Mittwoch, 19. Oktober 2022

Die Maler in Willingshausen

Einige erste Eindrücke zur Geschichte der Willingshäuser Malerkolonie
(1824 bis 1930)

Der Verfasser dieser Zeilen ist in dem hessischen Dorf Wernwig bei Homberg/Efze aufgewachsen. Dreißig Kilometer von diesem Dorf entfernt - auf der anderen Seite des Knüllgebirges und ebenfalls noch in der "Schwalm" gelegen - liegt Willingshausen, das Dorf der berühmten, ältesten Malerkolonie Europas (Wiki).

Abb. 1: Carl Bantzer - Frühlingsspaziergang im Wald, 1913 (Bln)

Und der Verfasser dieser Zeilen beschäftigt sich in diesem Beitrag zum ersten mal mit dieser berühmten Malerkolonie. In seiner Jugend hat er sich für diese Malerkolonie überhaupt nicht interessiert. Er wußte zwar von ihrer Existenz - aber er wußte noch nicht einmal, daß Willingshausen auf der anderen Seite des Knüllgebirges liegt. 

Wirkliches Interesse für Kunst entwickelte der Verfasser dieser Zeilen auch erst, nachdem er Nordhessen für das Studium verlassen hatte, nämlich im ersten Semester an der Universität Konstanz, als er sich all den Büchern in der dortige Kunst-Abteilung der Bibliothek mit den vielen herrlichen Werken der europäischen Kunstgeschichte Nachmittage lang hingegeben hat. Natürlich kann in einem solchen Zusammenhang die Willingshäuser Malerkolonie bestenfalls als eine Fußnote der europäischen Kunstgeschichte Aufmerksamkeit erwecken.

Mit diesem Blogartikel soll also zum ersten mal eine Beschäftigung mit dieser Malerkolonie Willingshausen erfolgen. Wobei dieser Blogartikel nur einen ersten Zugriff darstellen kann und sich nur - vielleicht willkürlich - einige der vielen Maler von Willingshausen heraus greifen kann. Uns am ansprechendsten erscheinen vor allem solche Maler, die in Willingshausen nach 1900 gewirkt haben. Und unter ihren Werken sind es gerade die vom Ausdruck her "herberen", die uns besonders der Aufmerksamkeit wert erscheinen. Wir haben die hier eingestellten Kunstwerke deshalb gegenchronologisch angeordnet. 

Abb. 2: Schäfer mit Herde bei Merzhausen in der Schwalm, Gemälde von Hugo Mühlig, 1929

Aber im begleitenden Text erweist es sich dennoch nötig, die Chronologie in der richtigen Reihenfolge einzuhalten. Aus Anfängen, die mit einem Zeitgeist verbunden waren, der uns womöglich heute nicht mehr so zugänglich ist, hat die Willingshäuser Malerkolonie in nachfolgenden Maler-Generationen dennoch Maler hervorgebracht, deren Werke heute durchaus ansprechen können und nicht nur "antiquiert" erscheinen oder uns doch zumindest als mit einer Tendenz in diese Richtung hin behaftet erscheinen.

Eine im Jahr 2008 begonnene und in den letzten Wochen weiter geführte Auseinandersetzung mit dem aus Wernswig stammenden, in Düsseldorf wirkenden und oft in Willingshausen weilenden Maler und Grafiker Heinrich Otto (1857-1923) (Wiki, engl) (s. Stgen2008) veranlaßte das Zusammentragen dieses Beitrages zu Willingshausen. Denn auch das Leben von Heinrich Otto wird nur verständlich im Zusammenhang der über mehrere Jahrzehnte hinweg so fröhlich zusammen wirkenden und miteinander befreundeten Maler in Willingshausen. 

Als einer der ersten Künstler, die sich in Willingshausen aufgehalten haben, gilt der Kasseler Maler Ludwig Emil Grimm (1790-1863) (Wiki). Es ist dies der jüngste Bruder der "Gebrüder Grimm". Er war 1824 und 1825, sowie 1828 in Willingshausen (GB). Willingshausen liegt ja auch vergleichsweise gut erreichbar zu Kassel (1). 1824 entstand dort etwa seine Radierung "Die hohle Eiche bei Willingshausen", 1825 das Bildnis des Johannes Dörr (Abb. 15).

Ludwig Knaus (1858)

Beliebtheit unter Malern vieler europäischer Länder erlangte Willingshausen dann aber erst ab 1858 durch ein Werk des aus Wiesbaden gebürtigen, viele Jahre in Düsseldorf lebenden Malers Ludwig Knaus (1829-1910) (Wiki). Knaus gehörte zu der Generation der enttäuschten deutschen Revolutionäre von 1848. Ab 1849 suchte er in seiner Enttäuschung Zuflucht auf dem Land. Er kam dabei nach Willingshausen. 

Abb. 3: Bauer Dörr, Radierung von Hermann Kätelhön, 1913

Es war dann insbesondere sein Gemälde "Die goldene Hochzeit" von 1858 (Abb. 10), sowie mehrere weitere, beliebt gewordene Gemälde, die er vom Volksleben in Willingshausen malte, die das Bedürfnis und den Geschmack der Zeit offenbar so stark angesprochen haben, daß auch andere Maler solche Szenen malen wollten. 

Die "Notwendigkeit" für dieses Zeitbedürfnis wird einem deutlicher, wenn man sich klar macht, daß zeitgleich auch die Volkskunde als Wissenschaft durch den Schriftsteller Wilhelm Heinrich Riehl - ebenfalls einen Revolutionär von 1848 - begründet worden ist (DVHS1997). Auch Knaus wollte in Willingshausen in einem ähnlichen Sinne "ethnographische Studien" treiben (Wiki):

1858 malte Ludwig Knaus das Gemälde "Die Goldene Hochzeit", 1867 sein Bild "Hoheit auf Reisen" und 1871 "Das Leichenbegräbnis in Willingshausen". Knaus wurde für seine Motive weltweit berühmt und es zogen eine große Anzahl deutscher und ausländischer Maler nach Willingshausen, um die hessische Landschaft und das Volksleben abzubilden.

Knaus wirkte also - der Absicht nach - auf ähnlichen Gebieten als Maler wie Wilhelm Heinrich Riehl als Schriftsteller und Wissenschaftler (Wiki):

Im Sommer 1849 war Knaus - Anregungen von Jakob Becker und Jakob Fürchtegott Dielmann folgend - erstmals zu ethnographischen Studien mit seinem Freund Adolf Schreyer in Willingshausen in der Schwalm. In jenen Jahren entstanden seine eigentlichen Hauptwerke; "Das Leichenbegängnis in einem hessischen Dorf" (1871), "Die Geschwister" (1872) oder "Die Beratung der Haunsteiner Bauern" (1873). 

Aus heutiger Sicht möchte man diesen Gemälden höchstens noch eine Bedeutung zusprechen als Hinweis auf den Zeitgeschmack der damaligen Zeit. Man versteht mit ihnen, womöglich zur eigenen Überraschung, daß damals "rührende", eher rückwärts gewandte dörfliche Idyllen innerhalb des Bürgertums auf Wohlwollen stießen, vielleicht auch als Gegenreaktion in der Zeit der beginnenden Industrialisierung und des immer zügiger werdenden gesellschaftlichen Wandels, der sich durch diese ergab.

Abb. 4: Schwälmer Bauer von Hermann Kätelhön

Für die heutige Wahrnehmung mutet mancher Charakterzug der Gemälde von Ludwig Knaus fast "kitschig" an. Da von diesem Zug auch manche Werke "gefeierter" Willingshäuser Maler aus nachfolgenden Generationen nicht ganz unbeeinflußt blieben, mag das Bild der Willingshäuser Malerkolonie womöglich zu sehr von diesem Charakterzug insgesamt geprägt geblieben sein. Obwohl doch später noch ganz andere Künstler und Künstlergenerationen folgten in Willingshausen. Und um dieser späteren Maler willen möchte man Willingshausen viel eher eine nicht geringe Bedeutung in der Kunstgeschichte zusprechen.

