Dienstag, 12. Oktober 2010

Wie geht der einzelne mit Schuld um?

Die Predigt tiefen, moralischen Ernstes in der Kunst des Naumburger Meisters

Der Naumburger Meister (etw. 1200-1270) (Wiki) ist einer der bedeutendsten Künstler des Hochmittelalters (abc). Er lebte um 1250. Im nächsten Jahr 2011 wird es in Naumburg eine Landesausstellung des Landes Sachsen-Anhalt geben mit dem Titel "Der Naumburger Meister - Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen" (ab):

Der weltberühmte Naumburger Meister und dessen Werkstatt sind trotz ihrer überragenden kunsthistorischen Bedeutung bislang noch niemals Thema einer großen Ausstellung gewesen. (...) Im Rahmen der Landesausstellung 2011 wird den Besuchern also zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, einen Überblick über die bildhauerischen und architektonischen Werke zu erhalten, die mit dem Naumburger Meister in Verbindung gebracht werden.

Unter anderem schuf der Naumburger Meister das Abendmahlsrelief im Westlettner des Naumburger Domes (abc). Von diesem Kunstwerk im folgenden einige Beispiele (Abb. 1-7).

Abb. 1: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms

Das Abendmahlsreliefs im Naumburger Dom macht Aussagen zu dem Thema Schuld. Der Naumburger Meister scheint dieses Thema in ähnlicher Weise erlebt und dementsprechend behandelt zu haben wie 300 Jahre später der Würzburger Holzbildhauer Tilman Riemenschneider in seinen Abendmahldarstellungen.

Abb. 2: Jesus gibt Judas das Brot
Ausschnitt aus dem Abendmahlsrelief im Naumburger Dom

Die Dargestellten am Westlettner des Naumburger Doms scheinen zu fragen: Hätte nicht auch ich an der Stelle des Judas schuldig werden können und einen gottnahen Menschen verraten können? - Warum er und nicht ich?

Abb. 3: Der Westlettner im Naumburger Dom mit dem Abendmahlsrelief - Gesamtansicht

Diese Frage ist - über den konkreten Inhalt der Vorlage, nämlich der biblischen Geschichte hinausgehend, ja auch über den ganzen Geist der Bibel hinausgehend - eine tiefe und ernste.

Abb. 4: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms

Es ist eine Frage, die sich Menschen stellen, wenn sie erleben, wie sie selbst - oder andere - sich unter ggfs. ungünstigen Lebensumständen oder aus Leichtsinn, aus Übermut oder auch - der häufigste Fall: aus Gedankenlosigkeit - nicht mehr den von ihnen an sich selbst gestellten Ansprüchen entsprechen.

Abb. 5: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms

Sie richten die Frage dann - wie die Figuren auf dem Westlettner im Naumburger Dom - nach innen, an sich selbst. Sie geben sich selbst Rechenschaft - niemand anderem. Niemand steht zwischen ihnen und Gott. Kein maßlos geäußerter Vorwurf von außen ist Veranlassung zu ihrer Frage. Jeder blickt nur - ganz von sich aus, aus eigener Veranlassung - in sich selbst. Nirgendwo wird ein lauter, überheblicher Vorwurf laut gegenüber dem, der schuldig geworden ist.

Abb. 6: Ausschnitt aus dem Relief am Westlettner des Naumburger Doms

Nirgendwo auch werden unwürdige Schuldbekenntnisse gezeigt oder auch nur - dem Geist dieser Kunst nach - gefordert (von sich selbst oder anderen).

Abb. 7: Jesus vor Pontius Pilatus, der seine Hände "in Unschuld" wäscht

Nein, der hier dargestellte gottnahe Mensch weiß vielmehr um die Möglichkeit, daß auch er schuldig werden kann, daß auch er nicht davor gefeit ist. Und jede echte Verantwortungs-Übernahme im Leben geht zuvor mit einer solchen sehr ernsten Prüfung einher: Werde ich der Verantwortung, die ich übernehme, gerecht werden? Bin ich gefeit davor, ihr gegenüber nicht gerecht zu werden?

