Mittwoch, 11. Juni 2008

Die Evolution weist Zielgerichtetheit auf - Die Vielfalt der evolutionären Konvergenzen drängt uns diesen Gedanken auf

Rezension des Buches "Life's Solution" von Simon Conway Morris (2003)

Vielen Biologen und Geisteswissenschaftlern fällt noch heute nur Teilhard de Chardin ein, wenn es darum geht, Autoren zu nennen, die die Zielgerichtetheit der Evolution vertreten haben oder vertreten. Sie sollten ihr Wissen möglichst bald aktualisieren und sich mit dem neuen Buch von Simon Conway Morris (1) gründlich auseinandersetzen. Die deutsche Übersetzung erleichtert das dankenswerterweise inzwischen sehr. Denn Teilhard de Chardin hat seine These nicht besonders "fachwissenschaftlich" und anhand von fachwissenschaftlicher Forschungsliteratur vertreten. Ganz im Gegensatz zu: Simon Conway Morris!

Abb. 1: Afrikanischer Strauß (links), Eogruidae (rechts) - Zwei konvergent evoluierte Laufvögel
(Erläuterung siehe unten*))
Grafik von: Falconfly (Wiki)
Die Kernthese des neuen Buches von Simon Conway Morris kommt im originalen englischen Untertitel am deutlichsten zum Ausdruck: "Inevitable humans in a lonely universe" - "Unvermeidlich Menschen in einem einsamen Universum". Warum wurde es für die deutsche Ausgabe nicht wörtlich übersetzt? Dann wüsste auch der deutsche Leser gleich besser, worum es eigentlich geht. Das Überraschende schon an diesem kurzen Untertitel ist, dass in ihm - ohne dass sich Simon Conway Morris dessen bewusst gewesen sein wird - die Grundthese der philosophischen Deutung der Evolution durch die Philosophin Mathilde Ludendorff (1877-1966) in knappster Form zusammen gefasst wird.

Es gibt viele Menschen, die alles, was über Naturwissenschaft hinausgeht, leicht zu Kreationismus erklären. Ihnen gegenüber muss betont werden, dass es sich bei dem Buch von Conway Morris zunächst einmal mehr um das Erschließen philosophischer denn um das Erschließen rein naturwissenschaftlicher Erkenntnispotentiale handelt. 

Das Buch kann aber auch aus rein naturwissenschaftlicher Sicht auf viele neu zu erschließende, rein naturwissenschaftliche Erkenntnispotentiale aufmerksam machen. Beiderlei Arten von Erkenntnispotentialen liegen in der Fülle der evolutionärer Konvergenzen, die Simon Conway Morris erstmals auf allen Ebenen des biologischen Seins - von den Molekülen bis zu arbeitsteiligen Tier- und Menschen-Gesellschaften - vor dem Leser ausbreitet. Und zwar in jener Fülle, in der sie bis zum Jahr 2003 erforscht worden sind. Das ist ein ganz anderer Stand als - etwa - der Stand von 1960.

Das Buch ist darum zweierlei. Es ist zum einen ein philosophisches Buch nur allein mit naturwissenschaftlichen Tatsachen geschrieben. Möglicherweise ein Novum in der menschlichen Geistesgeschichte. Denn es geschah dies entlang einer unglaublich reichhaltigen, aktuellen naturwissenschaftlichen Forschungsliteratur (siehe allein hundert Seiten Literatur-Angaben). Zum anderen kann es aber auch als ein rein naturwissenschaftliches Buch gelesen werden. Weil es erstmals den Blick umfassender auf die schlichte biologische Tatsache des vielfältigen Vorkommens evolutionärer Konvergenzen lenkt, und damit auf die Frage nach ihren biologischen Ursachen und nach ihren Erkenntnispotentialen bezüglich der evolutionären Entstehungsbedingungen, bzw. -ursachen der jeweils hier konvergent evoluierten Eigenschaften.


