichen Kleidern, Waffen, zur Jagd, zu allen möglichen guten Dingen, Tieren und verlockenden Gegenständen.“ (8, S. 95)

Ein Tuareg-Sprichwort lautet: „Was wünscht sich der edle Tuareg? Ein weißes Kamel, einen roten Sattel, sein Schwert und ein Lied beim Ahal!“ (11, S. 5) Ahal ist das typische Tuareg-Fest mit Kamel-Wettreiten und gemeinsamem Singen zur Tuareg-Geige (der Imzad) in den fruchtbaren Jahreszeiten. „Mit Begeisterung“ spricht eine Tuareg-Frau gegenüber einer nordamerikanischen Völkerkundlerin „über das Parfüm, die Kleidung und den Schmuck, die auf den Festen getragen werden und sie liebt die lieblichen Gerüche in der Luft während der“ – den Festen ähnelnden – „Geistheilungs-Versammlungen. Das Parfüm wird von den jungen Männern auf den Festen ebenso wie während der Geistheilungs-Versammlungen getragen und hat“ – in targischen Augen – „auch Einfluß auf die Geister.“ (12, S. 19)

Geistheilungs-Versammlungen als wichtige soziale Technik


Ein wichtiger Bestandteil der Kultur der Tuareg ist ihre Ansicht, daß Menschen vom Kel assouf, vom „bösen“ oder „unholden Geist“, dem Geist eines verstorbenen Menschen befallen werden können. In Europa wurden solche Geister „Wiedergänger“ genannt oder ähnlich. In der Vorstellung, daß die Seele eines Menschen von dem Geist eines gestorbenen Menschen befallen werden kann, schwingt vielleicht eine Ahnung darüber mit, daß auch körperlich lebendige Menschen seelisch in den Zustand des „Gestorbenseins“ hineingeraten können, und daß sich ein solcher Zustand für das Gemeinschaftsleben ungünstig auswirkt.

Die Tuareg haben nun interessante soziale Techniken entwickelt, um ihren Volksangehörigen – und damit ihrem Volk insgesamt – in einem solchen Falle helfen zu können. Solche vom Kel assouf befallenen Menschen werden in eigens dafür einberufenen Versammlungen, die den üblichen Festveranstaltungen fast gleichen, in die Mitte der Gemeinschaft genommen. Es wird wie auch auf den Festen gesungen, musiziert, ja geflirtet. Die „erotische Komponente“, die bei den Festen eine so große Rolle spielt, kommt auch bei diesen Heilversammlungen zur Geltung. (11, S. 17 u. 294)

Dabei wird den vom Kel assouf befallenen Menschen Gelegenheit gegeben, ihre innerseelischen Probleme und Konflikte im Rahmen und vor dem Hintergrund einer sowohl an ihren Problemen interessierten, wie auch sich distanziert gebenden Gemeinschaft mit sich selbst auszudiskutieren und zu lösen.

Dies geschieht vor allem durch und in die Einbettung in die targischen Kulturelemente Musik und Gesang, festliche, fröhliche Stimmung. Diese soziale Technik erlaubt es den Tuareg, ganz individuelle Probleme (Eheprobleme, Eifersucht, Untreue und anderes) vor dem Hintergrund einer zurückhaltenden, aber verständnisvollen und anteilnehmenden Gemeinschaft mit sich selbst auszudiskutieren. Und dies kann geschehen, ohne daß man dabei gegenüber den eigenen Freunden und Verwandten das Gesicht verliert. Diese „Geistheilungs-Versammlungen“ nehmen neben den Festen eine zentrale Stellung in der Tuareg-Kultur ein. (12, S. 148f)

Die Verbindung von Frau und Mann


Die Verbindung von Frau und Mann wird in vielen Liedern der Tuareg – zum Teil in erschütternder Weise – besungen. Dies geschieht vor allem auf dem Ahal, den festlichen Versammlungen in den fruchtbaren Jahreszeiten. Hier berichten die meist nur mündlich überlieferten und immer wieder abgewandelten Lieder davon, wie ein Mann allein in die Wüste reitet. Nur die Erinnerung an das Zusammensein mit der geliebten Frau läßt ihn die oft wochenlangen Einsamkeiten der Wüste ertragen. Er sehnt sich nach seiner Frau zurück – trotz seiner heldischen Lebensauffassung. Er möchte nicht mehr weiter in die Wüste reiten und so weiter. (13)