Abb. 8: Der "Mainzer Kopf mit der Binde", höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Werk des Naumburger Meisters

Die Frage dieses Kunstwerkes ist also durchgängig: Wie geht der einzelne Mensch mit Schuld um? Wie wird er der Verantwortung, ein Mensch zu sein, "in den Gewittern des Menschseins vor Gott zu stehen", gerecht? Wie geht er deshalb sowohl mit eigener Schuld um, als auch mit der Schuld anderer?

Abb. 9: Der "Mainzer Kopf mit der Binde", höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Werk des Naumburger Meisters

Die Kunst des Naumburger Meisters ist deshalb eine große Predigt. Eine Predigt über das Ernsteste, das Menschen widerfahren kann. Nämlich daß sie in Gegensatz geraten können zu Gott oder dem Göttlichen oder zu den Wertungen und Ansprüchen, die sie an ihr eigenes Leben stellen. Von dem Heiligblutaltar von Tilman Riemenschneider in Rothenburg ob der Tauber aus der Zeit Anfang des 16. Jahrhunderts ist zu erfahren, daß er eine ähnliche Thematik behandelt (ab) wie der Naumburger Westlettner. Riemenschneider scheint sogar noch einen Schritt weiter zu gehen:

Die zentrale Figur ist Judas, nicht, wie sonst üblich, Jesus selbst. Judas und Jesus haben überdies eine erstaunliche Ähnlichkeit in den Gesichtszügen.

Die grundlegende Frage, die auch von der Kunst Tilman Riemenschneiders behandelt wird, ist die Frage: Kann nicht auch ich Jesus verraten ebenso wie Judas? Allgemeiner übersetzt: Kann nicht auch ich das Göttliche verraten so wie Judas das Göttliche verraten hat?

Warum er und in diesem Falle - zufälligerweise - nicht ich? Man steht hier in einer anderen seelischen und sittlichen Welt als in dem unwürdigen Wühlen in der Schuld innerhalb der eigenen Seele oder in der Seele der Mitmenschen wie sie in einem bestimmten christlichen Geist Jahrhunderte lang praktiziert worden ist. Ein unwürdiges Wühlen, an das sich dann insbesondere auch der Mensch des 20. Jahrhunderts gewöhnt hat.



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/Text überarbeitet:
28.6.17/

Donnerstag, 12. August 2010

"Servus Heiner"

Erinnerungen an den Jugendfreund und Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl

Eine Kostbarkeit im Schatz der deutschen Literatur, und zwar der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - das und nichts weniger ist das Büchlein "Servus Heiner" von Karl Springenschmid (1897-1981) (1).

Abb. 1: Karl Heinrich Waggerl - Selbstportrait
(aus seinem Nachlaß) (Herkunft: Wiki)

Es ist im Jahr 1979 erschienen, sechs Jahre nach dem Tod jenes Schriftstellers Karl Heinrich Waggerl (1897-1973)(Wiki), der Gegenstand dieses Büchleins ist (1). 

Es besteht nur aus hundert schmalformatigen Seiten. Selten findet man jedoch auf so wenigen Seiten so viel ausgesprochen an Liebe und Freundschaft, an Liebe zum Leben insgesamt trotz all der "Ungeratenheiten", die mit ihm einher gehen.

Anhand der Erinnerungen an die lebenslange Freundschaft mit dem gleichaltrigen Schriftsteller Karl Heinrich Waggerl entwirft der Autor ein fast allgemeingültiges Bild einer ganzen Generation. Nämlich jener, der diese beiden, einstmals so jungen Schriftsteller angehört haben. Es ist jene Generation, die mit 17 Jahren, mit blutjungen 17 Jahren als Kriegsfreiwillige in den Ersten Weltkrieg gezogen ist. Von dieser Kriegserfahrung ist diese Generation ihr Leben lang geprägt geblieben. 

Und zugleich geht es auch immer um diesen ausgesprochen "eigenen" und besonderen Menschen, nämlich Karl Heinrich Waggerl. Es geht um die auf ein fast 70-jähriges Leben verteilten gemeinsamen Erlebnisse mit diesem Freund Heiner.