Statt "getrennter Magisteria" - Naturwissenschaft und Philosophie vom Feinsten


Conway Morris zählt allerdings die evolutionäre Konvergenzen nur auf. Er wirft sie dem Leser fast "ungeordnet" vor die Füße. Das heißt, er gibt selbst noch keinen umfassenden Vorschlag zu einer naturwissenschaftlichen Theorie evolutionärer Konvergenzen. Das dürfte sich als einer der berechtigten Haupteinwände gegen dieses Buch herausstellen. Aber das Verdienst von Conway Morris bleibt dennoch ein riesiges. Denn mit diesem Buch hat er ein ganz neues Forschungsgebiet erschlossen. Es handelt sich - allein aufgrund der umfassenden Sichtung der Forschungsliteratur - um ein sehr anspruchsvoll zu lesendes Buch, das nicht schnell "durchflogen" werden kann. Es liest sich nicht "obenhin" (wie etwa ein Teilhard des Chardin). Der Leser muß es sich erarbeiten. Er muß mit hoher Konzentration lesen. Aber angesichts des Revolutionären der vertretenen (philosophischen) These dürfte sich der Aufwand lohnen. 

Die deutsche Übersetzung scheint zwar hervorragend zu sein. Leider sind aber einige vordere, grundlegendere Kapitel nicht übersetzt worden. Dadurch kann beim deutschen Leser ein falscher Eindruck entstehen. Davor also sei gewarnt. Denn diese vorderen Kapitel sind grundlegend für die Überzeugungskraft der in diesem Buch insgesamt vertretenen philosophischen und naturwissenschaftlichen These.

Im weiteren seien noch einige, vielleicht weniger wichtige Zusatzbemerkungen getätigt:

1. Richard Dawkins hat dieses Buch sehr positiv besprochen. Das sei insbesondere deshalb betont, weil Conway Morris von atheistischen Biologen oft angegriffen wird (bspw. von PZ Myers). Es geschah dies in Dawkins' ebenfalls sehr lesenswertem Buch "Ancestor's Tale" (2, 5), das im Jahr 2008 ebenfalls auf Deutsch erschienen ist (unter dem Titel "Geschichten vom Ursprung des Lebens"). Dort im letzten Kapitel.

2. Es empfiehlt sich, das Buch von Conway Morris zusammen zu lesen mit den Büchern "Einsame Erde" ("Rare Earth") von Peter Ward und Donald Brownlee, sowie mit "The Priviledged Planet" von dem amerikanischen Astrophysiker Guillermo Gonzalez (3). Beide Bücher führen die im Untertitel des Buches von Conway Morris genannte These auf anderen Gebieten in zum Teil ganz erstaunlicher Weise weiter.

3. Auch empfiehlt es sich, "The Crucible of Creation" von Conway Morris zu lesen. Es ist das Buch, das dem hier besprochenen Buch vorauf ging. Und in ihm kann man die Entstehung der neuen These von Conway Morris verfolgen.

4. Es geschah dies in Auseinandersetzung mit dem bekannten Werk von Stephen Jay Gould "Zufall Mensch" (4), das wiederum zuvor in Auseinandersetzung mit den neuen Forschungen des Paläontologen Conway Morris über die Tierwelt des Präkambrium entstanden war.

Die neue These entstand also, das kann damit aufgezeigt werden, nicht im "luftleeren Raum" oder ist in einem solchen angesiedelt. Sondern sie entstand - vielleicht ebenfalls früher oder später "unvermeidlich", mit "Notwendigkeit" - aus tief in der Sache gegründeten fachwissenschaftlichen Forschungen und Diskussionen heraus.

Viele, vielleicht sogar die meisten Natur- und Geisteswissenschaftler haben noch gar nicht verstanden, daß man grundlegendste philosophische Themen, die das menschliche Selbstverständnis, die Stellung des Menschen in der Welt  betreffen, allein anhand von naturwissenschaftlichen Tatsachen behandeln kann, ohne damit in unseriösen Theologie-geleiteten "Kreationismus" zu verfallen. Man wird künftig demgegenüber vielleicht das gewohnte, rein geisteswissenschaftliche Behandeln von philosophischen Themen als ebenso unseriös erachten wie heute schon den Theologie-geleiteten Kreationismus. Die heute vielen Menschen jedenfalls immer noch so liebenswert erscheinende Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (in zwei separate "Magisteria") wird einmal weniger künftig aufrechtzuerhalten sein. Hierin liegt ein weiterer Teil des Revolutionären auch dieses neuen Buches.