Im Gefolge von Ludwig Knaus kam unter anderem Paul Weber (1823-1916) (Wiki) nach Willingshausen. Er hat herrliche Landschaftsgemälde gemalt, die weitaus weniger zeitverhaftet wirken als viele der Werke von Knaus. Andererseits mögen die Werke vieler anderer Maler, die zu den beiden bisher genannten Maler-Generationen in Willingshausen gehörten, in ähnlicher Weise eher nur noch historisches Interesse wecken. 

Karl Raupp (1865)

Der Münchner Maler Karl Raupp hat im Jahr 1865 Willingshausen besucht. Und er berichtete davon im Jahr 1887 sehr lebendig und anschaulich (2). Er beschreibt, daß den Malern jener Jahre die Schwälmer Volkstracht "malerischer" erschienen ist als sogar die bayerische Volkstracht. Denn diese hätte damals schon zu sehr an "Theater" erinnert. Er schrieb auch (2):

Der Bauer und die Bäuerin der Schwalm ist im Sonntagsstaat und bei der Feldarbeit von gleich malerischer Erscheinung. Im wogenden Kornfeld die hellen Figuren der Mädchen mit dem roten Mützchen auf den blonden Haarn arbeiten zu sehen, wirkt stets als ein heiteres allerliebstes Bild.

Es war also tatsächlich die damals noch im Alltag getragene Schwälmer Tracht, die viele Maler nach Willinghausen zog. 

Wilhelm Schäfer (1882)

Der aus der Schwalm gebürtige aber in Düsseldorf aufgewachsene, ausgebildete Volksschullehrer und nachmalige Schriftsteller Wilhelm Schäfer (1868-1952) (Wiki) hat in den 1930er Jahren einmal im Rückblick beschrieben, wie befremdet er war, als er mit 14 Jahren im Jahr 1882 das erste mal - von Düsseldorf aus - in die Heimat seiner Eltern gekommen ist. 

Abb. 5: Agnes Waldhausen (1878-1963), eine Willingshäuser Malerin, Potrait von Hermann Kätelhön um 1920 (Ks)

Und zwar aus Anlaß der Beerdigung seiner Großmutter. Aus seinen Worten wird deutlich, wie selbstverständlich es in der Schwalm damals noch war, Tracht zu tragen. Es wird darüber berichtet (HNA2019):

Zur Beerdigung der Großmutter 1882 kam Wilhelm Schäfer zum ersten Mal wieder nach Ottrau. Obwohl ihm das Land der Rotkäppchen in Gedanken vertraut war, notierte er: „die Kinder in den kurzen gebauschten Röcken, den weißen Strümpfen und den Schnallenschuhen stellten sich in der Wirklichkeit als eine unerreichbare Fremde heraus.“ (Meine Eltern, 1937, S.88ff.) Der Anblick des Trauerzuges zum Kirchhof mit den singenden Rotkäppchen, den Frauen mit schwarzen Käppchen und den Männern im Dreispitz war „für meine staunenden Augen ein unauslöschliches Bild, nur für meine gänzlich verdonnerte Seele konnte das keine Heimat sein, schon deshalb nicht, weil ich die Sprache gar nicht oder nur wortweise verstand. (...) Daß meine Mutter auch einmal ein Rotkäppchen gewesen war, sah ich nun an ihren Schwestern und meinen Basen; nur war das alles Vergangenheit, an der ich nicht teilgenommen hatte, und die Gegenwart hatte keine Zeit, mir ihre Türen aufzumachen. Denn am zweiten Tag fuhren wir wieder nach Hause (...) Der blasse Traum einer Heimat zerrann in der hessischen Wirklichkeit (...), wo die Äcker und Wälder um Ottrau nur für die Rotkäppchen da waren, die mich in meinem Konfirmandenanzug so fremd angesehen hatten, wie ich sie selber.“ Wie er weiter schrieb, teilte er damit das Schicksal vieler, die um des Broterwerbs in die Industriegebiete gingen. „Sie verloren die Heimat, in der die Gemeinsamkeit eine faßbare Wirklichkeit ist; ohne sie ist sie eine Idee.“

Wilhelm Schäfer hat sich Zeit seines Lebens - insbesondere in der von ihm mit Hilfe der Maler des Düsseldorfer Künstler-Vereinigung "Malkasten" begründeten - recht bedeutenden Kulturzeitschrift "Die Rheinlande" für viele Künstler und für die Kunst insgesamt eingesetzt. Nicht zuletzt auch für manchen aus Hessen stammenden und zeitweise in Willingshausen wirkenden Maler und Graphiker. So etwa auch - als einer der ersten - für den in Düsseldorf lebenden aber aus Wernswig in Nordhessen stammenden Landsmann Heinrich Otto.

Eine neue Generation (ab etwa 1880)

Von dem genannten Ludwig Knaus übernahm eine nachfolgende Maler-Generation die Gewohnheit, Sommerreisen in die Schwalm zu unternehmen. In einem 200 Seiten-Werk aus dem Jahr 1975 - "Deutsche Künstlerkolonien und Künstlerorte" - wird ausgeführt, daß dem 76-jährigen Ludwig Knaus im Jahr 1905 bewußt war, daß die ihm folgende Maler-Generation andere Wege ging als er selbst (Witek/Belm1976, S. 20): 

... Die impressionistischen Tendenzen sind ihm suspekt. Fünf Jahre vor seinem Tode bekennt der Sechsundsiebzigjährige: "Ich erkenne die großen Errungenschaften der Modernen an. Die Jugend hat das Wort, wie wir Alten es ehedem gehabt haben. Aber das Gemüt verödet ein wenig bei dem Haschen nach virtuosen Effekten. Plein air habe ich immer mit Vorliebe gemalt, aber die Lichtphänomene in der Natur und meine Richtung, das Genre, sind unvereinbar. - Wenn der Mensch des Menschen eigentliches Studium ist, so wird er auch das eigentliche Objekt der Kunstanschauung bleiben. Um die seelischen Vorgänge in des Menschen Leben und Angesicht malen zu können, brauche ich das Licht nicht als Objekt und Endziel der Kunst, sondern als Mittel, das sich so wenig aufdrängt wie möglich."
Von dieser Auffassung distanzierte sich die nächste Malergeneration auch in Willingshausen. Die im Freilicht gemalte Landschaft gewinnt an Darstellungswürdigkeit und erhält für einige Zeit Vorrang. Hugo Mühlig (1854-1929), Otto Strützel (1855-1932), Adolf Lins (1856-1927), Carl Bantzer (1857-1941), Theodor Matthei (1857-1920), Emil Zimmermann (1858-1899), Heinrich Otto (1858-1923) widmen sich in den siebziger und achtziger Jahren der Schwälmer Landschaft. Alles Jahres- und Tageszeiten finden ihren Niederschlag in Skizzen, Studien und Bildern. Am frühen Morgen pirscht der Jäger im nebelverhangenen Wald (Mühlig), Erste Sonnenstrahlen eines feuchtkalten Novembermorgens umspielen Schäfer und Hund (Strützel, Abb. 6). Über einen Feldweg der Schwalm treibt ein Mädchen die Gänse, die Wolken ziehen mit (Lins, Abb. 8). Im Kohlgarten vorm Dorf ackert die Bäuerin (Lins). Stickig brütet die Julisonne zwischen den Garben im Kornfeld (Mühlig, Otto, Abb. 7). Warme Abendsonne wirft lange Schatten über den Heimweg einer kleinen Schwälmerin (Matthei). Immer ist der bäuerliche Mensch in die Landschaft mit einbezogen, auch wenn oft nur klein oder überhaupt nicht als Gestalt sichtbar. Seine Tätigkeit ist stets spürbar und im Bilde zu gewahren. Mensch und Landschaft atmen im gleichen Rhythmus.
Den in der Schwalm geborenen Carl Bantzer zieht es seit den achziger Jahren unwiderstehlich nach Willingshausen. Es wird zum Mittelpunkt der Freilichtmalerei schon dadurch, daß er seine Schüler der Dredener und später der Kasseler Akademie in die Schwalm bringt. Bantzer macht das Sommer-Studium auf dem Lande zur Pflichtübung.

