Dienstag, 23. Oktober 2018

Enterbte


Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte,
denen das Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört.
Denn auch das Nächste ist weit für die Menschen. Uns soll
dies nicht verwirren; es stärke in uns die Bewahrung
der noch erkannten Gestalt. - Dies stand einmal unter Menschen,
mitten im Schicksal stands, im vernichtenden, mitten
im Nichtwissen-Wohin stand es, wie seiend, und bog
Sterne zu sich aus gesicherten Himmeln. Engel,
dir noch zeig ich es, da! ...
....
                                                           Rainer Maria Rilke
- in der Siebten der Duineser Elegien, 1922 (Gutenberg)
Gesprochen wird hier von dem kulturellen Erbe, das in Form der in Jahrhunderten und Jahrtausenden geschaffenen Musik und Architektur hineinragt in unser 20. und 21. Jahrhundert, in unsere "dumpfe Umkehr der Welt" (Rilke), in unsere Zeit der "Todesnot des Gottesbewußtseins" (M. Ludendorff), in der wir "Enterbte" zu Millionen ein - schwer einzuordnendes - Dasein haben.

Dienstag, 9. Oktober 2018

"Du bist uns Künder längst vergangner Zeiten ..."

Der Reiter im Dom
Du bist uns Künder längst vergangner Zeiten,
Ein herrlich Sinnbild unsrer eignen Art,
Du heißt uns schweigend für die Freiheit streiten,
Daß Deutsches Wesen ewig rein bewahrt.

In weite Fernen ist dein Blick gerichtet,
Dich engt der Dom nicht, der dich rings umstellt,
Was unter dir auf Volk und Stolz verzichtet,
Das bleibt dir immer eine fremde Welt.

Noch wölkt der Weihrauch deinem Roß zu Füßen,
Noch weihn sich Deutsche einer fremden Macht,
Doch überall in Deutschen Landen grüßen
Dich freie Menschen, deren Blut erwacht.
                                                       Erich Limpach 
Der "Bamberger Reiter" (Wiki) - er wird schon seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten zu den bedeutendsten Werken der europäischen Kunstgeschichte gezählt. Seit seiner Entstehung steht er an einem Pfeiler inmitten des weiten, geräumigen Bamberger Domes. Er bildet um sich eine eigene Welt (Abb. 1 und 2).


Abb. 1: Der Bamberger Reiter (Wiki)

Immer wieder verlockt er zu fragen, in welcher gedanklichen Welt sich der unbekannte Künstler bewegte, der ihn schuf. Geschaffen und aufgestellt wurde er vermutlich im Jahr 1237. Das war dreißig Jahre, nachdem in Bamberg der deutsche König Philipp von Schwaben ermordet und beigesetzt worden war. Dieser war 25 Jahre zuvor von Kaiser Friedrich dem Zweiten in den Dom von Speyer umgebettet worden. Der deutsche Dichter Walter von der Vogelweide hatte zu Lebzeiten von Philipp von Schwaben der deutschen Sehnsucht nach würdevoller Herrschaft - im Angesicht der Zerrissenheit von Investiturstreit und staufisch-welfischem Thronstreit - immer wieder erneut Ausdruck verliehen.

Einen noch viel würdevolleren Ausdruck dieser Sehnsucht als er in den Dichtungen von Walter von der Vogelweide enthalten ist, schuf der unbekannte Künstler in Bamberg mit dem Bamberger Reiter.

Seit vielen Generationen gilt der Bamberger Reiter - zusammen mit der etwa zeitgleich in Naumburg entstandenen "Uta von Naumburg" (Wiki) - als ein Ausdruck des unverkennbar "Deutschen" in der Kunst. Er gilt als ein Ausdruck des deutschen Wesens, der deutschen Volksseele, des deutschen Volkscharakters, des auch womöglich eigentümlich deutschen Sehnens nach würdevollem Leben, würdevollem Herrschen, nach würdevollem Repräsentieren. Auf Wikipedia ist zu Uta von Naumberg festgehalten (Wiki):
Als Tonfiguren für den privaten Haushalt wurde sie oft zusammen mit dem Bamberger Reiter aufgehängt, Ikonen der Idealvorstellungen vom deutschen Mann und der edlen deutschen Frau.
Und genau so hängen sie bis heute auch in dem Haushalt der Eltern des Verfassers dieser Zeilen. Es fasziniert jedes mal aufs Neue, daß es ein solches Kunstwerk wie den Bamberger Reiter überhaupt gibt, daß es ein solches geben kann. Wie aus einer anderen Welt schaut dieses Kunstwerk zu uns herüber, als ob es eine eigene Welt für sich bilde.

Abb. 2: Der Bamberger Reiter (Wiki)

Wenn im eingangs gebrachten Gedicht die Phrase "deren Blut erwacht" ist, enthalten ist, so ist das ein Ausdruck wie er in den 1920er und 1930er Jahren in Deutschland üblich war. Es sollte das Erwachen der deutschen "Volksseele" damit gekennzeichnet sein, das Erwachen eines neuen Bewußtseins dafür, was es heißen könnte, deutsch zu sein, deutsch zu denken, deutsch zu fühlen, deutsch zu handeln.

Gebannt fahren Deutsche immer wieder aufs Neue nach Bamberg. Sie erfreuen sich der schönen Stadt mit ihrem schönen Fluß. Und sie stehen immer wieder erneut - erstaunt und erschüttert - im Dom und blicken hinauf und hinüber zu diesem "Künder längst vergangner Zeiten".

Der Reiter im Dom
Du bist uns Künder längst vergangner Zeiten,
Ein herrlich Sinnbild unsrer eignen Art,
Du heißt uns schweigend für die Freiheit streiten,
Daß Deutsches Wesen ewig rein bewahrt.

In weite Fernen ist dein Blick gerichtet,
Dich engt der Dom nicht, der dich rings umstellt,
Was unter dir auf Volk und Stolz verzichtet,
Das bleibt dir immer eine fremde Welt.

Noch wölkt der Weihrauch deinem Roß zu Füßen,
Noch weihn sich Deutsche einer fremden Macht,
Doch überall in Deutschen Landen grüßen
Dich freie Menschen, deren Blut erwacht.
                                                       Erich Limpach

Donnerstag, 19. Juli 2018

Eos, die Göttin der Morgenröte ...

... verehrt von unseren Vorfahren

Schon am Beginn der Bronzezeit haben unsere Vorfahren ähnlich empfunden wie offenbar noch viele Jahrtausende später die Dichter und Künstler (Abb. 1).


Abb. 1: Honoré Fragonard (1732-1806) - Die Göttin Aurora triumphiert über die Nacht (1755)

Laut einer Forschungsstudie aus dem Jahr 2018 haben sie Weihgaben für die Sonnen-Gottheit in der freien Natur abgelegt. Sie haben das offenbar am liebsten getan an Orten mit freiem Blick zum Sonnenaufgang, insbesondere am Tag der Sommer- oder der Wintersonnenwende (1).