Eine noch weitergehende Einordnung des Buches von Conway Morris ist schon andernorts gegeben worden (5). Hier sei noch darauf hingewiesen, dass die Inhalte dieses Buches von Conway Morris auch zu einer präziseren Fassung von zuvor getätigten Annahmen von Naturforschern über die "Freiheitsgrade der Evolution" (siehe 6; 7, S. 205f) führen. Darüber ist an anderer Stelle noch einmal zu referieren.

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*) Abbildung 1 zeigt in der oberen Reihe einen Strauß (links) und einen "Eogruidae" (rechts). Eogruidae sind eine Familie von großen Laufvögeln, die in der Zeit zwischen 40 bis 2,5 Millionen Jahren vor heute über den gesamten eurasischen Kontinent verbreitet waren (Wiki). Trotz vieler anatomischer Ähnlichkeiten mit dem Strauß sind sie genetisch viel näher verwandt gewesen mit modernen Kranichen, Rallenkranichen und Trompetervögeln. Von diesen finden sich in der zweiten Reihe jeweils ein Vertreter, um mit dieser Grafik aufzuzeigen, von was für unterschiedlichen evolutionären Ausgangspunkten aus bei den Eogruidae die gleichen Eigenschaften wie beim Strauß erreicht worden sind. Die "Eogruidae" haben sogar - wie die Straußen - ihre Zehen auf zwei reduziert. Die Liste solcher erforschter evolutionärer Konvergenzen wächst derzeit in großem Tempo (s. Wiki). Ständig tauchen in der Forschung neue Beispiele auf.


(Zuerst 2008 als Leser-Rezension auf Amazon erschienen, 
hier - in überarbeiteter und ergänzter Form - neu eingestellt
am 10.4.2017.)

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  1. Conway Morris, Simon: Life's Solution. Inevitable Humans in a Lonely Universe. Cambridge University Press, Cambridge 2003, 2005; deutsche Übersetzung: Jenseits des Zufalls. Wir Menschen im einsamen Universum. Berlin University Press, Berlin 2008
  2. Dawkins, Richard: The Ancestor's Tale. A Pilgrimage to the Dawn of Life. Phoenix Paperback, London 2004
  3. Gonzales, G.; Richards, J.W.: The Privileged Planet. How our Place in Cosmos is designed for Discovery. Regenery Publishing, Washington D.C. 2004
  4. Gould, Stephen Jay: Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur. Deutscher Taschenbuch-Verlag (engl: Wonderful Life: The Burgess Shale and the Nature of History, 1989)
  5. Meinecke, Erich: „Ultra-Darwinist“ Richard Dawkins beginnt, über Zielstrebigkeit in der Evolution nachzudenken - Richard Dawkins behandelt den britischen Paläontologen Simon Conway Morris vorurteilsfrei. Zuerst erschienen am 9. März 2006, erneut veröffentlicht auf: Die Deutsche Volkshochschule, http://fuerkultur.blogspot.de/2006/03/ultra-darwinist-richard-dawkins-beginnt.html  
  6. Lorenz, Konrad: Der Abbau des Menschlichen. 1983
  7. Leupold, Hermin: Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Aufsätze zur geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistheorie, zur Evolution des Weltalls und des Bewußtseins. Die Deutsche Volkshochschule, 23845 Bühnsdorf, 2001

Samstag, 1. März 2008

Unbekannte Lichtbilder der Gebrüder Grimm

Die Bedeutung der Gebrüder Grimm für die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte Deutschlands, Europas und der Welt ist in der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" mehrfach behandelt worden (1-4). 

Jacob Grimm (1785-1863) (Wiki) war der Begründer der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, der Germanistik. Das Gründungsjahr der Germanistik datiert auf das Jahr 1817, das Ersterscheinungsjahr der "Deutschen Grammatik" von Jacob Grimm. Bekannt auch außerhalb der Wissenschaft wurden die Brüder weltweit natürlich durch die Veröffentlichung der deutschen Märchen, die sie insbesondere in Nordhessen gesammelt hatten. Außerdem legten sie in unermüdlicher, jahrelanger Arbeit den Grundstein zum ersten großen deutschen Wörterbuch, jenes, dessen letzter Band erst 1961 erschienen ist. 