Wie in vielen anderen Einzelheiten der Tuareg-Kultur scheint auch hier wieder die innere „Zerbrechlichkeit“, die Empfindsamkeit der Tuareg bei gleichzeitigem heldischem Ideal auf. Es scheint fast, als ob Menschen und Kulturen, die nicht bereit sind, dieses Spannungsverhältnis in ihrem Innern auszuhalten, in einer Umwelt wie der Zentralsahara nicht dauerhaft zu überleben geeignet sind.

In der den Menschen übewältigenden Einsamkeit und Trostlosigkeit der Sahara schöpfen die Tuareg ihre große Lebenskraft und ihren Lebensoptimismus vor allem aus der Verbindung zwischen Mann und Frau. Diese ist für dieses Volk vielleicht noch wichtiger als für viele andere Kulturen.

Doch kann man sich beim Umsinnen dieser Tatsachen auch die Frage stellen, ob die gegenwärtigen „sozialen Wüsten“ in der Mitte Europas nicht ähnliche Lebensverhältnisse schaffen, wie jene, mit denen sich die Tuareg ihr Leben lang auseinanderzusetzen haben: „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt,“ sagte schon das bekannte Nietzsche-Wort im vorvorigen Jahrhundert. Ganz sicherlich geht von dem Gefühl, einer solchen Entwicklung weitgehend abwehrlos ausgeliefert zu sein, ein Großteil der Faszination aus, die die (psychologischen) Überlebensstrategien der Tuareg-Kultur auf viele Europäer ausüben. Auch die europäische Kultur ruht auf zerbrechlicheren Grundlagen, als viele ahnen. (Von diesem Umstand her müßte eine tiefergehende philosophische und psychologische Bewertung und Einordnung des Volkslebens der Tuareg sicherlich ihren Ausgangspunkt nehmen.)

Der Mann mit dem schwarzen Bart



Auf jeden Fall wird deutlich und verständlich, wie wichtig, existentiell die Verbindung zwischen Mann und Frau und das Geschehen, das sich dabei abspielt, für die Kultur der Tuareg ist und auch sein muß. Auch Eifersucht, Treulosigkeit, Trauer, innere Erregtheit bei äußerer Wahrung des Gesichtes spielen hier eine große Rolle. Ein großer Teil der Probleme, die auf den Geistheilungs-Versammlungen in den überlieferten Lied- und Musikformen in formeller und informeller Weise „ausdiskutiert“ werden, sind Eheprobleme oder haben allgemein mit der Verbindung zwischen Mann und Frau zu tun.

Ein deutscher Völkerkundler weiß hierüber manches zu berichten, das Gesellschaften, in denen immer noch – mit tiefer innerer Berechtigung – die lebenslange Einehe das kulturelle Ideal darstellt, vordergründig recht fremd erscheinen muß: „Scheidungen werden von beiden Seiten betrieben. Hat eine Frau von ihrem Mann genug, bittet sie ihn, sie zu ‚verstoßen‘. Folgende Verse wurden von einer Frau gedichtet: ‚Ich habe einen Mann gesehen mit schwarzem Bart. Er hat mich so verwirrt, daß mir aus der Hand fiel, was darinnen war, daß ich mich nackt glaubte, obwohl mit drei Gewändern bedeckt. Mit ihm Ehebruch begehen, das werde ich nicht tun, Ehebruch ist Unehre. Mein Wunsch ist: Ich möchte verstoßen werden.‘“ (11, S. 20)

Aber auch eine amerikanische Anthropologin berichtet mit einer gewissen Verständnislosigkeit von der tiefen inneren Erregtheit, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen kann: „Zum Beispiel schämte sich eine Freundin, mit in gelegentlicher Unterhaltung zu sagen, daß sie ein bestimmtes Dorf gegenüber ihrem jetzigen Wohnort bevorzugte. ... Das erste war das Zuhause ihres Ehemannes und eine Offenbarung dieser Bevorzugung würde gleichbedeutend damit sein zuzugeben, daß sie ihren Ehemann zu sehr liebt.“ (12, S. 20)