Sorgfältig ausgewählte Bronze-Gegenstände wurden in der Frühen Bronzezeit in Schottland an auffallenden Orten innerhalb der Landschaft als Weihgaben für die Gottheit niedergelegt. Mehr als die Hälfte dieser Orte hatten direkte Sicht auf den Punkt des Sonnenaufgangs oder Sonnenuntergangs zur Winter- oder Sommersonnenwende. Diese Forschungsergebnisse erinnern daran, daß die Beobachtung von Sonnenauf- und -untergang an markanten Punkten in der Landschaft auch eine Rolle spielt etwa bei der Himmelsscheibe von Nebra (2).

Der Schwerpunkt scheint auf der Wintersonnenwende gelegen zu haben.

In einer früheren archäologischen Studie war schon dargelegt worden, daß diese Bronzegegenstände immer an hervorgehobenen Punkten der Landschaft niedergelegt worden waren, an landschaftlich schönen Punkten, auch in Grenzbereichen von Landschaften. Das heißt etwa am Übergang von Ackerland zu Weideland (3). Das wären alles Umstände, die bezeugen, daß unsere Vorfahren in der Bronzezeit Sinn für die Schönheiten der Landschaft hatten. 

Wenn es solche Sitten von Sachsen-Anhalt bis hinauf nach Schottland gegeben hat in der Frühen Bronzezeit, dann wird deutlich, von welcher Sehnsucht nach der Sonne die Menschen dieser Zeit beseelt gewesen sind, welche Verehrung sie ihr zugedacht haben.

In diese Verehrung reiht sich ja auch der "Sonnenwagen von Trundholm" (4) ein.

Es wäre das eine Verehrung, wie sie sich auch noch in der "Ilias" des Homer wiederfindet, wenn er etwa Eos, die Göttin der Morgenröte (Wiki) als „rosenfingrige Eos“ (ῥοδοδάκτυλος Ἠώς rhododaktylos Ēōs) bezeichnet.

Diese Sehnsucht nach der Sonne gab es in Mitteleuropa schon vor dem Eintreffen der Indogermanen. In zahlreichen Kreisgrabenanlagen - wie der von Goseck aus dem Mittelneolithikum - kann man am Tag der längsten Nacht beobachten, wie im Südwesttor die Sonne untergeht. Am Morgen danach geht die Sonne im Südosttor wieder auf (Wiki). Vermutlich haben die Indogermanen die Verehrung der Sonne in Mitteleuropa von den Vorgängerkulturen übernommen.

Ob sich Homer und/oder unsere bronzezeitlichen Vorfahren die Sonne und die Morgenröte so vorgestellt haben wie dies zur Darstellung gebracht worden ist im 18. Jahrhundert von dem französischen Maler Honoré Fragonard (Abb. 1), bleibe natürlich dahingestellt. 

Aber eine "rosenfingrige" Gottheit darf man sich so schon vorstellen, als Weib im Licht, während im Dunkel auf dem Boden noch die Nacht in letzten Träumen liegt - mit glühenden Bäckchen. Und dabei so viel rosiger Duft ausgebreitet über das gesamte Geschehen hinweg. Dunkle, stille, verhaltene Morgenstimmung eben.

Ergänzung, 21.2.2021: In der Besprechung zu einer Buchveröffentlichung zu dem Thema Metalldeponierungen in der Bronzezeit (5) wird deutlich, daß die Wissenschaft sich noch schwer tut, solche Deponierungen allein - oder vor allem - als Weihgaben an die Gottheit anzusehen. Es fällt ihr schwer, die Bronzezeit als eine Art Traumzeit anzusehen, als eine Art Märchenzeitalter, in der auch landschaftliche Schönheit im Alltagsleben und religiösen Leben keineswegs als so unwesentlich erachtet worden sein mag als uns das im Rückblick scheinen mag. 

_________________________________________ 

  1. The Placing of Early Bronze Age Metalwork Deposits: New Evidence from Scotland. By Richard Bradley, Chris Green, Aaron Watson. First published: 01 February 2018, Oxford Journal of Archaeology, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/ojoa.12135?campaign=woletoc& 
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Himmelsscheibe_von_Nebra 
  3. Bading, Ingo: Menschen aus der Bronzezeit hatten ein Auge für die Landschaft. 13.2.2018, https://plus.google.com/+IngoBading/posts/LzyU4J9NFgR 
  4. https://de.wikipedia.org/wiki/Sonnenwagen_von_Trundholm
  5. Augstein, Melanie (2020). Rezension zu: Fontijn, D. (2020). Economies of destruction: How the systematic destruction of valuables created value in Bronze Age Europe, c. 2300-500 BC. Abingdon: Routledge. Archäologische Informationen 43, Early View, online publiziert 12. Jan. 2021

Freitag, 30. März 2018

"Die wunderbar mächtige Pianistin"

Elly Ney - Die Musikkenner der Welt waren und sind von ihrem Klavierspiel begeistert

Dies ist die erweiterte Fassung 
eines −−> vor einem Jahr 
erschienenen Aufsatzes.

Vorbemerkung:
Es sei sehr gedankt für die freundlichen Auskünfte 
von Seiten der im folgenden genannten Zeitzeugen. 
Eine besondere Freude war es, daß die letzte lebende 
Enkeltochter von Elly Ney an diesem Beitrag Anteil 
genommen hat und uns deshalb Ende März 2017 
anschrieb und im Telefonat noch vieles sagen konnte, 
was hier dann aufgrund ihrer Angaben noch 
eingefügt wurde.
I.B.

Wer − und sei es auch nur durch Zufall − die Lebenserinnerungen der deutschen Konzertpianistin Elly Ney (1882−1962) (Wiki) in die Hände bekommt, kann neugierig werden auf ihren Inhalt (1). Und indem man dem Leben von Elly Ney hinterher fragt, wird einem erst bewußt, daß viele auch bedeutende Menschen des 20. Jahrhunderts von ihrem Klavierspiel begeistert waren. So sei auf die Bewunderung ihres Klavierspiels durch den deutschen Dichter Rainer Maria Rilke hingewiesen. Am 28. November 1918 fragte Rilke aus München eine Briefpartnerin, ob sie Elly Ney gehört habe (3, S. 608),

die wunderbar mächtige Pianistin.
Abb. 1: Die Totenmaske von Elly Ney, 1968
Bildhauer: Wilhelm Uhlig (geb. 1930)

Im Jahr 1918 war Elly Ney 36 Jahre alt. Drei Jahre später, am 26. Mai 1921, bedauerte Rilke in einem Brief an eine andere Briefpartnerin (Nanny Wunderly−Volkart), daß er das Konzert von Elly Ney in Zürich versäumt habe. Dabei habe er doch versprochen, sie überall zu hören (3, S. 729). Die Hochschätzung von Seiten Rilkes für Elly Ney wurde von dieser umgekehrt erwidert. Sie ließ noch in den 1960er Jahren ihre Tochter Eleonora, die Schauspielerin geworden war, vor und nach ihren Konzerten aus den "Duineser Elegien" von Rilke vorlesen.