Man wird auch annehmen müssen, daß Maler wie Heinrich Otto sich damals dem französischen Maler Jean-François Millet (1814-1875) (Wiki, engl) verbunden gefühlt haben. Millet war ein Bauernsohn wie Otto selbst. Er stammte aus der Normandie. Otto hat ähnlich häufig wie Millet Schafherden und Schafe gemalt, oft auch in ähnlicher Stimmung gehalten wie bei Millet. Diese Ähnlichkeit fällt etwa bei Betrachtung von Millet's "Schafherde bei Mondlicht" von 1872/73 (Wiki) deutlich ins Auge, denn Otto hat selbst ganz ähnliche Werke geschaffen.

Otto Mühlig

Zu der nachfolgenden Generation von Malern gehörten dann unter anderem Hugo Mühlig (1854-1929) (Wiki), gebürtig aus Dresden und Heinrich Otto, gebürtig aus dem von Willingshausen nur dreißig Kilometer entfernten Dorf Wernswig. Schon der Vater von Mühlig war in Dresden Landschaftsmaler gewesen, der Vater von Heinrich Otto war Kleinbauer und Fruchthändler. Mühlig und Otto lebten in Düsseldorf. Beide waren dort Mitglied der Künstlervereinigung "Malkasten". 

Mühlig hat schließlich in Merzhausen bei Willingshausen einige der schönsten seiner Landschaftsgemälde gemalt (s. Wiki, z.B. a, b, c, auch d), darunter auch eines aus seinem letzten Lebensjahr: "Schäfer mit Herde bei Merzhausen in der Schwalm" (Abb. 2). 

Auffallende Werke haben auch geschaffen der mit Heinrich Otto gleichaltrige, gebürtige Schwälmer und Ziegenhainer Carl Bantzer (1857-1941) (Wiki) (s. Abb. 1), sowie der zehn Jahre jüngere Wilhelm Thielmann (1868-1924) (Wiki) (Abb. 6 und 7), sowie dann der Marburger Maler und Grafiker Otto Ubbelohde (1867-1922) (Wiki). 

Carl Bantzer (1913)

Bantzer ist im Jahr 1887 zum ersten mal nach Willingshausen gekommen. Auch er hat beschrieben, warum gerade Willingshausen unter den Malern so große Begeistrung weckte (zit. n. 3, S. 123f):

Die sinnvollen alten Sitten und Gebräuche von der Wiege bis zur Bahre waren noch überall lebendig und gestalteten das Leben reich.

Und:

Begeistert waren alle von der urwüchsigen Eigenart der Menschen und ihrer farbigen Tracht, von den malerischen Dorfgassen, mit Höfen, deren Häuser, Scheunen und Ställe alles zum Malen reizte, und von der Schönheit der Landschaft in Wald und Feld.

Wenn Bantzer das schreibt, der doch selber nicht weit entfernt von Willingshausen in Ziegenhain aufgewachsen ist, dann muß man von Willingshausen doch denken, daß es eine Art archaische Enklave inmitten einer sich weiter entwickelnden Zeit darstellte. 

Abb. 6: Abendmahl-Szene in der Wernswiger Kirche - Heinrich Otto, 1887 (Schn2020)

1887 malte Heinrich Otto in seinem Heimatdorf Wernswig eine Abendmahl-Szene in der Dorfkirche (Abb. 6). Von Tracht ist hier keine Spur. Insgesamt liegt aber sein Gemälde noch eher auf der Linie eines Ludwig Knaus als derjenigen einer nachfolgenden Maler-Generation.

1898 malte Heinrich Bantzer dann in Willingshausen sein Ölgemälde "Schwälmer Jugend beim Tanz", auch benannt "Schwälmer Tanz" (1898) (Wiki), jenes Gemälde, das wohl als das bekannteste und beliebteste aller in Willingshausen entstandenen Gemälde gilt. Ob mit Recht, sei dahin gestellt. Bantzer schildert, daß der Tanz, der auf diesem Gemälde getanzt wird, ein ganz bestimmter Tanz war, nämlich der "Schwälmer" (Naumann2011, S. 135). Dieser wird auch heute noch von Trachtengruppen der Schwalm getanzt (7, 8).

Aber weniger "gewollt" und eher "unbeschwerter", leicht dahin gemalt erscheint uns sein Gemälde "Frühlingsspaziergang im Wald" (bzw. "Sonntag in der Schwalm", bzw. "Waldspaziergang") aus dem Jahr 1913 (G) (Abb. 1). Es kann getrost zu den bedeutendsten Werken gerechnet werden, die die Malerkolonie Willingshausen hervorgebracht hat. Es ist deshalb auch als erstes - und damit als Vorschaubild - dieses Beitrages eingestellt.

Hermann Kätelhön (1913)

Angehöriger einer wiederum ganz neuen Malergeneration war dann der 25 Jahre jüngere Hermann Kätelhön (1884-1940) (Wiki). Kätelhön steht der heutigen Generation von allen bislang Genannten schon rein zeitlich am nächsten. Vielleicht sprechen deshalb viele seiner Werke auch heute noch viel leichter an und scheinen aus heutiger Sicht nicht zu sehr von irgendeinem sehr besonderen Zeitgeschmack (des 19. Jahrhunderts) beeinflußt zu sein (Abb. 3-5).

Auf Fotografien und Zeichnungen sieht man die Willingshäuser und Düsseldorfer Maler oft in fröhlicher Runde zusammen sitzen. Hermann Kätelhön hat dabei die Gitarre in der Hand, ein anderer Maler sitzt am Klavier. Man scheint in jenen Zeiten immer auch gerne miteinander gesungen zu haben. Oft sind ganze Familien bei den Zusammenkünften anwesend, so sitzen etwa die vier Kinder von Carl Bantzer den anderen Malern auf dem Schoß. Von solchen Fotografien her gesehen traut man - zumal dem Maler Kätelhön - gar nicht so ernsthafte Werke zu wie sie von ihm überliefert sind.

Der Maler Wilhelm Thielmann (1868-1924) (Wiki) ist schließlich mit seiner Familie sogar ganz nach Willingshausen gezogen und hat dort bis an sein Lebensende gelebt. 

Seine Familie hat dort 1942 auch die ausgebombte Bonner Malerin Henriette Schmidt-Bonn (1873-1946) aufgenommen, eine einstige Schülerin von Heinrich Otto, die noch 1940 in einem Aufsatz ihres Lehrers gedachte. 

Die Literaturwissenschaftlerin und Lehrerin, später Leiterin einer Mädchenschule Agnes Waldhausen (1878-1963) (Abb. 5) war ebenfalls gut befreundet mit der Familie Thielmann und hat oft in Willingshausen geweilt. Sie hat auch ergreifende Novellen verfaßt (s. Stgen).

Sie wird als "Muse von Willingshausen" bezeichnet. Über sie kamen an ihrem Lebensende - ähnlich wie 1946 schon über Schmidt-Bonn - Teile des Nachlasses von Heinrich Otto an das Kunstmuseum Marburg (alle inzwischen auf Bildindex.de digitalisiert).

Wilhelm Thielmann (1915)

Wilhelm Thielmann hat manches schöne Werk in Willingshausen geschaffen. Hier seien nur zwei Beispiele heraus gegriffen (Abb. 7 und 8).

Abb. 7: "Neueste Nachrichten" von Wilhelm Thielmann, 1915

Die Zeichnung "Neueste Nachrichten" ist im Jahr 1915, also im ersten Jahr des Ersten Weltkrieges entstanden. Man kann ihr entnehmen, daß die Menschen in Willingshausen im Alltagsleben damals immer noch Tracht getragen haben.

Gespannt und aufmerksam hören sie den vorgelesenen, vermutlich militärischen Nachrichten zu. Sie haben alle Söhne und Angehörige an den Fronten im Osten, im Westen, auf der See und bald auch im Süden. Sie sorgen sich um das Schicksal des schwer bedrohten Vaterlandes. 

Ernst, gefaßt und ingrimmig hören sie den Nachrichten zu. Deutschland ist für sie - mitten in der Friedenszeit - von allen Seiten mit einer überwältigenden Übermacht angegriffen worden. Daß Deutschland etwas Unrechtes getan hätte, daß diesen Krieg gerechtfertigt hätte, davon ist keiner überzeugt.