In der eingangs erwähnten Palmgarten-Szene berichten Münchener Motorrad-Reisende „von der Karawane im Qued Dehine. Zwei der drei Frauen werden ganz aufgeregt, als Abdul übersetzt. Offenbar sind ihre Männer dabei.“ (2, S. 99) Ist unser europäisches Abendland zu „alt“ geworden, um zu verstehen, was bei all dem insgesamt der bewegende Moment ist? Müßten wir 16-jährige „Teenager“ sein, um all das noch verstehen zu können?

Das können wir nicht, diese Schönheiten vertreiben.“


Und welche – orientalischen – Geschichten erzählen sich die Männer auf ihren Karawanen, „wenn sich der Tag endlos hinzieht und abends die Kälte kommt“? „Der“ – schon erwähnte – „‘Römer‘, unser alter vitaler Geschichtenerzähler, hält wohl am stärksten die Karawane zusammen – er macht sich dadurch selbst am meisten Mut und unterhält auch die anderen.“ (10, S. 80) (Von der Kälte der saharischen Nächte machen sich viele, die niemals dort waren, keinen rechten Begriff.) Es sei an dieser Stelle etwas ausführlicher eine dieser Geschichten wiedergegeben, da sie so gut in das ehrenhafte, freundliche, seelisch hinaufreißende Leben dieses Volkes einführen kann:

Es passierte in den 1950er Jahren, zur Kolonialzeit. Mein Bruder diente bei den Franzosen in der Kamelreitertruppe. Sie sollten ein Gebiet im Air freimachen, damit es als Kamelweide geschützt wäre. Auch die Bewohner einer winzigen Siedlung – sie hatten nur vier Hütten – mußten verschwinden. Soldaten gingen zur ersten Strohütte. Zwei wunderschöne Mädchen saßen darin. Sie liefen zurück und sagten: ‚Das können wir nicht, diese Schönheiten vertreiben.‘ Mein Bruder antwortete: ‚Das will ich doch sehen, ob man es nicht kann.‘ Er ging hinein, erstarrte ehrfürchtig und berichtete seinem Chef, dem Unteroffizier: ‚Bei Allah, so schöne Frauen habe ich noch nicht gesehen. Ich kann sie nicht wegjagen.‘ Der Unteroffizier wunderte sich: ‚Soldaten, die sich vor zwei Frauen fürchten, wo gibt es sowas?‘ und eilte selbst hin. Sah die beiden lange an. Von oben nach unten und umgekehrt. Dann sagte er nur ‚Entschuldigung für die Störung‘ und ging wieder. Seither blieben sie im Lager und konnten dort weiterleben.“ (10, S. 76f)

Fröhlichkeit und Lebendigkeit der Tuareg


Als Gegengewicht zu den menschenfeindlichen Entbehrungen der wüstenartigen Umwelt, in der die Tuareg von ihrer Geburt bis zum Tod leben, pflegen sie auch eine ausgeprägte Lebensfröhlichkeit und Lebendigkeit ihrer Kultur. Die Münchner Motorrad-Reisenden berichten von ihrer Rast an den vielen natürlichen Wasserbassins des sogenannten „Paradies-Canyons“ wiederum von einem Erlebnis, demgegenüber mancher Mitteleuropäer noch Fremdheit empfinden wird: „Als wir um einen großen Felsen herumschwimmen, ein zweites, engeres Becken erreichen, sind plötzlich fröhlich lachende Frauenstimmen zu vernehmen. Was wir dann sehen, läßt uns gleich mitlachen: Der Lehrer des Dorfes, ein junger, gutaussehender Targi amüsiert sich mit drei Dorfschönheiten beim Bade.“