Es wurde die Vermutung geäußert, daß diese gegenseitige Hochachtung auch auf einer persönlichen Begegnung beider beruht hätte (2, S. 35). Diese hätte stattgefunden in der Zeit, in der Rilkes "Fünf Gesänge" entstanden seien. Diese entstanden kurz nach Kriegsausbruch 1914. Zu dieser Zeit weilte Rilke aber − gemäß der Rilke−Chronik (27, S. 474−477) nicht in jenem Züricher Sanatorium des bekannten Arztes Dr. Bircher−Brenner, das verschiedentlich auch von Elly Ney aufgesucht worden ist wie sie in ihren Lebenserinnerungen berichtet.

Was steht in "Junge Welt" im Januar 2017 über Elly Ney?

Eine Woche, nachdem der vorliegende Aufsatz hier auf dem Blog am 14. Januar 2017 in der ersten Version veröffentlicht worden war, erschien in der "Jungen Welt" ein Aufsatz des dortigen Musikkritikers Stefan Siegert (37). Und dieser Aufsatz darf wohl als repräsentativ gelten für den derzeitigen Stand der Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Vermächtnis Elly Ney's. Der Widerstreit der Gefühle kommt in Worten wie den folgenden zum Ausdruck (37):

Man begreift es nicht: Wie kann eine so unendlich dumme Frau den zweiten Satz von Beethovens "Pathétique" - noch dazu auf einem modernen Flügel - so unendlich schön spielen?!

Lassen wir das Gerede von der "unendlich dummen Frau" - zumal vor dem Hintergrund der grenzenlosen Dummheit und Oberflächlichkeit im heutigen deutschen und europäischen Kulturleben - einmal beiseite: Die Begeisterung für das Klavierspiel von Elly Ney bleibt ein nicht hinweg zu denkender Bestandteil der deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts und so auch mehrer anderer Völker Europas und der Welt. Der noch bis vor wenigen Jahren sehr bekannte und allseits geschätzte deutsche Musikkritiker Joachim Kaiser brachte seine Bewunderung von Elly Ney in Worten wie den folgenden zum Ausdruck (laut Wikipedia):

Es war staunenswert, mit welcher Frische die Künstlerin das kraftvollste und strahlendste aller Beethoven-Konzerte auch in hohem Alter noch spielte. Technische Probleme interessierten sie nicht. Aber immer wieder versuchte sie, selbst im "Emperor"-Konzert, herauszuholen, worüber blendende Pianisten gern hinwegrollen: die Innigkeit.
Der Musikkritiker schreibt (38):
Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre sagte mir ein Freund und Kammermusikpartner von Elly Ney, die greise Pianistin habe lächelnd Beschwerde geführt, "der Herr Kaiser interessiert sich so sehr für die jungen Russen". 
Angesprochen war damit unter anderem der Russe Swjatoslaw Richter. Kaiser schreibt (38):
Pianisten wie (...) Elly Ney, denen hierzulande eine hohe, berechtigte Verehrung entgegengebracht wird, haben der Welt das Beispiel eines etwas weltfremden und sehr deutschen Idealtyps gegeben. Sie haben kultiviert, was man eine antivirtuose, "dramatische Innerlichkeit" nennen könnte.

Kaiser spricht von dem "deutschen" Beethoven-Spiel der Elly Ney und anderer deutscher Pianisten ihrer Zeit. Aber sind das nicht eigentlich alles nur Worte? Geht es nicht darum, einfach der Musik der Komponisten gerecht zu werden? Schöner ist womöglich noch, was Karl-Heinz Ott vor einem Jahr im Nachruf auf Joachim Kaiser selbst festgehalten hat (NZZ 2017):

Bereits während meiner Schulzeit saß ich halbe Tage mit seinem stattlichen Buch "Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten" vor dem Plattenspieler, um Aufnahmen (...) zu vergleichen. Was Kaiser dazu zu sagen hatte, stimmte immer. (...) Mit Kaiser in der Hand prüfte ich auch, ob man im Arietta-Satz der Sonate von op. 111 das tröstende Cis, von dem Thomas Mann im "Doktor Faustus" spricht, tatsächlich als solches hört. Und in der Tat, man hörte es, allerdings nur bei Elly Ney. Alle anderen konnte man vergessen (...). Sie spielten über dieses Cis hinweg, als handle es sich um eine bloße Übergangsnote.
Das sind dann womöglich doch mehr als Worte. Was er dann über Kaiser schreibt, hätte er wohl ebenso auch über Elly Ney selbst schreiben können (NZZ 2017):
Von Kaiser habe ich gelernt, daß alles aufs Detail ankommt, auf jeden halben Takt, jede einzelne Betonung. Bei ihm wird die einzelne Stelle zur Offenbarung, zum Prüfstein, zum Exempel fürs Ganze.

Ganz richtig wird von Kritikern angemerkt, daß der "biedere" Dokumentarfilm über Elly Ney von Fuhrmann (9) Joachim Kaiser hätte zu Wort kommen lassen sollen. Dann hätte man ein tiefenschärferes Urteil bekommen. Ja, auch der Autor dieser Zeilen hat solche genannten Lehren schon über "Kaisers Klassik-Kunde" auf Youtube erfahren können. Etwa hat er sich dort anregen lassen, Furtwängler zu hören (GAj2018). Jedenfalls dürften all das doch Aussagen sein, die Orientierung bieten. Aber schöner noch sind die Worte von Stefan Siegert über Elly Ney, von denen nur noch der folgende Satz zitiert sei (37):

Man hört ihr einfach gern zu, es wird nie langweilig, oft ist es himmlisch.

Und all das bleibt natürlich auch dann der Fall, wenn ihre kulturelle Wirkung seit 1945 - etwa in der genannten Fuhrmann-Dokumentation - klein geredet werden soll, weil sich Elly Ney - angeblich - auch künstlerisch diskreditiert hätte dadurch, daß sie in den 1930er Jahren Mitglied der NSDAP geworden ist und das völkische Weltbild dieser Zeit teilte. Es könnten ihr - nebenbei gesagt - diesbezüglich viele namhafte Persönlichkeiten an die Seite gestellt werden, die auch heute noch einen fast untadeligen Ruf besitzen. Nennen wir nur, um uns mit einem Beispiel zu begnügen: Walter Jens. Sollte damit nicht eigentlich jede weitere Diskussion beendet sein?

"Die Nation hat die Pflicht, dich vor jedem Unglück zu bewahren"

Für manche hat es aber offenbar dennoch mit Ideologie zu tun, wenn es um die Beurteilung geht, ob jemand ein bedeutender Musikinterpret ist oder nicht. An solche grobmaschigen Kriterien halten wir uns im vorliegenden Beitrag nicht. Für uns ist einfach das Urteil von Menschen wie Rainer Maria Rilke, Joachim Kaiser, Karl-Heinz Ott oder Stefan Siegert Orientierung. 

