Samstag, 29. Februar 2020

Pablo Picasso - "Die Frau mit der Krähe" (1904)

Eine Bildbetrachtung

"Blaue Periode" - dies ist die Bezeichnung für jene Phase im Leben des Malers Pablo Picasso (1881-1973), in der seine großen Frühwerke entstanden. Die Gemälde dieser Frühphase gelten als bedeutend, nicht zu ersetzen.

Abb. 1: Pablo Picasso - Frau mit Krähe - 1904

Diese Werke sind zwischen dem 20. und 24. Lebensjahr geschaffen worden. Der Autor dieser Zeilen hat viele Jahre - aufgrund familiärer Zusammenhänge - eine große Reproduktion des Gemäldes "Frau mit der Krähe" von Pablo Picasso in der Wohnung hängen gehabt (Abb. 1). Immer einmal wieder fiel der Blick auf dieses Gemälde. Viele Jahre hat er das Gemälde als eine Art Fremdkörper in der Wohnung empfunden.

Irgendwann raffte er sich auf und begann, sich Gedanken um die "Symbolik" dieses Gemäldes zu machen.*) Es kam heraus: Das Gemälde "Femme à la corneille", "Frau mit Krähe" entstand 1904. Es markiert den vielleicht tiefsten Punkt jener Depression, von der die "Blaue Periode" bei Pablo Picasso hervorgerufen worden sein wird. Eine blasse Frau. Sie streichelt eine Krähe.

Auch Anflüge von Haß glaubt man in dem Gesicht der Frau zu lesen. Aber was sonst noch? Sieht man dieses Gemälde im Zusammenhang mit allen anderen Gemälden aus der Blauen Periode, tritt der Eindruck wieder zurück, daß auf diesem Gesicht Haß oder gar Bosheit die dominanten Anteile sein könnten (1). In dem vielleicht vorausgegangenen Gemälde "Frau mit Helmfrisur" ("Femme au chignon", 1904) (Abb. 2) findet sich ein ähnlich kaltes, ausdrucksloses, desillusioniertes Frauengesicht (Wiki).


Abb. 2: Pablo Picasso - Frau mit Helmfrisur - 1904

Es gibt eine Liste der Arbeiten von Pablo Picasso zwischen den Jahren 1901 und 1910 (Wiki). Sie bietet einen Überblick. In der Blauen Periode entstanden Gemälde wie: "Melancholische Frau", "Sitzende Frau", "Die Suppe", "Mutterschaft", "Der alte Gitarrenspieler" (Wiki) (Abb. 3) oder "Die Tragödie" (Abb. 4). Es ist zu erfahren (Wiki):
Diese Arbeiten (...) gehören heute zu seinen bekanntesten, obwohl er in der Zeit ihrer Entstehung Schwierigkeiten hatte, sie zu verkaufen.

Das Gemälde "Das Leben" (1903)


Ausgangspunkt dieser langen Reihe von Gemälden der "Blauen Periode" war nun das Gemälde "Das Leben" von 1903 (Abb. 5). "Hört auf zu gebären, das Leben ist voller Leid" scheint der darauf abgebildete Freund Picasso's zu der darauf abgebildeten Mutter Picasso's (der Frau mit dem Kind im Arm) zu sagen.

Es kann eine sehr konkrete Vorgeschichte zu diesem Gemälde berichtet werden. Bis 1900 lebte Pablo Picasso in Barcelona. 1901 besuchte er - auf Anregung seines eben genannten Freundes, Carlos Casagemas (1881-1901) (Wiki) - und mit diesem zusammen das erste mal Paris. Casagemas war ebenfalls Maler. Dort in Paris lernten sie die ebenfalls auf dem Gemälde abgebildete Tänzerin des Moulin Rouge, Germaine Pichot, kennen. In dem Wikipedia-Artikel zu ihr findet sich etwas wieder von dem - im Grunde recht komplizierten und dramatischen - Geschehen, das den Hintergrund zu diesem Gemälde gibt (Wiki):
Germaine Pichot (...) heiratete einen Mann namens Florentin. Unter diesem Namen lernte sie Picasso in Paris kennen, als er im Jahr 1900 mit seinem Freund Carles Casagemas dort eintraf. Während Picasso eine Affäre mit Germaines Freundin oder Verwandter Louise Lenoir, die unter dem Namen Odette bekannt war, begann, verliebte sich Casagemas in Germaine, mußte aber feststellen, daß er impotent war. Nach einer Reise nach Spanien, die er zusammen mit Picasso angetreten hatte, kehrte Casagemas 1901 ohne diesen nach Paris zurück. Bei einer Feier im Restaurant L'Hippodrome am 17. Februar 1901 gab Casagemas einen Schuß auf Germaine ab, der diese aber nicht, wie wohl beabsichtigt, tötete.
In der Annahme, er habe sie getötet, richtete er danach seine Waffe auf sich und rief "So, und jetzt ich". Auf Wikipedia heißt es:
Danach richtete Casagemas die Waffe auf sich selbst und brachte sich eine Kopfverletzung bei, an der er wenig später starb.
Nach dem Tod seines Freundes ist auf den Bildern von Picasso dann eben mehrere Jahre so viel Trauer zu sehen.
Abb. 3: Pablo Picasso - Der alte Gitarrenspieler - 1903/04