Abb. 8: Beim Tanz von Wilhelm Thielmann

In seiner Zeichnung "Beim Tanz" (Abb. 8) hat Wilhelm Thielmann ein zu seiner Zeit sehr beliebtes Motiv aufgenommen. Carl Bantzer war mit diesem - als Ölgemälde gefaßt - ja sehr berühmt geworden. In dieser Zeichnung läßt man dieses Motiv aber fast lieber auf sich wirken als in dem - für den heutigen Zeitgeschmack - zu betont farbenfreudigen Gemälde von Carl Bantzer.

Es ist erstaunlich, daß die Maler noch bis in den Ersten Weltkrieg hinein dem "Hessischen Volksleben" so viel Aufmerksamkeit zugewendet haben, ihm so viel haben abgewinnen können. Von all dem war in der Jugendzeit des Verfassers dieser Zeilen um 1980 herum in der Schwalm und in Nordhessen nur noch wenig zu bemerken. Nur ganz alte "hutzelige" Weiblein sah man damals mitunter noch in schwarzer Schwälmer Tracht auf den Straßen gehen.

Ein solches "volkstümliches Leben", eine solche Verbundenheit mit der eigenen Tracht gibt es bis heute in Bayern und in Österreich jedenfalls noch viel ungebrochener.

Abb. 9: Wichtige Orte künstlerischen Schaffens in Deutschland zwischen 1871 und 1918: Kunstakademien und Malerkolonien (Lenman1997)

In Abbildung 9 findet sich ein schöner Überblick über die Zentren des künstlerischen Schaffens in Deutschland zwischen 1871 und 1918. Es fehlt darin natürlich manches, etwa die Künstlerkolonie Nidden in Ostpreußen. Und spätestens nach 1918 kam zum Beispiel auch die Künstlerkolonie am Lebasee im mittleren Pommern an der Ostsee hinzu.

Nur an eine Kunsterfahrung aus seiner Jugend in seiner Heimat kann sich der Verfasser dieser Zeilen noch erinnern. Sie paßt sogar vom Thema her irgendwie in die in diesem Beitrag behandelte Thematik hinein. Als er einmal mit etwa 17 Jahren die Gemäldegalerie in Kassel besuchte, hinterließ das dort aufgehängte Bild "Der eifersüchtige Tiroler" einen nachhaltigen Eindruck (MusKassel) (Abb. 10).

Abb. 10: Der eifersüchtige Tiroler von Franz Defregger, 1899

Es mag noch heute - wie viele andere Gemälde des Tiroler Malers Franz Defregger (1835-1921) - deutlich direkter ansprechen als die meisten vergleichbaren Werke aus Willingshausen. 

Womöglich wäre es einmal spannend, nach den Ursachen dafür zu fragen. Warum erscheinen einem heute viele "Szenen aus dem Volksleben" aus Willingshausen zu "rührend", während ein solcher Eindruck - zum Beispiel - bei einem Defregger viel seltener entsteht. Defregger erscheint uns viel kraftvoller, viel "gegenwärtiger" als selbst etwa ein Wilhelm Thielmann. Und als Ludwig Knaus sowieso.

Abb. 11: "Die goldene Hochzeit" von Ludwig Knaus, 1859

Nun abschließend noch einige Werke dieses oben erwähnten Ludwig Knaus, ohne den es die Willingshäuser Malerkolonie in der Form, in der sie bekannt geworden ist, vermutlich gar nicht gegeben hätte.

Abb. 12: "Hinter den Kulissen" von Ludwig Knaus, 1880

Wir versuchen hier noch einige seiner Werke einzustellen, die uns noch am ehesten als ansprechend erscheinen (Abb. 11 bis 14). 

Mit all dem sollte nur ein erster Eindruck zur reichen Geschichte der Malerkolonie Willingshausen gegeben werden.

Abb. 13: In Gedanken verloren von Ludwig Knaus, 1884

Umfassendere Überblickswerke zur Geschichte der Willingshäuser Malerkolonie müssen erst noch durchgeblättert und studiert werden, um ein womöglich vollständigeres Bild geben zu können.

Abb. 14: "Das freche Mädchen" (Ausschnitt), Ludwig Knaus zugesprochen

Und abschließend auch noch ein Beispiel für das Willingshäuser Schaffen von Ludwig Emil Grimm (Abb. 15). 

Ludwig Emil Grimm (1825)

Ludwig Emil Grimm hat sehr bedeutende Werke hinterlassen neben vielen locker dahin gezeichneten Augenblicks-Eindrücken. Deshalb kann man ihn auch leicht unterschätzen.

Abb. 15: Bildnis des Johannes Dorr oder Dörr aus Willingshausen von L. E. Grimm, 1825

Das hier gebrachte Bildnis des Johannes Dörr, ebenso wie das Bildnis eines Jungen aus Obermöllrich, sowie eine "Hausecke mit Drehbrunnen in Willingshausen" sind alle im Jahr 1825 entstanden (Zeno).

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  1. Andresen, Andreas: Die deutschen Maler-Radirer, peintres-gravenrs, des neunzehnten Johrhunderts nach ihren Leben und Werken. 3. Band, Leipzig 1869 (GB)
  2. Raupp, Karl: Willingshausen - Ein Studienplatz deutscher Künstler. Beschrieben in Wort und Bild. In: Kunst für alle, Bd. 2, 1887, S. 11ff (GB
  3. Wietek, ‎Gerhard; Bellm, Richard: Deutsche Künstlerkolonien und Künstlerorte. Verlag Karl Theimig, München 1976 (GB)
  4. Naumann, Petra: Volkskultur - das Andere im Eigenen. Entwürfe ländlicher Kultur um 1900. Diss. Marburg 2009, Tectum Verlag, Marburg 2011 (GB), S. 121ff
  5. Lenman, Robin: Artists and Society in Germany 1850-1914. Manchester University Press, 1997 (GB)
  6. Wulf, Harm: Emil Beithan - Maler Schwälmer Brauchtums, 2015, http://galleria.thule-italia.com/emil-beithan/
  7. Der Schwälmer, https://youtu.be/nJhO9A_bbKg?t=156
  8. Der Schwälmer, https://www.dancilla.com/wiki/index.php/Schw%C3%A4lmer

Freitag, 6. Mai 2022

Das Zeitalter der Zuversicht

... und das Zeitalter der Décadence
 - Stehen sie - womöglich - in einem Wechselverhältnis zueinander?

Das Zeitalter der „republic of letters“, das Zeitalter der Vigée-Lebrun (dvhs) ist das Zeitalter der Zuversicht.

Es ist das Zeitalter der Hoffnungsfreudigkeit, des Aufbruchs.

Ist dieses Grundverständnis der Zuversicht, des Aufbruchs und der Hoffnungsfreudigkeit nicht das letztlich angemessene für eine so außerordentlich reiche kulturelle Entwicklung der Menschheit wie sie sich in den letzten 300 Jahren entfaltet hat? 

Abb. 1: Selbstportrait der französischen Portraitistin Elisabeth Vigée-Lebrun, entstanden 1801, vielleicht noch in Petersburg, vielleicht in Berlin oder Potsdam (heute im Museum der Schönen Künste in Rouen) (Grpalais)

Wir haben gelernt, wie dieser Kosmos entstanden ist, wir haben einige Grundgesetze verstanden, nach denen sich dieser Kosmos und alles Gewordene in ihm entwickelt, nach denen aus Chaos Ordnung entstehen kann. Wir haben gelernt, daß das viel Ähnlichkeit mit jenen Gesetzmäßigkeiten hat, die einstmals der Philosoph G.F.W. Hegel und andere (Hölderlin, Marx) in ihren Philosophien vorweg genommen hatten (Grundgesetze der Entwicklung des Individuums, des Seins an sich und der Geschichte, "Umschlag von Quantität in Qualität", "Rollentreppenbegriff der Geschichte", "Dialektik" und vieles andere mehr.)

Wir haben gelernt wie außerordentlich speziell dieser Kosmos ist. Wie speziell er schon in seinen Anfangsbedingungen war, nämlich so speziell, daß er Strukturen und schließlich an Nervenzellen gebundenes Bewußtsein aus sich heraus hat entstehen lassen. 

Wir haben gelernt, daß das alles nicht "selbstverständlich" ist. Daß es also vermutlich wenig Sinn macht, unser Universum schlicht ein "Zufallsereignis" zu nennen. Vielleicht ist das Universum in die Welt gekommen, damit Zuversicht in der Welt sei? Damit Freude in der Welt sei? Damit Hoffnungsfreudigkeit in der Welt sei?