Noch viele andere Gebiete der deutschen und europäischen Kulturgeschichte, Sprach- und Literaturwissenschaft, ja sogar der Politik befruchtete ihr Schaffen und Wirken. So gehörten die Brüder Grimm zu den "Göttinger Sieben" und war Jacob Grimm schließlich auch Abgeordneter des Paulskirchen-Parlaments von 1848.

Abb. 1: Wilhelm und Jacob Grimm, 1847

Die Gebrüder Grimm wurden in Hanau geboren, verbrachten aber schon ihre wichtigeren Schuljahre nach dem frühen Tod des Vaters in Kassel bei einer Tante. Diese Tante war Hofdame am Hof des Kurfürsten. Nach dem Studium in Marburg kehrten sie wieder nach Kassel zurück, wo sie als Bibliothekare vom König Jerome angestellt wurden. Nach zwei Jahren als Professoren in Göttingen kehrten sie 1837 wiederum - mit ihrer berühmten Entlassung als Köpfe der "Göttinger Sieben" - nach Kassel zurück. Im Jahr 1840 fanden sie dann Anstellung durch den neuen preußischen König Wilhelm IV. an der Universität Berlin. Sie lebten in einer damals stillen Wohnung ganz in der Nähe des heute so belebten und völlig neu bebauten Potsdamer Platzes. Hier in Berlin starben sie schließlich auch und sind dort begraben.

Die Gebrüder Grimm in Kassel

Somit verbrachten die Gebrüder Grimm ihre prägendsten Jahre und viele der bedeutendsten ihrer Lebensjahre in Kassel. Wer als aufmerksamer Mensch durch Kassel geht, kann sich ihrer überall leicht erinnern. Geht er zum Beispiel in die Hessische Landesbibliothek, auch "Murrhardt'sche Bibliothek" genannt, gelegen am heutigen Brüder-Grimm-Platz, befindet er sich fast im Mittelpunkt des Lebens der Gebrüder Grimm im damaligen Kassel.

Abb. 2: Wilhelms Frau, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, um 1854

Und verschafft man sich - etwa im Gebrüder-Grimm-Museum - einen Eindruck von der Schönheit Kassels in früheren Jahrhunderten, wird einem klar, daß auch die damaligen Wohnstätten der Gebrüder Grimm heute als solche in besonders günstiger Lage gelten würden.

Da ist zunächst das heute noch vorhandene Wohnhaus direkt am Anfang der Wilhelmshöher Allee (ebenfalls am Gebrüder-Grimm-Platz), eines der beiden Stadttor-Gebäude, wo sie lange Jahre im zweiten Stock als Mieter des Kurfürsten, bzw. des Königs lebten. Von dort aus müssen sie damals einen herrlichen Blick hinüber zum Schloß Wilhelmshöhe und seinem heute noch berühmten Bergpark gehabt haben. Damals endete die Stadt ja schon hier bei diesen Gebäuden. Von dort aus gingen die Brüder Grimm täglich nur wenige Minuten die (Obere) Königsstraße hinunter, die auch heute noch die große Einkaufsstraße Kassels ist, zum heute ebenfalls noch vorhandenen "Fridericianum", damals die Bibliothek, in der sie arbeiteten. (Heute das Hauptgebäude der "Documenta".)

Und von dort sind es nur wenige Schritte zur "Schönen Aussicht", wo sie in späteren Jahren wohnten, und wo sich heute noch das "Gebrüder-Grimm-Museum" befindet, und zwar im letzten noch erhaltenen Haus des alten Kassel an der "Schönen Aussicht". Von der "Schönen Aussicht" hat ihr Malerbruder Ludwig Grimm (Wiki), wie im Museum besichtigt werden kann, unzählige Gemälde und Zeichnungen geschaffen. 

Auf diesen kann man sich einen guten Eindruck verschoffen von der Landschaft, von der die Gebrüder Grimm und ihre Zeitgenossen in Kassel umgeben waren, unmittelbar angrenzend an die Stadt. - Zwar sind die von dort aus sichtbare Orangerie und die Karlsaue auch heute noch weitgehend unverändert. Aber es ist eben doch sehr viel moderne Bebauung häßlichster Art eingeschoben, etwa ein "Cinema". Ein solches Kinogebäude beherrscht städtebaulich heute den damaligen Lebensmittelpunkt der Gebrüder Grimm in Kassel. Er erdrückt alles um sich herum. (Andere städtebauliche Unmöglichkeiten des heutigen Kassel seien dabei gleich ganz übergangen.)