Die vier, splitternackt wie wir, sind bei unserem Anblick alles andere als peinlich berührt. Vor allem die drei Mädchen kriegen sich vor Lachen und Schäkern überhaupt nicht mehr ein. Wieder einmal stellen wir fest, daß es innerhalb der muslimischen Lebensart verschiedene Welten gibt. Für die gläubigen Araber des Nordens mit ihrem strengen Moralkodex wäre undenkbar, was in der relativ liberalen, matriarchalisch beeinflußten Kultur der Tuareg selbstverständlich ist.“ (2, S. 152f)

Und der Tuareg-Führer Mano Dayak erläutert dies dahingehend: „Bei uns braucht die Targia den angeblichen Schutz, den ein radikaler Isalm für die Frauen vorsieht, nicht. Sie läuft niemals Gefahr, ein ‚Sexualobjekt‘ zu werden. Kein Mann würde es je wagen, ihr den gebührenden Respekt zu verweigern oder sie gar zu belästigen.“ (5, S. 49)

So auch die Erfahrung von Europäern: „Susanne verspürt als wohltuenden Gegensatz zu den Arabern des Nordens, daß sie als ganz normaler Mensch behandelt wird und nicht als potentielles Sexual- oder gar Schauobjekt.“ (2, S. 93) Diese targische Hochachtung vor der Frau ermöglicht den targischen Frauen einen selbstsicheren, vertrauensvollen Umgang mit den Männern. Die nordamerikanische Völkerkundlerin berichtet von jener Sitte bei den Tuareg, die sowohl größte Faszination wie größte Abstoßung bei Europäern – ganz unterschiedlichster moralischer Einstellungen – hervorruft:

Am nächsten Morgen hörte ich Abdullah, den Bruder von Moussa, scherzhaft darüber reden, wie viele Männer nach der Geistheilungs-Versammlung gegangen wären, um nach den Frauen zu sehen. Für Männer ist es gebräuchlich, nachts nach Festen jeder Art, einschließlich jener Riten für Menschen, die von der Seele eines Gestorbenen befallen sind, nach den Frauen zu sehen, wenn sich alles zurückgezogen hat. (Doch kann ein Mann auch aus dem Zelt einer Frau hinausgeworfen werden, wenn sie seine Aufmerksamkeiten nicht wünscht.) Wenn junge Männer über die Heilungs-Versammlungen sprechen, sind es – mehr als die Versammlungen selbst – diese Stelldicheins, von denen sie am häufigsten sprechen.“ (12, S. 17)
 
Abb. 2: Männer der Tuareg im Niger, 1997, Fotograf: Dan Lundberg (Wiki)
 

Die „leichten Sitten“ der Tuareg ...


(Es werden an dieser Stelle die Einwände aller jener übergangen, die ein derartiges, hier beschriebenes Verhalten schon an sich für „sittenlos“ halten, ganz unabhängig von der Einbettung desselben in die übrigen Kulturelemente, die Lebensweise und Lebenshaltung eines Volkes. Stattdessen wird in der Schilderung einfach fortgefahren.) „Schamhaft verhüllen die Frauen ihre Nase, wenn sie sich im Lager von einem Fremden beobachtet fühlen.“ (7) Doch auch der Hamburger Afrikaforscher Heinrich Barth bestätigt die „leichten Sitten“ der Tuareg. Man hat den Eindruck, so manches „Oasen-Bild“ europäischer Dichter (wie etwa Nietzsches oder Ibsens) ist seinen Schilderungen entnommen. Barth erzählt nämlich von den „übermütigen Emgedesierinnen“:

Am nächsten Morgen hatte ich einen noch auffallenderen Beweis der leichten Sitten von Agadez. Fünf oder sechs Mädchen oder Frauen kamen in unser Haus, um mir einen Besuch abzustatten, und luden mich mit großer Einfachheit ein, mit ihnen lustig zu sein, da es jetzt bei der Abwesenheit des Sultans nicht mehr nötig sei, zurückhaltend zu sein. Es war in der Tat unterhaltend, zu sehen, welche Schlüsse diese Sünderinnen aus dem Motte ‚sserki yatafi‘ zogen und mit welcher Frivolität sie mich unter vielem Gelächter um ein zweideutiges ‚magani-n-tscheki‘ baten.