Im äußeren Leben ging es bei Picasso - bei großer materieller Armut - folgendermaßen weiter (Wiki):
Nach seiner Rückkehr nach Paris im Mai 1901 brach Picasso mit Odette und fing eine Beziehung mit Germaine an.
Und weiter:
"La Vie" war ursprünglich anders angelegt als es sich heute präsentiert: Der junge Mann auf dem Gemälde war zunächst ein Selbstporträt Picassos, ehe dieser das Bild änderte und dem Mann die Züge Casagemas' und der zunächststehenden jungen Frau die Germaines gab.
Die Entstehungsgeschichte des Gemäldes "Das Leben" von 1903 ist also von einem dramatischeren Geschehen bestimmt, als man es ohne dieses Hintergrundwissen ahnen würde. Die sich hier andeutenden wechselnden Liebesverhältnisse, die man auch in manchen Biographien der etwa zeitgleich lebenden expressionistischen Maler des deutschen Sprachraumes findet - etwa in Dresden rund um die "Brücke", mündeten in jener Zeit bei Picasso auch in verschiedene, erhalten gebliebene kleinere Werke. So soll Picasso in dieser Zeit auch das Gemälde "La Doleur" (1902) gemalt haben.

Picasso selbst hat zu dem Gemälde "Das Leben" nie eine Deutung gegeben. In der Kunstwissenschaft gehen die Ansichten über seine Deutung weit auseinander. Es heißt, daß es dem Betrachter - womöglich mehr oder weniger bewußt - weite Deutungsspielräume offen gelassen hätte. Daß ja auch für Picasso selbst die Aussage des Gemäldes nicht von Anfang an feststand, ist ja schon seiner angedeuteten Entstehungsgeschichte zu entnehmen: Er wollte eigentlich sich selbst malen. Aber der Gedanke an den Freund drängte sich in den Vordergrund und ist dann verarbeitet worden.

Abb. 4: Pablo Picasso - Die Tragödie - 1903
Auffallend ist vor allem die zugleich ein junges Leben grüßende wie abwehrende Geste des Mannes gegenüber der Frau mit dem Kind. Sie ist eine Geste des Zwiespalts. Einerseits grüßt sie das Leben, andererseits scheinen Blick und Körperhaltung eben zu sagen: Ach, hättest du mich nie geboren.

Die Blaue Periode wird auf die Jahre 1901 bis 1904 datiert. Ab 1904 begann sich sein Mal-Stil zu ändern. Auf die Blaue Periode folgte die Rosa Periode (1904 bis 1906) (Wiki). In dieser nimmt die Melancholie des Künstlers - wie die Farbe Rosa schon für sich selbst aussagt - etwas unbeschwertere Züge an. Und ab 1907 wurde die Malweise von Picasso zunehmend abstrakter.

Es wird gesagt werden dürfen: Ohne die Bilder der Blauen Periode wäre Picasso nicht jener Picasso geworden, als der er in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Sie ist sicherlich ein grundlegendes Lebens- und Kunststadium gewesen, sonst würden die hierbei entstandenen Werke heute nicht als so bedeutend empfunden werden.

Aber als die ausdrucksstärksten Bilder der "Blauen Periode" darf man die Gemälde "Frau mit der Krähe" und "Frau mit Helmfrisur" empfinden.

Abb. 5: Pablo Picasso - Das Leben - 1903

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*) Eine frühere Fassung des vorliegenden Blogartikels hier:  DVHS 04/2017. (Der vorliegende Blogartikel stellt eine Neufassung des älteren dar. Also dasselbe Thema in neuer "Variation".)