Denn nur aus dem Zeitalter der Décadence, der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit heraus kann man diesem herrliche Universum und unserem Leben in demselben die bloße Bedeutungslosigkeit des Zufalls zusprechen (s. S. J. Gould's "Zufall Mensch").

Wir lernen in den letzten Jahren wie außerordentlich speziell jene Bedingungen in unserer Galaxie, in unserem Sonnensystem und auf unserer Erde sein mußten, damit es erst möglich wurde, daß in 4,5 Milliarden Jahren etwas so Prekäres, etwas an so spezielle Bedingungen Gebundenes und damit Gefährdetes wie Leben - und noch mehr: wie Bewußtsein - entstehen konnten. In diesem Sonnensystem, auf diesem Planeten, auf dessen unterschiedlichen Kontinenten.

Es ist das ein so ungeheures Geschehen der Erkenntniserweiterung in den letzten 200 bis 500 Jahren. Und dennoch konnte das Zeitalter der Zuversicht um 1770, um 1790 herum so ungeheuer schnell umschlagen in ein Zeitalter der Décadence, in ein Zeitalter des "fin de sciecle", in ein Zeitalter des "Unbehagens an der Kultur", des Mißmuts, der Griesgämigkeit, des Pessimismus, der Verzweiflung, der "Desillusionierung", der Untergangsstimmung, des Scheiterns. All das sind Stimmungen, die sich auch in dem Umstand widerspiegeln, daß Millionen, nein, Milliarden von Menschen heute anteilnahmslos an diesem ungeheuren Geschehen der Erkenntniserweiterung der letzten 300 Jahre vorbei gehen.

Selbst unter den Denkenden unserer Zeit. Selbst unter den Philosophierenden unserer Zeit.

Wie war das möglich?

Wie ist das möglich?

Wo liegen die Umschlagspunkte dafür?

Deutlich wird: In einem Dichter und Denker wie Friedrich Hölderlin finden wir beides in einer Person in sich vereinigt. Zum einen diese riesige große Zuversicht. Und zum anderen - und zugleich - eine wiederholt wiederkehrende, riesige große Niedergeschlagenheit. Er hat in seinem Leben wie in seinem dichterischen Schaffen - wie in einem Brennglas – beides in sich gefaßt, die Grundstimmung des Zeitalters der Zuversicht ebenso wie die Grundstimmung des Zeitalters der Untergangsstimmung, die sich weiterentwickelte in das Zeitalter der seelischen Verelendung, des Staats-, Kultur- und Gesellschafts-Verfalls. Und was für prophetische Worte man bei ihm in diesem Zusammenhang findet (Gutenb):

O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große verloren; so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln.

Wie konnte Hölderlin so etwas niederschreiben? Zu seiner Zeit wußte man doch noch gar nicht, daß es tatsächlich "Kometen aus fremden Himmeln" (Asteroiden) waren, wieder und wieder, die es ermöglichten, daß sich alles Lebens verjüngte auf unserer Erde, auf diesem Planeten. Wie konnte er so etwas voraus ahnen?

Aber etwas anderes ist auch sicher: Wir gewinnen noch nicht einmal einen angemessenen Maßstab, ein angemessenes Bewußtsein für dieses Zeitalter des Gesellschafts-, Kultur- und Politikverfalls, solange wir uns nicht aufschwingen und uns beschwingen lassen von jenem Geist, der einmal war, der wieder kommen wird, gewiß wieder kommen wird, der in uns ruht, der jeden neuen Frühling, Völkerfrühling beseelt und beseligt, der erfüllt ist von Zuversicht und Selbstvertrauen und gegenseitiger Anteilnahme der Menschen untereinander, der Geborgensein kennt, Erfülltsein von allem Seligen, was diese Erde und dieser Kosmos zu bieten haben.

Wenn wir uns dazu nicht aufschwingen können - wie wollen wir dann einen Maßstab gewinnen, ein Bewußtsein gewinnen davon, was all der Verfall, der uns umgibt (und womöglich erfüllt), eigentlich soll?

Warum?

Warum auch der?

Warum ist er da?

Warum gibt es ihn?

Warum geben wir uns ihm hin?

Wird der Verfall ... das letzte Wort haben?

Wenn wir aufschauen zu Elisabeth Vigée-Lebrun, ihrem Glanz, ihrer Schönheit, ihrem Adel, dann wissen wir wieder eines: Dieser Verfall kann und wird nicht das letzte Wort haben. In der Menschheitsgeschichte. Nein. Dazu ist Menschheit nicht entstanden, dazu ist Leben auf diesem Planeten, in diesem Kosmos nicht entstanden, damit das der Endpunkt ist, damit das "das Ende vom Lied" ist. Das, was wir heute erleben.

Nein. Von überall her ruft es uns zu: Das ist Lüge, so zu denken. In uns schlummert anderes. In uns schlummert Besseres. Wir sind zu Höherem geboren. In uns ist Adel, heiliger Sinn, Edelmut, Andacht, Geschenk, Gewährung des Guten. Zu sagen, ein Zeitalter der Zuversicht wäre bloße Illusion gewesen - ja, wer im Sumpf steht, der kann nichts anderes sagen. Und denken. Gewiß. Wie auch?

Aber wir wissen es anders.

Und wer im Sumpf stehen bleibt, wird dem Adel nicht nahekommen, dem Adel, der einstmals war in der Welt, und der wieder kommen wird in dieser Welt. Wir selbst sind Bürgen dafür. Nur wir. Wer sonst? Sind es nicht unsere Träume, die diesen Adel verkünden?

Raffen wir uns auf. Besinnen wir uns. Helfen wir uns. Helfe jeder sich selbst, helfe jeder dem anderen. Erinnern wir uns. Erinnere sich jeder, was einstmals war, was ist und was wieder kommen kann, was deshalb auch wieder kommen wird. So gewiß wie es ist, daß die Sonne, die am Abend untergeht, am nächsten Morgen wieder aufgeht.

Nur wir haben es - womöglich - in der Hand, nur wir, ob es früher oder später geschieht. Daß die Sonne wieder aufgeht. Wir können der Aufbruch sein, den wir uns wünschen und der uns erwünscht erscheint, ja, der uns erwünscht erscheinen muß. Blicken wir hinaus in die Natur, blicken wir in die Menschheit, blicken wir in uns. 

Der Trank des Lebens - noch ist er an niemandem vorbeigegangen, der jemals lebte. Jeder konnte ihn trinken. Trinken wir, trinken wir doch. Erst dann ergreift uns jene Seligkeit, der wir gewahr werden müssen, wenn wir überhaupt erahnen wollen, was all der Verfall um uns herum und in uns drin eigentlich sollen.

Die "Republik der Gelehrten"

Ist das Antlitz unseres Zeitalters alternativlos?
- Nein, "Gesellschaftlicher Aufbruch - jetzt!" Eine andere Zeit ist möglich
- Im folgenden aufgezeigt am Zeitalter der "Gelehrtenrepublik" des 18. Jahrhunderts, an einer Malerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun und ihren hinreißenden Gemälden

"Republic of letters" (Wiki) - der Begriff fällt ins Auge und begeistert, wenn man ihn in einer Rezension erwähnt findet. Zu Deutsch "Republik der Gelehrten" (Wiki). Und zwar in einer Rezension zu einem neuen Buch über die europäische Wissenschaftsgeschichte. Da ist nämlich die Rede von ... (1)

... den wissenschaftsgeschichtlichen Stichworten, nach denen die Wissenschaftsgeschichte heute üblicherweise gegliedert wird (die Revolution der Druckerpresse, die Gelehrtenrepublik, der Öffentliche Raum, die Aufklärung, Demokratie und die Industrielle Revolution).

Zuvor schon war die Rede von den ... (1)

... bekannten europäischen Marksteinen des Fortschritts: Kopernikanisches Weltbild, Newton'sches Weltbild, Naturgeschichte nach Linnae, Elektromagnetismus nach Maxwell.

Uns fällt aber heute am meisten ins Auge: "Republic of letters", "Republik der Gelehrten". Was für ein riesiges, gewaltiges Bild ersteht mit diesem kurzen Begriff: "Republic of letters".