In den Anfangsjahren des Zweiten Weltkrieges lernte Elly Ney den deutschen Dichter Josef Weinheber (1892-1945) kennen. Auch dieser fühlte sich - wie Rilke - durch ihr Musizieren intensiv angesprochen (1, S. 198-209). Weinheber ist von vielen Zeitgenossen und Nachlebenden als legitimer Nachfolger Rainer Maria Rilkes empfunden worden (s.a.: 28). Und das keinesfalls ohne Berechtigung. Über ihre Zusammenarbeit mit Josef Weinheber erzählt Elly Ney (1, S. 199):

Später war ich so glücklich, in vielen österreichischen Städten Mozart, Schubert, Beethoven zu spielen, während er vor jedem Werk seine dem Komponisten gewidmeten Verse sprach. Zu Anfang las er das mir zugeeignete Gedicht.
Die Endzeilen dieses Gedichts lauten (Gedichte):
Da du die Kunst, o ihre ganze Glut
zur Mutter hast (ich stamm aus gleichem Schoße),
verlangt mich lang' schon, Schwester dich zu nennen.

Laß unsre Leben loh am Gott verbrennen,
zu bändigen das nam- und fassungslose
Geschehn im Schönen, das in sich beruht.

Vom Verfasser selbst wurde dieses Gedicht - offenbar zum ersten mal - vorgetragen während einem Konzert von Elly Ney im St. Pöltener Stadttheater anläßlich ihres sechzigsten Geburtstages im September 1942. Da dieses Gedicht vermutlich erst 1942 entstanden ist, ist es auch nicht enthalten in Weinhebers Gedichtbändchen "Kammermusik", das 1939 herausgekommen ist. Es enthält mehrere Gedichte, gerichtet an zeitgenössische Schriftsteller und Künstler. Elly Ney berichtet in ihren Lebenserinnerungen weiter über diese Konzerte während des Krieges (1, S. 199):

Die Nachsitzungen erstreckten sich immer bis zum frühen Morgen. - Es geschah, als wir in solch einer Stimmung zusammen waren, daß er mir den tragischen Gedanken an sein gewolltes baldiges Ende offenbarte, dem ich vergeblich zu begegnen suchte.
Abb. 2: Elly Ney, 1934

Der Frau Elly Ney offenbarten sich viele deutsche Kulturschaffende so sehr bis ins Persönlichste hinein wie diese es offenbar nur wenigen anderen Mitmenschen gegenüber getan haben. So auch Josef Weinheber. Vier, zum Teil sehr lange, inhaltsreiche Briefe von seiner Seite an Elly Ney werden in ihren Erinnerungen angeführt (1), geschrieben am 1. Januar 1942, 7. Dezember 1942, 16. Februar 1943 und 28. Juni 1944. Also alle in den grausigen Zeiten des Zweiten Weltkrieges. Diese erlebte Josef Weinheber mit jeder Faser mit. Bei diesen Briefen handelt es sich um erschütternde Bekenntnisse. Im ersten schreibt er, nachdem sie selbst im vorausgegangenen Brief von einem Unfall gesprochen hatte, der ihr zugestoßen war (zit. n. 1):

Deine Kunst ist so kostbar, so einmalig, daß die Nation die Pflicht hat, Dich vor jedem Unglück zu bewahren. (...) Ich bitte Dich - sozusagen im Namen der Nation -, Dich zu pflegen. Vor einigen Tagen habe ich die Stimme Carusos im Radio gehört. Ich war zutiefst erschüttert von dieser Herunterkunft des Göttlichen ins Menschliche. Er war ein leidenschaftlicher Mensch. Eben dieses zeichnet Dich aus.

Wer solchen Zusammenhängen nachgeht, findet auch die deutsche Dichterin Barbara Weidemann (geb. 1940), geboren und wohnhaft in Kassel und liest (Amaz):

Prägend für ihr künstlerisches Reifen war die frühe Begegnung mit der Pianistin Elly Ney und der Schriftstellerin Zenta Maurina.

Und von dieser Barbara Weidenmann nun findet man ein Gedicht, veröffentlicht spätestens 2012, das sie schrieb, wie eine Anmerkung verrät "nach einem Gespräch mit Elly Ney" (34):

Aus seinem Munde

Für Josef Weinheber

Du glaubst es kaum,
wenn ich dir sage,
daß die Sonne aufging
für eine vermißte Zeit −

Wir glaubten fest
an seine Versprechen
wie an einen Gott,
der uns Arbeit gab.

Wir glaubten fest
an seine Weltherrschaft
an einen neuen Geist,
der uns beflügelte –

Bis eines morgens
gestiefelte Soldaten
mich wachriefen
aus ahnungslosem Schlaf.

Von da an wußte ich,
daß ich nicht bleiben konnte,
denn unser Kreuz
hatte Haken bekommen –
So mußte ich gehen – 

Die entscheidende Anmerkung zu diesem Gedicht lautet "nach einem Gespräch mit Elly Ney". Soweit es verständlich wird, handelt dieses Gedicht vom Freitod Josef Weinhebers im Jahr 1945. Auf ihn kann eigentlich nur die Gedichtzeile "So mußte ich gehen" anspielen. Allerdings scheint hier eine Deutung von Elly Ney, bzw. Barbara Weidemanns vorzuherrschen. Hatte sich Barbara Weidemann zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Gedichtes genügend mit Josef Weinheber beschäftigt? Es sollte doch zu vermuten stehen, daß zumindest Weinheber nicht erst "gestiefelter Soldaten" bedurfte, um zu erkennen, daß dieses "Kreuz" der Leiden des deutschen Volkes einen "Haken" bekommen hatte. Zumindest der Sprache und Kulturpolitik des Dritten Reiches - und damit im Grunde dem Phänomen Drittes Reich insgesamt - stand Josef Weinheber (auch aus seiner selbstbewußten Haltung als Österreicher und Wiener) mit dem allergrößten Befremden gegenüber.

Aus diesen Gedichtzeilen hört man aber eher noch die Haltung von Elly Ney gegenüber dem Dritten Reich heraus, die sich von der Josef Weinhebers noch grundlegender unterschieden haben mag. Weinheber hat jedenfalls niemals an Adolf Hitler geglaubt "wie an einen Gott". Es war eher der völkische Aufbruch insgesamt, der durch Hitler verkörpert wurde, an den er geglaubt haben mag. Da Weinheber Hitler schon allein sprachlich ablehnte, lehnte er ihn gewiß auch als "Gott" ab. Allerdings mag das weniger die Haltung von Elly Ney gewesen sein.

Ney war auch befreundet mit dem Arbeiterdichter Heinrich Lersch (1889-1936) (1, S. 121-124). Sie bringt einen Brief von Lersch an sie vom 21. März 1918, aus dem die große Verbundenheit dieses Dichters ihr gegenüber hervorgeht. Auch dies ist ein Bekenntnisbrief. Die Dichterin Agnes Miegel (1879-1964) widmete ihr ebenfalls ein Gedicht ("An Elly Ney"). Und die lettische Schriftstellerin Zenta Maurina (1897-1979) veröffentlichte 1956 eine Schrift "Begegnung mit Elly Ney − Eine Danksagung" (4).