... Sie gehen unverschleiert, ziehen aber gelegentlich, mehr aus Koketterie als aus Schamhaftigkeit, ein Obergewand über den Kopf.“ – Ohne die deutsche Übersetzung zu den angeführten targischen Ausdrücken anzuführen, beendet der christlich erzogene, deutsche Forscher seine Ausführungen hier mit den Worten: „Diese Emgedesier Fräulein oder Frauen gingen in ihrem Übermut jedenfalls etwas zu weit.“ (4, S. 188f)

... und die „christo-maskulinen Interessen“ der Europäer


Was die Frauen angeht,“ so notiert ganz auf der gleichen Linie liegend der junge Mönchs-Missionar aus Frankreich: „Provoziert durch die umgebende Mentalität ... ist man gezwungen, den Beweis der Männlichkeit zu erbringen; der isolierte Missionar hat praktisch ständig Gelegenheit zur Sünde. Die grundsätzliche Schwierigkeit besteht vielleicht darin, daß er sich fürchtet, als abnormal, krank, Eunuch, homosexuell oder als Monster angesehen zu werden. Denn in dieser Gesellschaft wird das Ansehen mehr als anderswo durch die Frauen bestimmt. Es ist also ratsam, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Flucht vor wirklich provozierenden Gelegenheiten und einer einfachen Freundlichkeit, einem ‚christo-maskulinen‘ Interesse für die Tuareg-Damen.“ (8, S. 95)

Wie erstaunlich! Selbst der sittenstrenge, katholische Mönch kommt zu einem im Ganzen merkwürdig positiven Urteil. Er scheint deutlich über der „Moral“ seiner Religionsgemeinschaft zu stehen, wenn er weiter fortsetzt: „Die Sitten sind gesund. Es ist wahr, daß die Ehe leicht geschlossen und noch leichter wieder geschieden wird. Einige junge Leute weisen eine Aktivität in zwanzig bis dreißig aufeinanderfolgenden Ehen auf. Aber man findet auch Ehen, die ein ganzes Leben halten.“ (8, S. 51) Tatsächlich: Dieser katholische Missionar versucht das Leben anderer Völker nicht der eigenen (europäischen) Moral zu unterwerfen! Wie mag man das als wohltuend empfinden. Wie kann man bei seinen Urteilen innerlich aufatmen.

Ihre Freiheit, ihre Leichtlebigkeit ... und auch ihre große Schönheit.“


Nein, wer die adlige Gesinnung und den Schönheitssinn der Tuareg nicht in seinem Herzen trägt, wird ihnen und ihrem Leben niemals wirklich gerecht werden können. – Aber wie leicht kann man sich über seine eigenen Gesinnungen täuschen!

Doch der unmittelbare Kontakt mit diesen Menschen verscheucht – wie so oft – manche Blödheit: Einer der französischen Regisseure des Spielfilms „Der Himmel über der Wüste“ machte erst anläßlich der Dreharbeiten seine erste Bekanntschaft mit diesem Volk. Hierbei merkte er bald, von wie vielen Vorurteilen er zuvor den Tuareg gegenüber erfüllt gewesen war. Ursprünglich ließ der Drehbuch-Autor seines Films in effekthaschender Weise eine weiße Frau, die sich in der Wüste verirrt, durch die Tuareg einer Karawane mißbrauchen. Eine solche Szene kam ihm schon bald sehr unrealistisch vor. Der Regisseur suchte sich deshalb durch persönliche Begegnung selbst ein Bild von diesem Volk zu verschaffen:

Als ich das erste mal nach Agadez kam, bat ich darum, mit ungefähr zwanzig Tuaregfrauen und – männern zusamenzutreffen. Ich habe zunächst mit den Frauen gesprochen. Ich forderte sie auf, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, von der Liebe zu reden. Die erste hieß Azahra, sie hatte mit zwölf Jahren geheiratet, sich mit dreizehn scheiden lassen. Mit dreizehneinhalb hat sie erneut geheiratet. Als ich sie traf, war sie sechsundzwanzig, hatte drei Kinder und war Witwe. Wie Azahra, die auch im Film mitspielt und die eine liebe Freundin geworden ist, erzählten mir alle unter fröhlichem Gelächter von ihren verschiedenen Ehescheidungen. Ich entdeckte ihre Freiheit, ihre Leichtlebigkeit ... und auch ihre große Schönheit.“ (3, S. 138)