Abb. 1: Portrait des Charles Alexandre de Calonne (1734-1802) (Wiki) - französischer Reformpolitiker und Finanzminister unter Ludwig XVI. - Gemälde der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki), die auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen hat, darunter mehrere der preußischen Königin Luise

Was für eine Zeit, als edelgesinnte Geister und Gemüter - über ganz Europa hinweg - eine unsichtbare Republik bildeten, eine Republik von Gelehrten und Schöngeistern, die in einer "anderen Zeit" lebten oder gar "zeitlos", die jedenfalls ihrer eigenen Zeit weit voraus waren, die den Niederungen des Alltags entwunden waren, die einem schöneren, größeren, edleren Zeitalter entgegen strebten - durch Wissenschaft und Forschung, durch Beschäftigung mit Kunst und Kunstgeschichte, mit Literatur und Literaturgeschichte, durch Liebe und Begeisterung für alles Edle und Schöne.

Oh, Republik der Gelehrten, komm wieder. Möchte man nicht in die Arme dieser Republik sinken, sich in sie fallen lassen, frei sein, edel sein, dem Fortschritt zugeneigt sein? Wozu soll man noch - - - "Reichsbürger" sein, wenn man Angehöriger einer Republik von Gelehrten sein kann?

Die Republik der Gelehrten geht auch noch über die schöngeistigen Tafelrunden, wie sie etwa am Hofe Friedrichs des Großen in Sanssouci stattgefunden haben, hinaus. Sie führt direkt in die Studierzimmer der Gelehrten selbst. All das "Zwischenmenschliche", all die - womöglich oberflächlichen - Neckereien, Heiterkeiten, all der Zank auch, der neckische oder ernsthaftere, all der Unfriede, all die äußere, aufreibende Unruhe der Zeit, die auch noch bis in manche Tafelrunde und in manchen Salon hinein geschwappt sein mögen, sie alle sind aus dieser "Republik" verbannt.

Hier brennt die ewige Sonne der Wahrheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Freiheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Schönheit.

In diese Republik werden nur jene Geister aufgenommen - und sie werden nur insoweit aufgenommen - als sie gleichen Willens sind, von gleicher innerer Freiheit erfüllt sind, von gleicher Hoffnung auf bessere Tage erfüllt sind, auf eine bessere Welt, von gleicher Sehnsucht nach "Zukunft", nach den Inseln der Seligen.

Abb. 2: Portrait der Madame de Polignac, der engsten Vertrauten Marie-Antoinette's (Wiki), gemalt 1782/83 von Élisabeth Vigée-Lebrun (heute im Palast von Versailles) - Zu jener Zeit stand die Madame de Polignac auf der Höhe ihres Einflusses, der ab 1785 zu schwinden begann

Nun gut, auch sonst wartet das besprochene Buch (1) offenbar mit einigen neuen Einsichten auf: Die Kopernikanische Wende ist durch die astronomischen Beschäftigungen im islamischen Bereich während des Mittelalters vorbereitet worden, die Newton'sche Wende durch Erkenntnisse, die nur durch Seefahrt und Seehandel zu gewinnen waren.

Das "Überleben des Stärkeren" des Charles Darwin hat sich im "Frontier"-Idealismus der US-amerikanischen Siedler wieder gefunden, insbesondere Marxisten haben sich für die Quantentheorie, Relativitätstheorie und Genetik begeistert. Das ist alles etwas plakativ, aber ein Körnchen Wahrheit könnte ja in allem darinnen sein.

Die Besprechung kommt zu dem Schluß, daß bei aller Einbindung der europäischen Wissenschaftsgeschichte in außereuropäische Bezüge sie dennoch "eurozentrisch" bleibt (1):

Auch fast alle nicht-europäischen Forscher, die hervorgehoben werden, sind entweder an europäischen oder US-amerikanischen Instituten ausgebildet worden.

An Stelle solcher Erörterungen wäre ja eigentlich noch viel spannender zu erwähnen, daß es solche Republiken von Gelehrten auch im antiken Griechenland gegeben hat. Ganz Griechenland war voller Gelehrter und Philosophen und Künstler in einer Dichte, wie es zuvor und später nie wieder vorgekommen ist. Eine solche Republik von Gelehrten hat es schon im Tang-zeitlichen China oder früher gegeben. Und auch in anderen Hochkulturen. Die Möglichkeit einer "Republik von Gelehrten" ist nicht etwas spezifisch Europäisches. 

Abb. 3: Selbstportrait, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun (1790) (heute in den Uffizien in Florenz)

Aber in der Neuzeit stehen eben nicht mehr China oder Griechenland oder der Vordere Orient oder Indien an der Spitze der geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit, sondern Europa. 

Und was erfahren wir zusätzlich, wenn wir uns nur ein wenig umschauen zu dem Thema "Republic of letters", "Republik der Gelehrten"? 1774 etwa veröffentlichte der deutsche Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) (Wiki), der damals bei allen deutschen Dichtern hoch verehrte Dichter des "Messias", sein Buch "Die deutsche Gelehrtenrepublik". Goethe schrieb noch im gleichen Jahr dazu:

"Klopstocks herrliches Werk hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die einzige Poetik aller Zeiten und Völker. Die Einzigen Regeln die möglich sind!" 

Damals war noch Begeisterung in der Welt, Begeisterung für Tugend, Schönheit und Kunst. Wir erfahren (Wiki):

Klopstocks aufgeklärte Utopie "Die deutsche Gelehrtenrepublik" (1774) ist ein Konzept, das für die als regierungsunfähig angesehene Fürstenherrschaft eine gebildete Elite in die Macht einsetzt. Die Republik soll von "Aldermännern", "Zünften" und "dem Volke" regiert werden, wobei den ersteren - als den gelehrtesten - die größten Befugnisse zukommen sollten, Zünften und Volk entsprechend weniger. Der "Pöbel" hingegen bekäme höchstens einen "Schreier" auf dem Landtage, denn Klopstock traute dem Volk keine Volkssouveränität zu. Bildung ist in dieser Republik das höchste Gut und qualifiziert ihren Träger zu höheren Ämtern. Entsprechend dem gelehrsamen Umgang geht es in dieser Republik äußerst pazifistisch zu: Als Strafen zwischen den Gelehrten veranschlagt Klopstock Naserümpfen, Hohngelächter und Stirnrunzeln.

Da sehen wir also mit leichter Hand schon einen Gegen-Entwurf gezeichnet zu jener Art von Oligarchie, die heute in allen Teilen Europas und Amerikas "Demokratie" genannt zu werden beliebt. (Denn es sollte sich ja wohl inzwischen herumgesprochen haben, daß der Begriff "Demokratie" längst nicht mehr mit der Verfassungswirklichkeit übereinstimmt - wenn er es überhaupt jemals getan hat in der europäischen Neuzeit.)

Klopstock, de Calonne, Vigée-Lebrun

Wir binden als erstes Bild (zugleich Vorschaubild) in diesen Beitrag ein Portrait des französischen Reformpolitikers und Finanzministers unter Ludwig XVI. ein, Charles Alexandre de Calonne, geschaffen von der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki) (Abb. 1). Diese hat auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen. Darunter zum Beispiel auch mehrere der preußischen Königin Luise. Aber dieses Portrait des französischen Reformpolitikers mag aus ihren vielen schönen Bildern noch einmal besonders hervor stechen. Und genau deshalb stellt sich auch die Frage, was das da eigentlich für ein Mann war.

Abb. 4: Selbstportrait mit Tochter von Élisabeth Vigée-Lebrun (1786) (heute im Louvre)

Und man stellt fest: Dieser befähigte Staatsmann hätte, wenn König Ludwig XVI. ihn nicht zwei Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution entlassen hätte, diesselbe verhindern können! Und was für ein hinreißend schöner Mann war er zugleich! Zumindest auf dem Portrait dieser Künstlerin Vigée-Lebrun.

In ihrer Kunst ist auch sonst die ganze Seligkeit dieser Epoche eingefangen worden. Diese war eben nicht nur von wissenschaftlichem Wahrheitsdrang erfüllt, sondern auch von politischem Freiheitsdrang und von Sehnsucht nach Schönheit und dem Ausdruckgeben von Schönheit - in der Kunst. Wie erstaunlich, wie ungewöhnlich, dies alles in einer Zeit vereinigt zu sehen. Was für ein Wunder geradezu, wenn man darauf von heute aus blickt.