Einer Generation gehörten diese beide an, die in den frühen 1920er Jahren mit leidenschaftlichem Herzen nach neuen Formen im künstlerischen Ausdruck suchte. Einer Generation, die nach neuen Formen des Lebens und Zusammenlebens überhaupt suchte. Zeit seines Lebens blieb Waggerl Sucher. Er blieb künstlerisch interessiert auf vielen Gebieten. Erst nach seinem Tod wurde zum Beispiel bekannt, daß er in den 1920er Jahren auch mit eigenen, sehenswerten Versuchen an den Entwicklungen der modernen Fotographie Anteil genommen hat (s. 2, sowie: Abb. 1).

Abb. 2: Heirat 1919 mit 22 Jahren (Fenst.)

In den frühen 1930er Jahren versuchte man aus dem "Fronterlebnis" dieser Generation noch politisches Kapital zu schlagen. Oder man versuchte, mit "desillusionierenden" auflagenstarken "Antikriegs-Romanen" dieses Kapitalschlagen zu unterlaufen. Karl Springenschmid schreibt seine Erinnerungen an Waggerl nun aber in den 1970er Jahren aus der abgeklärten Sicht der Erfahrung auch noch eines zweiten Weltkrieges heraus nieder. Eines Krieges, den man erstaunlicherweise "auch noch" überlebt hatte, wo doch das Überstehen des ersten schon als ein so überaus prekäres, zutiefst verstörendes Geschehen erlebt worden war.

Die Biographien und Lebenseinstellungen der beiden Freunde Springenschmid und Waggerl haben schon nach der Erfahrung des ersten Weltkrieges sehr unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Trotz lebenslanger äußerer räumlicher und trotz auch der beruflichen Nähe, da sie beide Schriftsteller wurden und im Land Salzburg lebten.

Karl Heinrich Waggerl nach 1945

Waggerl war, wie Springenschmid sagt, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich "in". Außer Herbert von Karajan konnte damals niemand die Säle so füllen wie Karl Heinrich Waggerl, wenn er aus seinen Büchern vorlas. Springenschmid sagt, Waggerl habe in jener Zeit nur noch die Erwartungen bedient, die die größere Öffentlichkeit an ihn als Dichter-Persönlichkeit gehegt hätte. Wie ein Schauspieler, der sich selbst "spielt", während er selbst sich innerlich schon längst wieder weiter entwickelt hätte und darum immer sparsamer in der Mitteilung auf dem Gebiet der Kunst geworden wäre.

Springenschmid versucht also seinen Freund gegen die vielen - keineswegs unbegründeten - Kritiken, die Waggerl gerade auch nach 1945 aufgrund seiner großen Popularität auf sich gezogen hat, in Schutz zu nehmen. Es gibt unzählige Ton- und Filmaufnahmen von und mit Karl Heinrich Waggerl aus dieser Zeit, insbesondere von seinen alljährlichen Lesungen in der Adventszeit in Salzburg. Er war wohl in den 1950er und 1960er Jahren als "altersweiser" Mann eine ähnlich "legendäre" Figur geworden, als ruhender Pol in einer sich rasch verändernden Zeit empfunden worden, wie der in jenen Jahren ähnlich allgegenwärtige, immer gut gelaunte Luis Trenker. (Mit letzterem war Springenschmid übrigens auch befreundet.) Es fällt wohl heute schon schwer, die Begeisterung der damaligen Generation für einen Waggerl in ihrem ganzen Umfang nachvollziehen.

Im Internet kann man sich die damals berühmte und populäre Vorlese-"Stimme" Waggerls anhören (z.B. Yt 1, 2; hier auch mit Bild: Yt*)). Sie wirkt auf heutige Ohren vielleicht ebenso ein wenig unecht "altersweise" wie etwa der alte Heinz Rühmann zu gleicher Zeit in Deutschland. Er kam ja ebenfalls insbesondere zu Weihnachten immer wieder zu Wort, als Deutschland in besonders aufgesetzte Fernseh-Rührseligkeit versank. 

Abb. 3: Karl Heinrich Waggerl, 1930er Jahre (Fenst.)

Anhand solcher Beispiele wird deutlich, daß mit dem Jahr 1945 vieles im kulturellen Bereich seine Ursprünglichkeit, Authentizität, Echtheit verlor, daß vieles nur noch hohl weiter gelebt wurde, was zuvor noch echt und ursprünglich war. Das wird man als ein typisches Kennzeichen jener 1950er und 1960er Jahre bezeichnen können.