"Wie ein Sturm ist menschliches Leid"

1952 veröffentlichte der Schriftsteller Otto Heuschele (1900-1996) (Wiki) einen Band mit Schriftstellerbriefen, die er vermutlich selbst von diesen erhalten hatte (35). 1991 wurde über diese Briefe festgehalten (36):

Aus allen Briefen spricht ein reines und starkes Menschentum, "das sich mutig zum Glauben an ein geistig geführtes Leben bekennt".
Und es wird aus diesen Briefen festgehalten (36):
Elly Ney spricht vom Leiden (Brief vom 16.9.1951) und zitiert Weinheber: "Wie ein Sturm ist menschliches Leid." (S. 126)

Menschen sind hier nicht mit nichtigen, trivialen - oder gar "dummen" - Dingen beschäftigt. Bestimmt nicht.

Briefzeugnisse

Auf den Internetseiten des Autographen-Handels findet sich immer wieder einmal mancher schöne Brief von Elly Ney oder an sie. Ganz willkürlich finden wir da, daß der deutsche Schriftsteller Hans Carossa (1878−1956) am 20. Januar 1942 ein Gedicht an Elly Ney sandte "Für Professor Elly Ney in herzlicher Verehrung mit allen guten Wünschen". (Wir bringen es im Anhang.) Wir finden da, daß am 9. Januar 1943 der deutsche Schriftsteller Hermann ‎Claudius (1878−1980), Urenkel von Matthias Claudius, Elly Ney von seinen "12 Monaten Bettlager" schrieb und daß er "doch wieder ins Krankenhaus" müsse. Auch er schickt ein Gedicht. (Wiederum unten im Anhang.) Wir finden, daß Elly Ney am 31. Juli 1949 auf einer Bildpostkarte an einen unbekannten Adressaten mit nur wenigen Worten im Grunde doch sehr viel sagt (Marelibri):

 ... vor zwei Tagen kehrte ich nach Hause zurück, nachdem ich ununterbrochen täglich spielte. Hier kann ich mich erst meiner Post widmen. Eben las ich Ihren so sehr warmherzigen Brief vom 18. Juli, der mich sehr bewegt und beglückt. Ich danke Ihnen von Herzen, und hoffe Ihnen das nächste Mal in Siegen die Hand zu drücken ... Umstehendes Bild wurde während des Spielens, als ich 1944 eine ganze Woche bei den Dresdner Studenten war, aufgenommen ... Für die ergreifenden Gedichte danke ich Ihnen. Ja, Kolbenheyers Schicksal ist furchtbar. Wie ist das möglich? Die Musik Beethovens bewahrt vor Verzweiflung ... von Herzen alles Gute wünschend bin ich mit guten Wünschen Ihre Elly Ney
Auf Wikipedia steht über den deutschen Schriftsteller Guido Kolbenheyer:
1948 stufte ihn die Münchner Spruchkammer als Belasteten ein; er wurde zu fünf Jahren Berufsverbot, dem Entzug des halben Vermögens und 180 Tagen Sonderarbeit verurteilt.
Auf diese Umstände werden sich die Worte von Elly Ney beziehen. Unter "Tutzing 8 XII 52" schrieb sie den folgenden Brief:
Sehr verehrte Frau Graney, verzeihen Sie mir bitte, daß ich, im Zweifel, frage ob Sie einen Dank von mir erhielten? Als ich in Wildungen versuchte Ihnen telefonisch zu danken, waren Sie schon abgereist −. Dann kamen viele Aufregungen: Buch, Geburtstag, unendlich viel Post, Tausende Briefe u. stets unterwegs. Ich habe es kaum bewältigt. Heute fällt mir Ihre Adresse in die Hände und so erlauben Sie mir bitte von Herzen für die so herrlichen Blumen zu danken mit guten Wünschen bin ich Ihre erg. Elly Ney
Ein Brief, der im Ton ohne Umwege anspricht. Nichts Erkünsteltes, nichts Oberflächliches. Auch ein willkürlich gefundener Brief von Hoogstraaten, des Ehemannes von Elly Ney sei noch gebracht. Unter "Tutzing, 13. IX. 1962" schreibt er an den Dramaturen Bruno von Niessen (1902−19081) (wobei nicht klar ist, worauf sich die Worte konkret beziehen, vielleicht auf eine Hochzeit):
Ja Brunocke was muß ich hören? Das ist ja fantastisch! Ich finde das einfach großartig und ich umarme Dich und Deine liebe Ursula herzlichst und schicke tausend Grüße und gute Wünsche. Wir schickten Euch aus unserer Küche zwar ein gemeinsames Telegramm aber Eure Anzeige schaut mich immer wieder an und so dacht ich, ich will doch auch noch persönlich - schriftlich gratulieren. Mein Krampus hat nur noch einen Arm, keine Beine, keine Hörnchen mehr. Tragisch gelt? Am 21. Sept. haben die Mammi und ich Konzert in Nürnberg. Sie spielt Brahms B-dur. [Der Cellist] Ludwig [Hölscher] und sein Neffe spielen das Doppelkonzert von Brahms, ich fange an mit den Haydn-Variationen.

"Geistesströmungen"

Nach ihrem Durchbruch − der etwa im Jahr 1911 erfolgte − spielte Elly Ney unter einer Vielzahl der bedeutendsten Dirigenten ihrer Zeit. In ihren Erinnerungen erwähnt sie mit besonderer Wertschätzung die folgenden Dirigenten: Arthur Nikisch, Fritz Steinbach, Felix Weingartner und Max Fiedler (1, S. 239−245). Aber sie stand auch in gutem Verhältnis zu den beiden bedeutendsten Komponisten ihrer Zeit, zu Richard Strauß und Hans Pfitzner.

Elly Ney hatte besonders in ihren ersten Lebensjahrzehnten ein umfangreiches Repertoire, das auch zeitgenössische Komponisten umfaßte. Um so älter sie wurde, um so mehr fokussierte sie sich auf die Wiedergabe der Klavierwerke von Ludwig van Beethoven. Da sie das Werk Beethovens als so wesentlich für ihre Zeit erachtete, gehörte sie dann auch zu den maßgeblichen Begründern der jährlichen Beethoven−Festspiele in Bonn.

Abb. 3: Elly Ney, Fotografie vielleicht von 1944 (?)

Nach ihrer Vorstellung sollte auf diesem jährlichen Festspiel nur Musik von Beethoven gespielt werden so wie in Bayreuth auf den alljährlichen Festspielen nur Musik von Richard Wagner zur Aufführung kommt (1, S. 216−227). Man hielt sich aber diesbezüglich nicht an ihre Vorstellungen.

Elly Ney war es auch, die in den 1950er Jahren unermüdlich Geldspenden sammelte für den Wiederaufbau der Bonner Beethoven−Halle.