Der Hamburger Barth berichtet ebenfalls, daß sich die Tuareg zumeist „mit einem einzigen Weibe begnügen; allerdings scheiden sie sich von diesem, wenn es alt wird oder sie seiner überdrüssig werden, und füllen seinen Platz mit einem jüngeren, hübscheren aus.“ (4, S. 124) In folgenden Beiträgen wird es darum gehen müssen, all diese Sachverhalte tiefergehend auszuloten und zu den üblichen Erfahrungen europäischer Kultur in Beziehung zu setzen. In der isolierten Form, in der sie hier angeführt werden, können sie natürlich – gerade bei einem solchen Thema – trotz allem in jeder nur denkbaren Weise Mißverständnisse hervorrufen.

Mit einem Tuareg-Häuptling hatte Barth das folgende Erlebnis: „Um wieder eine Heirat mit irgendeinem hübschen Amoscharh-Mädchen, einige vierzig Jahre jünger als er selbst, schließen zu können, versuchte seine ganze Schlauheit, mir das Geständnis abzulocken, daß ich etwas von meiner Ausstattung zu seinem Besten entbehren könne, ein Paar Pistolen, einen Teppich, einen Burnus oder was sonst. Obwohl dies nun gleich keinen Erfolg hatte, so wurde er doch nicht unhöflich, sondern schien eher an meinem Verhalten im allgemeinen Gefallen zu finden.“ (4, S. 100f)

Das Beste zu geben


Es ist nämlich doch darauf hinzuweisen, daß die „leichten Sitten“ der Tuareg nicht losgelöst von der Gesamtheit ihrer Kultur gesehen werden können. Erst in dieser Gesamtheit machen sie Sinn und geraten nicht in die Gefahr, von „europäischen Einstellungen“ in diesen Fragen mißverstanden zu werden. So komme als ein erster Hinweis auf die übrige Gesamtheit abschließend noch einmal der schon angeführte Filmregisseur zu Wort. In einem zweiten Teil des vorliegenden Beitrages sollen viele bisher nur angedeutete Charakterzüge der Tuareg-Kultur dann eine weiterführende Erläuterung erfahren.

Wir waren im Süden Algeriens, und jetzt galt es, fünfzig Kamele unter der sengenden Sonne der Sahara vor die Kamera zu bringen. Den Algeriern gelang das nicht und noch viel weniger den Franzosen. Da bat ich Mano“ (Mano Dayak, ein bekannter Tuareg, Gründer eines sehr erfolgreichen und wirtschaftlich wichtigen Tuareg-Reisebüros in Agadez) „die Sache in die Hand zu nehmen. Er ließ einige seiner Tuareg-Freunde kommen. Sie sind in Agadez aufgebrochen, drei Tage und Nächte ohne Pause durchgefahren und waren dann eines Abends bei uns. Als sie eintraten, breitete sich ein Schweigen im Saal des Restaurants aus – mit einem Schlag, allein durch ihre Anwesenheit, hatten sie dem Team den größten Respekt eingeflößt. ... Und dann rissen sie das Team einfach mit sich. Wenn die Franzosen erschöpft waren, wenn die Algerier müde wurden – dann lachten sie, gingen voran, und die anderen wurden einfach mitgezogen.

Ich wußte vorher nichts über die Tuareg, war voller ärgerlicher Vorurteile, so wie alle Welt sie mit sich herumschleppt: Tuareg mit undurchdringlicher Miene auf dem Gipfel einer Düne aus brennend heißem Sand. Aber die Wirklichkeit war viel stärker.“ (3, S. 137)