Springenschmids Waggerl

Aber um wie viel wertvoller und kostbarer sind demgegenüber heute vielleicht die so ganz bescheiden daherkommenden Erinnerungen Springenschmids an Waggerl. Springenschmid zeichnet ein Bild seines Freundes Waggerl, das den Leser Waggerl gegenüber sehr eingenommen sein läßt, obwohl Springenschmid die genannte äußere Seite Waggerls in keiner Weise verschweigt. Er verschweigt es keinesfalls, daß er - nach 1945 - die Erwartungen anderer bediente, anstatt einfach er selbst zu sein. Springenschmid hat seinem Freund deshalb auch bitterböse Briefe geschrieben, die er in seinem Buch auch anführt.

All das kann man als eine hohe Kunst, auch Lebenskunst Springenschmids ansehen: Trotz des Trennenden die große Gemeinsamkeit zwischen beiden ins Licht zu heben. Und es spricht daraus vor allem eine sehr große Liebe zu diesem seinem alten Freund Heiner, die, wie man den dem Buch beigefügten Handzeichnungen Waggerls von seinem Freund "Springs" aus den 1920er Jahren glaubt entnehmen zu können, eine gegenseitige gewesen sein muß. Wenn es auch oft genug im Leben der beiden zu so grundsätzlichen Spannungen gekommen ist, daß eine Fortsetzung dieser Freundschaft infrage stand.

Da wird der junge Waggerl gezeichnet, wie er - noch im Lehrerseminar vor 1914 - unter seinen Mitschülern als ein begeisterter Leser von Otto Weininger galt. Da wird erzählt, wie ablehnend und mißtrauisch Waggerl anfangs dem Medium Buch gegenüber stand und einer Tätigkeit wie der des Buchschreibens, mit der von beiden Springenschmid als erster begonnen hatte.

Aber eines Tages sah Springenschmid dann plötzlich zu seiner großen Überraschung im Schaufenster der Buchhandlung ein Buch seines Freundes Waggerl stehen. Auch einige Erinnerungen aus der Zeit des Dritten Reiches gibt Springenschmid, in denen er mehrmals seinen Freund wegen unbedachter Äußerungen gegenüber der Salzburger Parteiprominenz in Schutz nehmen mußte.

Aber mit der Nennung solcher einzelner Inhalte ist wenig gesagt. Insgesamt handelt es sich um ein aufwühlendes Büchlein.

Was für eine Zeit. Und was für ein Leben.


 
/ erschien zuerst 2010 auf GA-j!
leicht überarbeitet hier eingestellt am 2.6.2017
erneut überarbeitet 28.7.22, 26.1.23 /

 

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*) Wenn man ihn in dieser Filmaufnahme sieht oder auch im Selbstportrait (Abb. 1), verstärkt sich der Eindruck eines gewissen komischen Selbstmitleides, das der Zuschauer tatsächlich nicht ganz ernst nehmen kann, obwohl es womöglich ernster gemeint ist als es aussieht. Womöglich erweckte Waggerl damit mitunter den Eindruck einer Verwandtschaft mit Karl Valentin (1882-1948). In diese Richtung deuten auch einige Lebensszenen, die Springenschmid schildert. Um das besser verstehen zu können, möchte man gern noch mehr Filmaufnahmen mit Waggerl sehen.

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  1. Springenschmid, Karl: Servus Heiner. Rudolf Schneider Verlag, München 1979
  2. Fenster (1930er Jahre). In: Starl, Tim: Kritik der Fotografie. 2010; siehe http://www.kritik-der-fotografie.at/12-Fenster.htm; entnommen aus: Frauenmantel. Edition Fotohof im Otto Müller Verlag, Salzburg, 1993, S. 34
  3. “Was du sagst, verweht im Wind. Nur was Du tust, schlägt Wurzeln” - Karl Heinrich Waggerl. TV Dokumentation 45 Minuten im ORF III am 27.12.2014, https://www.youtube.com/watch?v=wQZC2qga0io
  4. Karl Heinrich Waggerl Museum in Wagrain. Von: Österreich Bürgerreporter U.H.F. Sültz Lünen. 2011, https://www.youtube.com/watch?v=hpGXQVZiX1o