Es kann gut sein, daß einem viele ernste Portrait−Fotografien Elly Ney's aus den 1930er und frühen 1940er Jahren besser gefallen als viele derselben aus der Zeit nach 1945 (s.u.a.: Gty. Bilder). Diese letzteren sind es heute ja vor allem, an die man sich erinnert, wenn es um Elly Ney geht (s. bspw. auch: Bach−Cantatas). Als besonders eindrucksvoll könnte ihre Totenmaske erachtet werden (Abb. 1). Sie wurde von dem Bildhauer Wilhelm Uhlig (geb. 1930) geschaffen (26).

Die Ereignisse des Jahres 1945 erschütterten Elly Ney zutiefst. Das klang schon oben an. Sie flüchtete sich in die Wallfahrtskirche "Wies". Dort spielte sie viele Tage und Wochen auf der Orgel (1). Ein zusätzlicher Grund war: Nach der Besetzung durch die Amerikaner erhielt sie von diesen für etwa fünf Jahre Aufführungsverbot (26). Das war der Grund, weshalb sie in dieser Zeit so viel in Kirchen gespielt hat. Denn das durfte sie. Und sie gab in dieser Zeit Hauskonzerte in der riesigen, uralten Fabrik in Tutzing, in der sie wohnte (26). Erst nachdem sie etwa 1950 öffentlich "bereut" hatte, sich mit den Nationalsozialisten eingelassen zu haben, erhielt sie wieder eine Auftrittsgenehmigung (26). Auf ihrem Wikipedia−Eintrag heißt es dazu (Stand 14.6.17):

Der 1952 amtierende Oberbürgermeister von Bonn, Peter Maria Busen, erklärte, Elly Ney habe ihm bei einem Besuch mündlich mitgeteilt, sie sei den Täuschungen des Nationalsozialismus erlegen wie andere und bedaure das tief und ehrlich. Mit Entsetzen habe sie später die Erkenntnis von dem verderblichen Einfluß des Nationalsozialismus und von seinen Verbrechen gewonnen. Bonn nahm nach dieser Einlassung ein Auftrittsverbot zurück. Zuvor hatte sich im Stadtrat von Bonn mehrfach die Fraktion der FDP für eine Aufhebung des Auftrittsverbots eingesetzt; eine Fürsprache des Ney−Bewunderers Theodor Heuß wird vermutet.
Sind das nicht klare Worte? Können sie ohne die Zustimmung von Elly Ney veröffentlicht worden sein? Was also verlangt man eigentlich von ihr? Es heißt nun weiter:
In ihrer Autobiografie ging Elly Ney nicht auf ihre nationalsozialistische Vergangenheit ein, eine öffentliche Erklärung und Distanzierung ist nicht bekannt. Das wird kontrovers als Scham oder Starrsinn beurteilt.

Ganz richtig ist diese Aussage nicht. Elly Ney schreibt durchaus von ihrer Erschütterung im Jahr 1945. Und als enge Geistesfreundin von Josef Weinheber darf man sicherlich davon ausgehen, daß sie den Zweiten Weltkrieg so erlebte wie dieser − mit allen Erschütterungen. Warum da dann noch mehr Worte darum machen als eh schon − bis heute − darum gemacht werden? Ist nicht Schweigen gegenüber all dem Leid der Menschen seit 1939 der größte Respekt gegenüber den Menschen und gegenüber dem Geschehen? Und sind nicht all die billigen Reden, all die billigen Bußübungen, die so leicht − und oft geradezu hohnlachend und lächerlich, jedenfalls allzu oft zutiefst heuchlerisch − politisch ausgeschlachtet werden, demgegenüber einer echten, im Kulturellen, in der Kunst wurzelnden Haltung absolut unangemessen? Spürt das niemand?

Elly Ney blieb äußerlich ihr Leben lang katholische Christin. Als solche hätte sie eigentlich mit den allgemein üblichen Bußübungen keine Probleme haben sollen. Nach solchen wird ja dann gewöhnlich auch fröhlich weiter das gemacht, was man gerade gebüßt hat. Und so ist ja auch nur die Weltgeschichte seit 1945 zu erklären ...

Daß Elly Ney öffentlich keine Worte darüber verlieren wollte, was sie im persönlichen Gespräch dem Bonner Oberbürgermeister gegenüber äußerte, das glauben wir den verständnislosen Nachgeborenen also durchaus erklären zu können. Wenn sie denn Erklärungen so durchaus nötig haben. Aber auch uns scheint schon wieder genug Worte darum gemacht worden zu sein.

Elly Ney übrigens interessierte sich nicht nur für katholisches Christentum, sondern für viele "Geistesströmungen" wie sie das nannte, ihrer Zeit. Sie beschäftigte sich mit der Weltanschauung Albert Schweitzers (1875−1965) und kam darüber mit ihm selbst aber auch mit Anhängern Albert Schweitzers (siehe unten) in enge Verbindung. Sie beschäftigte sich auch mit Strömungen des Buddhismus und lauschte den Worten von Krishnamurti, wenn dieser in Kontinental−Europa weilte. Auch Johannes Müller im Schloß Elmau in Oberbayern war ihr ein wichtiger geistiger Bezugspunkt. Man darf also ihre Haltung in moralischen Fragen durchaus als eine überlegte und reife ansehen.

Immer von jungen Menschen umgeben

Abb. 4: Heinrich Lersch
(Quelle: Münster.de)

Um so älter sie wurde, um so mehr ging sie wieder in die Kirche, erzählt ihre Enkeltochter (26). Auch hier hat man den Eindruck, daß das mit der Erschütterung des Jahres 1945 zusammen hängt. Als jüngerer Mensch wäre sie keine Kirchgängerin gewesen. Wer der Wirkung von Elly Ney nahe kommen will, muß sich die große menschliche Lebendigkeit vor Augen führen, die von Elly Ney sowohl als Mensch wie als Musikerin ausging. Und er muß sich die unheimliche Begeisterung verdeutlichen, die diese Lebendigkeit weckte, wohin immer sie kam. Auch noch in ihren Altersjahren war sie deshalb immer von jungen Menschen umgeben, so erzählt die Enkeltochter, die ebenso lebendig, lebenswarm von ihrer Großmutter erzählen kann wie diese Großmutter selbst gewesen sein wird (26). Eine Schar weiblicher Verehrerinnen opferte sich, so erzählt sie, für Elly Ney auf. Und auch noch um Jahrzehnte jüngere männliche Verehrer konnten sich in Elly Ney verlieben. − Und Elly Ney sich in sie. Immer wieder erlebte sie die große Liebe zu Männern, die deutlich jünger waren sie selbst, so erzählt die Enkeltochter (26). Christlich ist das im Grunde alles nicht, wenn man es recht bedenkt. Sie war im Handeln eine echte und rechte Heidin.

Obwohl auch ihr Ehemann seine Freundinnen hatte, wurden die jugendlichen Liebhaber von Elly Ney von ihrer Familie mitunter aber durchaus auch als Belastung empfunden. Denn Elly Ney tat aus dem ihr eigenen Überschwang aus Liebe sehr viel für diese. Sie gab sich eben einfach ganz, wie sich das für einen der Kultur voll aufgeschlossenen Menschen von selbst ergibt. Und auch die Familie sah trotz aller Stirnfalten, die sie mitunter zog, daß Elly Ney doch sehr glücklich war durch das Leben, das sie sich wählte (26).