Wie weit, wie unendlich weit sind wir heute von all dem entfernt. Welche Fülle an begeisternden Gemälden hat allein diese eine französische Malerin geschaffen, eine Künstlerin, von der die meisten Leser vermutlich an dieser Stelle zum ersten mal erfahren - ebenso wie der Verfasser dieser Zeilen selbst erst gestern - durch reinen Zufall - auf ihre herrliche Kunst gestoßen ist. Ihre Gemälde, Portraits und Selbstportraits sind von so viel weiblichem und künstlerischem Selbstbewußtsein getragen. Man erkennt sofort: Eine selbstbewußte, emanzipierte Frau (Abb. 2-4). Und doch zugleich ist in diesen Gemälden so viel Zartheit, so viel Menschlichkeit enthalten, so viel weibliches Mitgefühl. Und wie jung diese Künstlerin war, als sie schon diese herrlichen Gemälde schuf.

Abb. 5: Portrait der venezianischen Schriftstellerin Gräfin Isabella Albrizzi-Teotochi (1760-1836) (Wiki), entstanden 1792, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun in Italien - nach ihrer Flucht aus Frankreich

Man erkennt sofort: Von diesem weiblichen Selbstbewußtsein war auch die Königin Luise erfüllt, die im Jahr 1801 in mehreren Porträts zum Gegenstand der Kunst der Vigée-Lebrun geworden ist. Auch sie war Reformpolitikern, auch sie gehörte den politisch fortschrittlichen Kräften ihrer Zeit an, auch auf ihr ruhten die Hoffnungen der Besten ihres Landes und ihres Volkes. Und sie war es, die den Plan hegte, Friedrich Schiller zum preußischen Minister zu ernennen. Und just in dieser Zeit starb Friedrich Schiller einen sehr frühen Tod! Und er erhielt in Jena ein sehr merkwürdiges Begräbnis. Und sein Schädel wird bis heute mit allem Eifer von der Wissenschaft gesucht.

Was für eine Zeit. Was für Schicksale. Unbegriffene Schicksale oder auch nur zum Teil begriffene. Wie viel Glanz, wie viel Schönheit, wie viel strahlende Selbstsicherheit selbst unter ihren weiblichen Künstlerinnen. Wie harmlos und selbstbewußt konnten auf den Bildern der Élisabeth Vigée-Lebrun alle Anzeichen weiblicher Schönheit und weiblichen Lebens zur Darstellung kommen?

Abb. 6: "Die unentschlossene Tugend" ("La Vertu Irresolue"), gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun schon 1775, also mit zwanzig Jahren

Wer möchte nicht in einer solchen Zeit gelebt haben - oder leben?

Eine Zeit, in der der wohlgeformte Busen einer Frau noch der wohlgeformte Busen einer Frau sein durfte, ohne daß das Anstoß erregte, ohne daß man durch das Zeigen desselben seine Kultiviertheit verlor (Abb. 5). Ganz so wie in der Antike.

Abb. 7: Portrait einer jungen Dame als Flora, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun

Eine Zeit, in der eine Frau, die in Bezug auf ihre Tugendhaftigkeit nicht so recht weiß, was sie will oder wollen sollte, so außerordenlich weiblich und mitfühlsam dargestellt werden konnte (Titel "La Vertu Irresolue", das heißt "Die unentschlossene Tugend", Abb. 6). Wie so außerordentlich menschlich dieses Zeitalter. Wie so außerordentlich fern aller Bigotterie.

Abb. 8: Portrait der Sophie von Trott als Bacchantin, gemalt Élisabeth Vigée-Lebrun (1785)

Eine Zeit, in der sich Frauen als Bacchantinnen portraitieren lassen konnten (Abb. 8). 

Und so führt der Weg der Suche nach der Wahrheit und der Freiheit in letzter Instanz immer wieder zurück zur Entdeckung der Schönheit und der Liebe. 

Welches Zeitalter sollte uns das eher bezeugen können als das Zeitalter der "Republic of letters" und als das Zeitalter einer Künstlerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun.

_____________

  1. Jorge Cañizares-Esguerra: Rethinking the “Western” revolution in science. Rez. von James Poskett's "Horizons: The Global Origins of Modern Science" (Mariner Books, 2022. 464 pp) In: Science, 28 Apr 2022, Vol 376, Issue 6592, p. 467, DOI: 10.1126/science.abo5229, https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.abo5229

Dienstag, 11. Januar 2022

Gott, du bist groß

Besinnung für Desillusionierte, Enthemmte und Verzweifelte
    An einem Ort, wo wir "schweigen" und "gehen, gerüsteter"

Es dürfte viel Sinn machen, sich damit abzufinden, daß wir in Ausnahmezeiten leben, daß uns echtes Glück nicht beschieden sein kann, daß wir in Zeiten leben, in denen das Schopenhauer-Wort gilt "Ein glückliches Leben ist unmöglich: Das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf." Und in denen das Rilke-Wort gilt: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles."

***

"Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles" - - - ? Woher stammt dieses Wort? Es ist das letzte Wort eines sehr langen Gedichtes. Eines Gedichtes, das "Requiem" heißt. Wer kennt heutzutage noch solche Dichtungen. Wir selbst jedenfalls nicht (1). Aus welchen Lebenszusammenhängen heraus mag Rilke dieses kurze - unsterbliche - Wort gedichtet haben?

Abb. 1: Das Gedicht "Requiem" ist offenbar - gemeinsam mit zwei anderen - 1919 das erste mal veröffentlicht worden

Das Gedicht "Requiem" ist 1908 entstanden. Es entstand, nachdem die nachgelassenen Gedichte von Wolf Graf von Kalckreuth (1887-1906) (Wiki) erschienen waren, eines jungen Dichters, der sich zwei Jahre zuvor mit 19 Jahren das Leben genommen hatte (2). Und zwar am Beginn seiner Militärzeit, ein Umstand, der auf Rilke noch einmal besonders gewirkt haben mag. Hatte doch auch Rilke selbst an seiner eigenen Militärzeit in seiner Jugend Zeit seines Lebens schwer gelitten. Während des Ersten Weltkrieges, als er erneut eingezogen wurde, erneut.

Wie sehr Rilke die Gedichte von Wolf von Kalckreuth schätzte, sollte noch 16 Jahre später deutlich werden. Der Hölderlin- und Goethe-Forscher Karl Viëtor (1892-1951) (Wiki) (3), der gerade seine Habilitation über die Geschichte der deutschen Ode beendet hatte, wollte eine Anthologie von Sonetten heraus geben. Viëtor schrieb 1924 an Rilke, um die Erlaubnis für einen Nachdruck von Sonetten Rilke's zu erlangen. Rilke gab diese. Er wies aber zugleich - und wie wir meinen: sehr vornehm - auf diese nachgelassenen Gedichte des Wolf von Kalckreuth hin (4, S. 876f):

Es sind außerordentlich schöne Sonette darunter .... Diese Frühvollendeten, die man so rasch vergißt, wären ja, mehr als andere, am Platz in einer solchen Auswahl.

1926 ist diese Anthologie dann erschienen (5). Unsere Absicht ist nicht, an dieser Stelle zu ermüden. Wir bringen aus dem längeren Gedicht "Requiem" von Rilke nur einige kurze Auszüge, um die Art deutlich zu machen, in der sich Rilke hier zum Ausdruck bringt, um die Gedanken deutlich zu machen, die ihn umtreiben. Nach zwei längeren ersten Absätzen beginnt der nächste mit den Worten:

O dieser Schlag, wie geht er durch das Weltall, 
wenn irgendwo vom harten scharfen Zugwind 
der Ungeduld ein Offenes ins Schloß fällt. 

Dann folgt ein Absatz, der mit den Worten beginnt: "Daß du zerstört hast". Diese Worte werden einige Zeilen später ein weiteres mal aufgegriffen:

Daß du zerstört hast. Blöcke lagen da, 
und in der Luft um sie war schon der Rhythmus 
von einem Bauwerk, kaum mehr zu verhalten; 
du gingst herum und sahst nicht ihre Ordnung ...