Weniger bekannte Photographien der Gebrüder Grimm

Für das Gebrüder-Grimm-Museum in Kassel werden derzeit Pläne zur Erweiterung erörtert. In diesem Museum wird eine kleine Schrift verkauft, die schon vor Jahren viele überraschende, unbekannte Photographien der Gebrüder Grimm, insbesondere von Jacob Grimm, zusammen gestellt hat (5). Photographien geben ja zumeist ein viel "authentischeres" ,lebensnäheres Bild von Menschen, als dies gemalte, gezeichnete oder gemeißelte Bildnisse können, selbst wenn diese von bedeutendsten Künstlern geschaffen worden sein sollten. Deshalb sollen hier einmal die viel weniger bekannten Photographien zusammengestellt werden.

Abb. 3: Jacob Grimm, 1856 (aus:5)

Über die von den Brüdern Grimm heute noch am meisten verbreitete Photographie aus dem Jahr 1847 (Abb. 1) war Jacob Grimm gselbst ar nicht erfreut - wie hier zu lesen ist.

"Wilhelm sitzt da wie ein Kranker ..."

Diese Photographie war von einem der frühesten Photographen der damaligen Zeit gemacht worden und von dem Verleger des "Deutschen Wörterbuches" in Leipzig dem ersten Band desselben als Stahlstich beigegeben worden. Jacob Grimm schrieb an seinen Verleger Hirzel (5, S. 49):

"Die ganze Komposition ist mir zuwider."
Und im August 1852 nochmals (5, S. 50):
"Lieber Hirzel (...) Die Geschichte mit dem Bild ist mir nicht recht und tut mir leid. Der Biow" (der Photograph) "quälte uns zum Daguerreotyp für seine Sammlung und ich überließ die getroffene Anordnung damals ganz seiner Phantasie, weil wir das Bild nicht für uns bestellten. Nun sitzt Wilhelm da im Stuhl wie ein Kranker und ich habe das Ansehn eines herangerufenen Hausverwalters. Mehr in meinem Sinne gewesen wäre, wenn wir (...) auf zwei Stühlen gerade neben einander sitzend aufgenommen und der Welt vorgestellt worden wären. Das hätte sich ruhiger und natürlicher ausgenommen."

Heutigen Sehgewohnheiten würden solche Dinge nicht auffallen. Interessanterweise scheint ausgerechnet diese Photographie dann später auch noch die Vorlage und Idee gegeben haben zum deutschen Nationaldenkmal von den Gebrüdern Grimm in Hanau.

Abb. 4: Jacob Grimm, 1860 (Wiki)

Wenige Jahre später wurde ein Gruppenbild aufgenommen, das mehr im Sinne von Jacob Grimm gewesen sein könnte. Hier sind jedenfalls die Brüder zusammen mit Wilhelms Frau abgebildet und auch Wilhelm sieht gesund aus. Allerdings ist dieses Foto wohl nur für den familiären Kreis hergestellt worden. Es ist nur in schlechter Qualität erhalten.

Wahrscheinlich im Oktober 1856 schrieb Jacob Grimm an seinen Verleger Hirzel (5, S. 58):

"Neulich bin ich von einem Photographen etwas besser behandelt worden und ich hebe Ihnen einen Abdruck des Bildes auf."

Welche Photographie hiermit gemeint sein könnte, ist der Forschung nicht ganz klar. Es könnte sich um Abbildung 3 handeln.

"Großes Vergnügen an photographischen Portraits"

Herman Grimm, der Neffe Jacob Grimms, schreibt über seinen Onkel in dessen Altersjahren (5, S. 57):

"Jacob hatte in den letzten Jahren großes Vergnügen an kleinen photographischen Portraits. Es kam bald eine ziemliche Anzahl davon zusammen und wir versäumten keine Gelegenheit, sie zu vermehren."