Elly Ney's Tochter Eleonora hat aber auch eine sehr schwere Kindheit gehabt (26). Auch zu diesem Umstand übrigens gibt es von Elly Ney keine öffentlichen "Büßerübungen". (Sonderbar genug, daß nicht auch noch das Fehlen solcher ihr angekreidet wird.) Zur Betreuung ist ihre Tochter während der langen Konzertreisen ihrer Mutter immer wieder von einer hilfsbereiten Familie zur nächsten weitergegeben worden. Sie war einmal ein halbes Jahr hier, einmal ein halbes Jahr dort. Während man die Enkeltochter Elly Ney's darüber erzählen hört (26), fühlt man sich sofort an Clara Schumann erinnert und an die schweren Kindheitsjahre von "Clara's Kindern" (29). Erst als Eleonora 16 Jahre alt geworden war, wurde es auch für sie anders. Und auch dieser Umstand findet sich bei den Töchtern von Clara Schumann wieder. Und so wie die Töchter von Clara Schumann unendlich stolz waren auf ihre Mutter, so gilt auch dies für Eleonora. Eleonora hat ihre Mutter sehr geliebt. Kein Tag verging nach dem Tod von Elly Ney, an dem ihre Tochter nicht von ihrer Mutter sprach, so erzählt die Enkeltochter (26). Elly Ney weckte also − offensichtlich − bei fast allen Menschen, mit denen sie in nähere Berührung kam, sehr starke Emotionen.

Elly Ney − Clara Schumann

Und uns scheint es fast so, als ob die Lebensentscheidungen von Elly Ney und Clara Schumann gegenseitig erklärendes und erhellendes Licht aufeinander werfen können. Eine Mutter, die ihren Mitmenschen aufgrund ihrer Genialität so viel Lebendigkeit zu geben weiß, tut − wahrscheinlich − ein Unrecht, wenn sie das viele, das sie zu geben weiß, zu sehr allein in ihre Muttertätigkeit einfließen läßt. Aber das sei hier nur mit aller Zurückhaltung und Behutsamkeit gesagt. (Wir schreiben das, weil wir auch einen Aufsatz über Clara Schumann und ihre Kinder in Vorbereitung haben.)

Elly Ney's Tochter Eleonora erfuhr auch erst nach dem Tod ihrer Mutter, als sie ihre Tagebücher und Briefe (2, 30) herausgab, daß sie gar nicht die leibliche Tochter des Ehemannes von Elly Ney war, den sie als ihren Vater ansah, sondern einen der Musiker zum Vater hatte, mit denen Elly Ney lange Zeit ein Trio gebildet hatte (26). Dabei kann es sich also eigentlich nur um Fritz Otto Reitz gehandelt haben. Auch bezüglich dieses Umstandes sind Vergleiche mit Clara Schumann nahe liegend (wenn auch diesbezügliche Spekulationen bei Clara Schumann sehr viel Spekulatives an sich haben).

Die sich in allem zeigende, starke Emotionalität, die Elly Ney weckte, und die sie jederzeit und ganz unmittelbar zurück zu geben wußte, muß berücksichtigt werden, wenn man verstehen will, wie sie auf ihre Umwelt wirkte. Diese sich aus einem echten Künstlertum und aus echter Humanität ergebenden Leidenschaftlichkeit konnte deshalb auch in keiner Weise eine "Starallüre" oder "Attitüde" sein. Elly Ney ist, so hören wir gut heraus, immer eine Frau des Volkes geblieben mit dem rheinischen Dialekt ihrer Heimatstadt Bonn. Und sie bekannte sich auch ganz unbekümmert darum, was ihre Umwelt sagte, sowohl zum Tierschutz−Gedanken wie als Anhängerin der vegetarischen Ernährung (1, S. 254ff). Wenn man sie sprechen hört, hört man eine ganz "normal" sprechende Frau (5, 6).

Und es mag auch auffallend erscheinen, daß der Komponist Richard Strauß Elly Ney als die beste Deuterin seines Klavierkonzertes "Burleske" ansah. Aufgrund seines Wunsches wurde dieses Stück 1932 in einer ersten Tonaufnahme mit Elly Ney aufgenommen (Yt).

"Meinem lieben für alles Echte in der Musik aufgeschlossenen und begeisterungsfähigen Erhard"

Ihre ganz unkonventionelle, direkte Art spiegelt sich auch in kleinen Anekdoten wieder. Etwa 1964 lernte sie den damals 27-jährigen Erhard Mitschischek (geb. etwa 1937) kennen, der wie sie ein Anhänger Albert Schweitzers war. Mitschischek studierte damals in Tübingen. Und er berichtet (7):

Anläßlich eines Elly−Ney−Abends auf unserem Verbindungshaus "Igel" bat mich die Pianistin, ihr vorzuspielen ... Sie bot spontan kostenlosen Unterricht an, zwischendurch solle ich bei ihrem Mann, dem ehemaligen Dirigenten der New Yorker Philharmoniker, van Hoogstraten, die wichtigen Symphonien durcharbeiten. Ich brach die Hochschule sofort ab. Der Unterricht in Tutzing gehört zu den Kostbarkeiten meines Lebens. "Seelenverwandtschaft" attestierte mir die Tochter der beiden erst vor kurzem. 
Am 1. Januar 1965 schrieb Elly Ney ihm auf eine Fotografie (7):
Meinem lieben für alles Echte in der Musik aufgeschlossenen und begeisterungsfähigen Erhard − von Herzen verbunden Elly Ney 1.I.65
Dr. Mitschischek wurde Konzertpianist, Maler und Philosoph. In seinem Brotberuf aber wurde er erfolgreicher Augenarzt. Auf ihrem Wikipedia−Artikel steht (Stand: 14.6.17):
Ihr Klavierspiel, das in der Betonung des emotionalen Gehaltes des Kunstwerkes, ähnlich wie das ihrer Zeitgenossen Edwin Fischer oder Alfred Cortot, dem Interpretationsstil des 19. Jahrhunderts verpflichtet war und sich vom Klavierspiel späterer Generationen deutlich unterschied. (...) Ein charakteristisches Merkmal ihrer Klavierkunst, besonders in den späteren Jahren, waren die Einfachheit und Natürlichkeit, mit der sie spielte. Sie standen in Kontrast zu ihrem zeremoniellen, weihevollen Auftreten. Trotz des altersbedingten Nachlassens der Kräfte, arbeitete sie noch im hohen Alter an der Verbesserung ihrer Technik und der Ausschöpfung der gestalterischen Möglichkeiten des Klaviers. Diese Arbeit schloss auch die schwierigsten Werke der Klavierliteratur ein.
Elly Ney gab oft in ihren Konzerten Einführungen in die Musik, die sie spielte, wobei die Werke Beethovens einen besonderen Schwerpunkt darstellten. Die Verbindung von Wort und Musik, eine Darbietungsform, die sie schon in ihren frühen Jahren als Interpretin pflegte, diente nicht der musiktheoretischen Erläuterung der gespielten Werke, sondern sollte dem Zuhörer in künstlerischer Weise die Umwelt und Lebensumstände des Komponisten näherbringen, die zu dem Kunstwerk geführt haben, um so seinen geistig−emotionalen Gehalt zu verdeutlichen. Dieser Ansatz, Leben und Schaffen der Komponisten als Einheit aufzufassen und darzustellen, blieb eines der zentralen Anliegen Elly Neys während ihrer gesamten Laufbahn als Pianistin.