... Daß du zerstört hast.

"... Wäre einer dir begegnet ..."

Und einige Zeilen später heißt es:

                                       ... wäre einer, der 
beschäftigt war, im Innersten beschäftigt, 
dir still begegnet, da du stumm hinausgingst, 
die Tat zu tun -; ja hätte nur dein Weg 
vorbeigeführt an einer wachen Werkstatt, 
wo Männer hämmern, wo der Tag sich schlicht 
verwirklicht ...

In den weiteren Zeilen wird deutlich, daß Rilke eine klare Vorstellung hatte davon, wie sich der Dichter der Sprache und der Worte würde annehmen müssen. Viele Dichter wären beim Dichten zu wehleidig ...

... statt hart sich in die Worte zu verwandeln, 
wie sich der Steinmetz einer Kathedrale 
verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut. 

Es war dieser Selbstmord nicht das einzige Ereignis, das Rilke Anlaß gab, sich über den drohenden Selbstmord des Künstlers oder auch nur: seiner Kunst Gedanken zu machen.

Ähnliche Dinge beschäftigten ihn schon seit 1899, seit dem Jahr, in dem Tolstoi seine Schrift "Über moderne Kunst" herausgegeben hatte. In dieser Schrift war einem Pessimismus in Bezug auf die Bedeutung des Schaffens von Kunst und Kultur Ausdruck gegeben worden, der am Ende sogar in die völlige Ablehnung künstlerischen Schaffens mündete, der am Ende sogar der Musik Beethovens mit Ablehnung gegenüberstand. Diese Schrift war gewiß eine andere Art von "Zuflucht" eines Verzweifelten,  eine andere Art von Selbstmord. So ähnlich hat es zumindest Rilke gesehen. Rilke stand dieser Haltung das alternden Tolstoi, dieser Verleugnung seines vorherigen Strebens als Künstler in schroffer Ablehnung gegenüber.*)

"Blöcke lagen da ..."               ²)

Man möchte sagen, daß Rilke ein Heroe im Sinne des eingangs angeführten Schopenhauer-Zitates war. Rilke hat ausgehalten. Rilke hat sich - - - hingehalten. Ihn in diesem Sinne ein Vorbild zu nennen, wäre zu wenig. Und wie sehr werden wir bei diesem Gedicht von Rilke erinnert an jenes andere Bild eines Dichters, an Hölderlin's "Dichtermut" ...

... Wenn die Woge denn auch einen der Mutigen,
      Wo er getreulich getraut, schmeichelnd hinunterzieht,
        Und die Stimme des Sängers
          Nun in blauender Halle schweigt ...   

Denn es kommt ja nun schon öfter vor, daß Kulturschaffende an dem, was zu schaffen ist, zugrunde gehen. Hölderlin:

... Freudig starb er und noch klagen die Einsamen,
     Seine Haine, den Fall ihres Geliebtesten;
       Öfters tönet der Jungfrau
         Vom Gezweige sein freundlich Lied.
 
Wenn des Abends vorbei Einer der Unsern kommt,
  Wo der Bruder ihm sank, denket er manches wohl
    An der warnenden Stelle,
      Schweigt und gehet gerüsteter.

So mag anhand solcher Worte und Dichtungen in uns eine Ahnung wachsen: Hier liegen Aufgaben. Hier liegen Taten, Taten, die nicht getan sind. Hier liegen Bewährungen. 

Nicht dem Tod anheim fallen, der uns überall umgibt. Keine andere Aufgabe als diese.

Hatte nicht zu Hölderlins Zeiten jener Heinrich von Kleist sich das Leben genommen? Ein Tod, der schon damals in Dichterkreisen Unruhe auslöste? In Berlin, am Wannsee? "An warnender Stelle", wo andere - - - "schweigen" und "gehen, gerüsteter"?

Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.  

"Wo Männer hämmern"

Aber wir waren mit dem Lesen des Gedichtes "Requiem" von Rilke noch gar nicht zu Ende, in dem wir schon bis hier so viel gefunden hatten. Er spricht immer noch von dem Blick "in Werkstätten, wo Männer hämmern":

Dies war die Rettung. Hättest du nur ein Mal 
gesehn, wie Schicksal in die Verse eingeht 
und nicht zurückkommt, wie es drinnen Bild wird 
und nichts als Bild ....

Ein Dichter, der zum gültigen Schaffen fähig ist, spricht vom Dichten: Selbstmord soll Bild bleiben. Ein Bild, das hart in Stein zu meißeln wäre. In Worte. In ein Bild der Dichtung. Als eine Warnung. Aber: Nicht Tat. Bild. Ein Bild, über das zu sagen wäre:

                                        ... Mir ist das Herz
so schwer von dir wie von zu schwerem Anfang,
den man hinausschiebt. ...

Und nun noch die Schlußzeilen dieser Dichtung:

Die großen Worte aus den Zeiten, da 
Geschehn noch sichtbar war, sind nicht für uns. 
Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles. 

Und würde gerade eine Symphonie gespielt, müßte an dieser Stelle das gesamte Orchester schweigen ....

"Werkleute sind wir"

... Bis dann leise wieder eine Geige einsetzt und noch eine und noch eine ...:

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.
 
Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küßte, 
die strahlend und als ob sie Alles wüßte
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.
 
Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.
 
Gott, du bist groß


"... deine kommenden Konturen ..." ³)

Das eingangs angeführte Gedicht von Rilke ist 1908 in Paris entstanden. Das war in der Zeit, in der er - neben der Werkstatt Rodin's - als dessen Sekretär arbeitete. Er arbeitete also neben einer Werkstatt, wo "Blöcke" lagen.

Aber was bei diesem Bild von Werkstätten und Hämmern außerdem noch nachklingt, das sind diese anderen Worte, jene Worte, die wir zuletzt angeführt hatten: ... "Werkleute sind wir ...." 

Auch sie stammen von Rilke. Schon 1899 waren sie entstanden ....

***

Wer möchte Zweifel haben, daß Rilke Worte dichten konnte - - - als wären sie in Stein gemeißelt. Als müßten sie so - und nicht anders - da stehen. Als könnte jedes Wort nur an dieser einzigen Stelle stehen - und nirgendwo anders. Und als müßte der "Steinmetz", während er sie meißelt "sich verbissen umsetzen in des Steines Gleichmut".

Und was sagt er? Die großen Zeiten sind nicht für uns. Hör auf, lüstern nach "großen Zeiten" zu spähen. Hör auf, dich für besser, gediegener, überlegter und überlegener zu halten als du bist. Arbeite. Verbeiße dich. 

_________

*) Tolstoi's Schrift "Über moderne Kunst" von 1899 lag ihm lange Jahre lang quer im Magen und dieser Umstand stand auch im Hintergrund seiner beiden persönlichen Begegnungen mit Tolstoi 1899 und 1900. 1924 schließlich, nachdem Rilke seine eigenen "Duineser Elegien" geschaffen hatte, sein eigenes Hauptwerk, nannte er Tolstoi's Schrift "die schmähliche und törichte Broschüre" (6). 
 
___________
 
²) Blick in den Innenhof der Dombauhütte des Kölner Doms (Wiki) (Symboldbild)
³) Nordturm des Kölner Domes mit Gerüst (Wiki) (Symboldbild)

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  1. Rilke, Rainer Maria: Requiem. Insel-Verlag 1919, https://de.wikisource.org/wiki/Requiem_(Rainer_Maria_Rilke):Seite_25 (auch: Rilke.de)
  2. Wolf Graf von Kalckreuth: Gedichte. Insel-Verlag, Leipzig 1908,  https://www.projekt-gutenberg.org/kalckreu/gedichte/motto.html
  3. Zelle, Carsten, "Viëtor, Karl" in: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 802-803 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117416002.html#ndbcontent 
  4. Schnack, Ingeborg: Rilke-Chronik. Rainer Maria Rilke - Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875-1926, Insel-Verlag, Frankfurt/M. 2009
  5. Deutsche Sonette aus vier Jahrhunderten. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karl Viëtor, Euphorion Verlag, Berlin 1926
  6. "Meine geheimnisvolle Heimat" - Rilke und Rußland. Hrsg. von Thomas Schmidt. Insel Taschenbuch 2020