Fast alle Menschen in der Verwandtschaft und Bekanntschaft der Grimms begannen in der damaligen Zeit, Photographien in Visitenkarten-Format von ihren Verwandten und Freunden zu sammeln und untereinander auszutauschen. Diese waren sehr oft gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie sind deshalb auch bis heute einer breiteren Öffentlichkeit gar nicht bekannt geworden.

Abb. 5: Jacob Grimm, 1860 (aus:5)

Eine von diesen Photographien von sich selbst sandte Jacob Grimm 1860 an eine Verehrerin, die in seinem Geburtsort Hanau wohnte. Und er schrieb dazu (5, S. 100):

"Zu den früher übersandten Bildern sende ich Ihnen noch eine Photographie, die neulich von mir aufgenommen wurde und die vor ihrem betrachtenden Auge nicht einmal den Hut abzieht, sondern still stehen bleibt."
Abb. 6: Jacob Grimm, 1860 (aus:5)

Die Hanauerin Luise Gies schickte eine eigene Photographie und schrieb (5, S. 100):

"Ihr Bildchen muß sprechend ähnlich sein, dies sagt mir jeder Zug desselben; und so eifrig habe ich es studiert, daß ich es, wie man sagt, auswendig kann. Was mich aber so besonders freut, daß Sie so deutsch darauf aussehen; auf den ersten Blick erkennt man den deutschen Gelehrten (...). Wenn Sie aber scherzhafter Weise bedauerten, daß Ihr Bild vor meinem betrachtenden Auge den Hut nicht abnehmen könne, was müßte ich dann sagen, daß das Meinige nicht einmal ehrerbietig aufstehen kann vor seinem hohen Freunde."
Abb. 7: Jacob Grimm, 1862 (aus:5)

Auf einer anderen Photographie (siehe oben) steht rückseitig verzeichnet (5, S. 102):

"Jacob Grimm - die Rose ist vom Grab seines Bruders Wilhelm."
Welche große Bedeutung Jacob Grimm solchen Photographien tatsächlich beimaß, wird vielleicht noch an seinem Verhalten auf dem Sterbebett deutlich. Sein Neffe Herman Grimm berichtet darüber (5, S. 81):
"Einmal glaubten wir ihn schon verloren, als er eine Photographie Wilhelms, die dalag, plötzlich ergriff, mit der gesunden Hand rasch und wie er zu tun pflegte, dicht vor seine Augen führte, einige Momente betrachtete und dann auf die Decke legte."

Jacob Grimm - trotz aller Anteilnahme ein Einsamer?

Was einen an diesen Photographien von Jacob Grimm frappieren kann, das ist, wie doch offenbar so einsam dieser Mann inmitten seiner Zeit vielleicht doch gelebt hat trotz all der Anteilnahme, die er in seiner Familie und unter seinen Zeitgenossen fand. Dieser Mann würde, so scheint es, nicht nur in unserer Zeit eine "fremde" menschliche Erscheinung bilden. Er war es - in vielerlei Hinsicht - wahrscheinlich schon für seine Zeitgenossen. Bedeutende Menschen stehen womöglich auf die eine oder andere Weise immer irgendwie "abseits".

Viele Menschen, die Jacob Grimm begegnet sind, haben das auch so empfunden. Sie fanden keinen Zugang zu seiner Persönlichkeit. So schrieb etwa ein Emil Kuh 1857 (5, S. 63):

"So angenehm Wilhelm auf mich wirkte, so abstoßend war mir Jacob Grimm. Er frug mich, ob ich Philolog sei, und Ähnliches mehr. Der stiere Blick, der stes bloß das Weiße des Auges und spärlich die Pupille blicken läßt, sodann seine Schwerhörigkeit vermehren das Unbehagen. Als ich mich (...) verabschiedete (...), da trat Jacob Grimm, während ich noch in der Tür war, buchstäblich wie ein aus der Ruh gestört gewesener Biber in seine viereckige Bücherwohnung zurück, und ich dankte dem Himmel, daß ich die Begegnung hinter mir hatte."

Und ein Julius Rodenberg schrieb 1853 aber unter anderem auch etwas günstiger über Jacob Grimm (5, S. 63):

"Er ist ein kleiner Mann, der in seinem altfränkischen Frack aussieht wie ein Stück der guten, alten Zeit, gar nichts von einem Stubengelehrten und noch weniger von dem vornehmen Berliner Professor an sich hat. Die hohe Stirn umgraut ein volles Haar, und die Augen funkeln."