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  1. Mit diesem Gemälde befaßte sich 1982 auch das französische Fernsehen anläßlich seiner Versteigerung (Yt).
  2. Reyes Jiménez de Garnica, Malén Gual (Hrsg.): Journey through the Blue. La Vie. (Catalogue of the exhibition celebrated at Museu Picasso, Barcelona, october 10th 2013 to january 19th 2014). Institut de Cultura de Barcelona: Museu Picasso, Barcelona 2013
  3. Museu Picasso zur Ausstellung, bcn.cat, abgerufen am 05. April 2017

Wege zur Versteinerung

Eine Buchveröffentlichung des Jahres 1987

Abb. 1: Titelseite: Baldachin im Schrein des Creglinger Marienaltars von Tilman Riemenschneider

In diesem Beitrag soll einfach einmal eine Folge der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" aus dem Mai 1988 vorgestellt (und dokumentiert) werden. Die Beiträge haben - wie man sehen kann - alle überzeitlichen Gehalt und dürften noch heute als so wesentlich und frisch empfunden werden können wie sie es damals konnten.

Abb. 2: Eine Doppelseite aus "Die Eigenart der germanischen Kunst"

Dies mag insbesondere auch gelten für den letzten, kurzen Aufsatz, nach dem auch der vorliegende Blogbeitrag benannt ist: "Wege zur Versteinerung". Aber zuvor sei der übrige Inhalt des Mai-Heftes mit jeweils einer fotografischen Wiedergabe kurz vorgestellt: Der erste Aufsatz lautet "Die Eigenart der germanischen Kunst" (Teil 1). Er stammt von Renate Bretnütz (S. 1-10).

Abb. 3: Erste Doppelseite des Aufsatzes "Aus Dostojewkis Vorstellung ...."

Der zweite Aufsatz lautet "Aus Dostojewskis Vorstellung vom Wesen und vom Sinn der menschlichen Seele" (Teil 1). Er stammt von Gertraud Hagner-Freymark (S. 10-18).

Abb. 4: Erste Doppelseite von "Nachtrag zu Gesichte, Kultur und Weltanschauung der Goten"

Der dritte Aufsatz lautet "Nachtrag zu Geschichte, Kultur und Weltanschauung der Goten", wobei kein Verfasser genannt ist (S. 18-23).

Abb. 5: Aufsatz "Wege zur Versteinerung"
Und der vierte Aufsatz ist entnommen der Zeitschrift "Die Neue Ärztliche" (10.12.1987) und stammt von Brigitta Mazanec. Er trägt den Titel "Waldorf-Erziehung - Wege zur Versteinerung". Auszug:
Die Waldorf-Erziehung stellt die Kinder in ein Ghetto - und führt zu Problemen, die mittlerweile mit dem Stichwort "Waldorf-Syndrom" bezeichnet werden: die Unfähigkeit der Schüler, ihre eigenen Wünsche, Ängste, Konflikte wahrzunehmen und auszudrücken, und die Schwierigkeiten, den Bruch zwischen dem beschützten Leben der schulischen Unter- und Mittelstufe und der gesellschaftlichen Realität zu verarbeiten. (...)

Eltern, die sich mit dem Gedanken tragen, dem gewiß nicht befriedigenden öffentlichen Schulsystem die Waldorfschule als Alternative vorzuziehen, sei Charlotte Rudolphs nüchterne und kritische Bilanz dringend empfohlen.
Die Autorin des Buches war selbst "Waldorf-Schülerin". Daß das hier besprochene Buch auch heute noch als aktuell empfunden wird, ist Leser-Rezensionen bis 2018 zu entnehmen (Amazon). Eine solche von 2008 lautet: 
Lebenslegastheniker?
Die Waldorfschule gibt Schutz und das Gefühl der Aufgehobenheit, und nicht nur darin gleicht sie einer Glasglocke. Sie ist auch ein Ort mit verinnerlichten Verbotsregistern und unsichtbaren, seelischen Gittern - basierend auf der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners, die Kinder wie Eltern auf Lebenszeit umfängt. Die Autorin berichtet aus eigener langjähriger Erfahrung und zieht eine ernüchternde, aufklärende und kritische Bilanz über einen Erziehungsstil, der - nach Ansicht nicht weniger - Kinder zu "Lebens-Legasthenikern" machen kann ...