Und wenn nun noch seine folgenden Worte angeführt werden, so möge sich doch der Leser immer wieder daran erinnern, daß hier nicht von irgendeinem Märchen aus „Tausend und einer Nacht“ oder irgendeinem romantischen Traum die Rede ist, sondern von einer Wirklichkeit unserer Zeit: „Was heute“ (1990 – 1992) „den Tuareg zustößt, macht mich um so betroffener, als sie den Krieg ablehnen. Ich weiß nicht, was wir ihnen beibringen können, aber ich weiß, was ich von ihnen gelernt habe: mein Bestes zu geben. Indem wir mit ihnen arbeiten oder mit ihnen zusammen sind, entwickeln wir in uns unsere edelste Seite. ... Im Gegensatz zu uns, die wir sehr verwöhnt und zum größten Teil privilegiert sind und die wir nicht aufhören, uns zu beklagen oder um irgendetwas zu betteln, egal, um was, verlangen sie nur Achtung und natürliche Anerkennung. Die Tuareg sind zutiefst würdevolle Menschen: Sie verlangen nie mehr als das, was ihnen ihrer Meinung nach zukommt.“ (3, S. 139f) Im Grunde wird sich kaum ein Leser dagegen wehren können, solche Worte als etwas bloß Märchenhaftes zu empfinden – wenn er ehrlich zu sich selbst ist.

Erst wenn er sich diesen Sachverhalt klarmacht, wird ihm nun die Schwergewichtigkeit des folgenden Urteils eingehen, mit dem der genannte Regisseur seine Eindrücke zusamenfaßt: „Die Tuaregfrauen und –männer sind erfahrene Menschen, und sie leben ihren Sitten mit großer Authentizität. Es gibt zweifellos auf unserem Planeten immer weniger Völker, die einem zeigen können, wie man ein wahrhaftiges Leben lebt.“ (3, S. 138) – Natürlich: Solche Aussagen müssen in der heutigen Zeit als eine maßlose romantische Verklärung empfunden werden, die mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun haben kann. Oder die – nicht wahr, lieber Leser? – für unser eigenes Leben ohne jede Bedeutung ist.

Erich Meinecke

/Diesem Beitrag folgt noch ein --> 2. Teil./

Schrifttum


Einleitendes Gedicht: (1, S. 39).
  1. Sommer, Heike Miethe (Hrsg.): Poesie der Tuareg. Verlag Wendelin Niedlich, Stuttgart 1994
  2. Troßmann, Thomas: Wüstenfahrer. Mit dem Motorrad durch das Land der Tuareg (Erlebnisberichte, Reisetips, Länderkunde) Verlag Frederking u. Thaler, München (3. Aufl.) 1992
  3. Moszkowicz, Fernand: Persönliche Begegnungen. In: siehe 5, S. 137 – 140
  4. Barth, Heinrich: Die große Reise. Forschungen und Abenteuer in Nord- und Zentralafrika 1849 - 1855. Edition Erdmann in K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 1986
  5. Dayak, Mano: Die Tuareg-Tragödie. Horlemann-Verlag, Bad Honnef 1996 (Paris 1992)
  6. Dayak, Mano: Geboren mit Sand in den Augen. Unionsverlag, Zürich 1997
  7. Sebe, Alain: Tagoulmoust. Die Menschen mit dem Schleier. Fotos aus der Sahara begleitet von Gedichten der Touaregs. Verlag Karl Schillinger, Freiburg 1982
  8. Ploussard, Jean: Mein Leben bei den Tuareg. Bd. II: Auf den Spuren von Charles de Foucauld. Verlag Neue Stadt, München 1977
  9. Nicolaisen, Johannes: Ecology and Culture of the Pastoral Tuareg. With particular reference to the Tuareg of Ahaggar and Ayr. (Diss.) National Museum of Copenhagen 1963
  10. Gartung, Werner: Durchgekommen. 1.000 Wüstenkilometer mit der Tuareg-Salzkarawane. Pietsch Verlag, Stuttgart‑1987
  11. Göttler, Gerhard: Die Tuareg. Kulturelle Einheit und regionale Vielfalt eines Hirtenvolkes. DuMont-Buchverlag, Köln 1989
  12. Rasmussen, Susan J.: Spirit possession and personhood among the Kel Ewey‑Tuareg. Cambridge University Press, Cambridge/US 1995
  13. Lichtenhahn, Ernst (Prof. für Musik-Ethnologie, Zürich): Die Lieder der Tuareg in der Republik Niger. (Unveröffentl.) Vortrag-Mitschrift, Universität‑Mainz 1995