Abb. 8: Jacob Grimm, 1863 (aus:5)

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  1. Nachtrag zu Geschichte, Kultur und Weltanschauung der Goten. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 55, Mai 1988, S. 18-22
  2. Schäfler, Wilhelm: Märchensammler und Erforscher der Deutschen Sprache. Zum 125. Todestag von Jacob Grimm. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 59, Januar 1989, S. 15-24
  3. Meinecke, Erich: "Eine neue Welt ging vor mir auf" - Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der Freund Jacob Grimms. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 120, Mai 2000, S. 12-21
  4. Meinecke, Erich: "Eine neue Welt ging vor mir auf" - Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der Freund Jacob Grimms. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 121, August 2000, S. 12-22
  5. Wiegand, Thomas: Die Brüder Grimm und die Photographie. In: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft VI, 1996, S. 41 - 104. Auch als Sonderdruck: Brüder Grimm-Gesellschaft e.V., Kassel 2000

Donnerstag, 31. Januar 2008

Die Natur als Künstlerin

"Making things special"

"Making things special", das "Herausstellen von Dingen als etwas Besonderes" gilt unter Kunstwissenschaftlern und Evolutionären Anthropologen als eine weithin akzeptierte Definition menschlicher, künstlerischer Tätigkeit, eine Definition, mit der auch eingeschworene Materialisten und Leugner alles Göttlichen leben können. (Diese Definition stammt - wenn wir uns nicht völlig täuschen - von Ellen Dissanayake [siehe auch St. gen.].)

Aber die Natur selbst stellt in allerhand Erscheinungen Dinge als etwas sehr "Besonderes" heraus.










Sonnenaufgang in Kassel - Januar 2008

Oder ist es wirklich nur unser menschliches Auge (- wieder etwas von der Natur Geschaffenes), das bestimmte Dinge in der Natur als "besonders", als bemerkenswerter erscheinen läßt als sie vielleicht tatsächlich sind? Dafür gibt es natürlich schon manche Hinweise. Sehen wir doch manche Schönheit nicht, die etwa Bienen sehen können, weil sie ultraviolettes Licht sehen können.

Warum empfinden wir Sonnenaufgänge und -untergänge als schön? Etwa weil dort, wo es schöne Sonnenauf- und -untergänge gibt, die Überlebensbedingungen besonders gut sind, wie man es als Evolutionärer Anthropologe nach der weithin akzeptierten "Savannen-Hypothese" vermuten könnte? - Aber das ist wenig plausibel! Denn der Autor dieser Zeilen hat den schönsten Sonnenaufgang seines Lebens einmal in einem einwöchigen Winterbiwak bei der Bundeswehr auf 1800 Meter Höhe in den Bayerischen Alpen erlebt, als er morgens aus der am Abend zuvor fachgerecht erbauten Zwei-Mann-Schneehöhle herauskrabbelte. Ein einziges Farbenmeer, eine Farbensymphonie, wie man sie zuvor und danach nie wieder erlebt hat.

Auch die Schönheit, die die Unterwasser-Fotographie uns nahe bringen kann, macht deutlich, dass es nicht nur das menschliche Auge ist, das uns Dinge in der Natur schön erscheinen lässt, dass also die Schönheit nicht nur im Auge des Betrachters liegt.

Sonnenaufgang in Kassel - Januar 2008
Also ist Schönheit ein Grundzug der Natur selbst? Im Grunde kann auch der krasseste Materialist einer solchen Schlussfolgerung kaum ausweichen. Vermutlich gibt es auch nur wenige Materialisten, die die offensichtliche und nur für sich selbst bestehende Schönheit in der Natur leugnen werden. Wissen sie, wissen wir, woher diese Schönheit kommt? Müssen wir diesen Grundzug des Universums, allerorten Schönheit aufzuweisen, nicht mit hinein nehmen in unsere Formeln zum Anthropischen Prinzip?

/Ursprünglich hier veröffentlicht, 
für die Neuveröffentlichung auf 
diesem Blog im Oktober 2016 
textlich überarbeitet./