Wohnhaft in Tutzing wie Mathilde Ludendorff

1929, nachdem sie nach langjährigem USA−Aufenthalt nach Deutschland zurückkehrte, wählte sich Elly Ney Tutzing als Wohnsitz. Hier blieb insbesondere ihr soziales Engagement nach 1945 in Erinnerung. 1958 begründeten Elly Ney und ihr langjähriger Freund und Trio−Partner, der Cellist Ludwig Hoelscher, der ebenfalls in Tutzing lebte, die "Tutzinger Musiktage", die dreißig Jahre fort bestanden (33). Auch die heutigen "Tutzinger Brahmstage" beziehen sich auf sie (Tutzinger−Brahmstage.de):

Zur Erinnerung an die Tutzinger Jahre von Brahms hatte die weltberühmte Pianistin Elly Ney, ebenfalls eine Tutzingerin, 1958 die „Tutzinger Musiktage“ ins Leben gerufen.

Auch mehrere Menschen im Umfeld der damaligen Ludendorff−Bewegung erinnern sich an Elly Ney. Eine Zeitzeugin berichtet (31):

Erinnerungen:
1. Elly Ney in der Hamburger Musikhalle. Ich war noch keine 20 und erlebte das "Volk", das zu Elly Ney geströmt war. Alle Plätze ausverkauft. Gleich bei ihrem Auftritt staunte ich über die mütterliche Güte, mit der sie das "Volk" begrüßte. Am Ende kamen die Ovationen. Die Menschen strömten an den Rand der erhöht liegenden Bühne. Gütig schaute sie und gab eine Zugabe nach der anderen. Still stand das "Volk" zu ihren Füßen und lauschte.
2. In Tutzing, Hochschultagung mit Mathilde Ludendorff Ende der 1950er Jahre: Elly Ney wußte von der Ludendorff−Veranstaltung und spielte eigens für uns Ludendorffer in einem kleineren Saal (welcher? hab ich leider vergessen). Ob Mathilde Ludendorff unter uns Zuhörern war, weiß ich auch nicht mehr. Ich glaube nicht. Sie hatte mit über 80 auf der Tagung ein erkleckliches Pensum geleistet. Ich konnte damals kaum fassen, daß Elly Ney vor so einer verachteten Gesellschaft wie unserer ein Extra−Konzert gab, kostenlos, einfach aus ihrer Güte heraus.
Solche Zeitzeugen behielten auch in Erinnerung, daß der Sohn des namhafteren Ludendorff−Anhängers Fritz von Bodungen (gest. 1943) mit Namen Frithjof von Bodungen der langjährige Fahrer von Elly Ney war. Das Gerücht, daß
der sie unablässig begleitende und aufmerksam umsorgende Bodungen wohl Elly Neys Liebhaber
sei, wurde in diesem Kreis von dem Dichter Erich Limpach in großer Runde verbreitet (31) und erregte auch bei diesen Mitmenschen wieder einmal nicht nur eine Emotionalität, die durchweg von Zustimmung geprägt gewesen ist. Im letzten Jahr ist nun bekannt geworden, daß über diesen Frithjof von Bodungen vielstündige Tonbandaufnahmen der Gespräche überliefert sind, die er mit Elly Ney während der langen Autofahrten führte (8):
Zehn Jahre lang war Frithjof von Bodungen der Chauffeur der Pianistin Elly Ney. Im Auto unterhielt sie sich mit ihm über Gott und die Welt, ihre Musik und ihr Privatleben. Mit einem Mikrofon am Rückspiegel schnitt von Bodungen die Gespräche mit. Jetzt gibt es die einzigartige Tonbandaufzeichnung erstmals im Radio zu hören. Frithjof von Bodungen ist 22 Jahre alt, als er 1958 die über 50 Jahre ältere Pianistin kennenlernt − und ihr Chauffeur wird. Aber er ist viel mehr als das: Er ist ihr Vertrauter. Mit ihm verbringt Elly Ney mehr Zeit als mit ihren engsten Verwandten, er begleitet sie auf ihren Konzerttourneen bis zu ihrem Tod 1968. 18 Stunden Tonbandaufnahmen sind aus dieser Zeit übriggeblieben, die von Bodungen in seinem Haus am Starnberger See wie einen Schatz hütet.

Die hier benutzte Formulierung "bis zu ihrem Tod" ist wohl insofern nicht ganz richtig, als das Vertrauensverhältnis schon zwei Jahre vor ihrem Tod im Wesentlichen beendet gewesen sein soll (26). Im Januar 2017 haben wir Frithjof von Bodungen angerufen und ihm noch einige Fragen zu all diesen Dingen gestellt (25). Er sagt, daß sein Vater 1943 in Ostpreußen gestorben ist und seine Mutter mit den Kindern aus Ostpreußen geflüchtet ist. Auch seine Mutter sei Ludendorff−Anhängerin gewesen und habe gewünscht, daß ihre Kinder die Jugendveranstaltungen der Ludendorff−Bewegung besuchten. Er selbst habe das aber nur einige wenige male getan, weil er nur wenig Interesse dafür gehabt habe. Er erzählt auch, daß es keine persönlichen Kontakte zwischen Elly Ney und Mathilde Ludendorff − oder Frieda Stahl, der Konzertpianistin und Schwester Mathilde Ludendorffs − gegeben habe. Elly Ney habe − weil sie sich für vieles interessierte − auch einmal die eine oder andere Schrift von Mathilde Ludendorff gelesen, wie sie ihm später einmal erzählte. Mehr wäre da aber nicht gewesen.

Er vermutet, daß es − so haben wir ihn verstanden − auch eine gewisse "Rivalität" gegeben haben könnte zwischen Frieda Stahl und Elly Ney was beider Eigenschaft als Pianistinnen betrifft. Wir vermuten aber eher, daß Mathilde Ludendorff und ihre Schwester einfach gar keinen Anlaß sahen, der weltweit verehrten Elly Ney ihre Bekanntschaft anzutragen, wenn das nicht von ihrer Seite aus gekommen wäre.

Mathilde Ludendorff habe ja in Tutzing auch immer, so meint Frithjof von Bodungen, sehr zurückhaltend gelebt. So habe er es wahrgenommen. − Zur Persönlichkeit von Elly Ney insgesamt sagt er, daß sie eine "außergewöhnliche Naturbegabung" gehabt hätte, und daß sie sich ihre Karriere nach 1945 ganz in Eigenregie erarbeitet hätte, ganz ohne die Hilfe von Konzertagenturen, nur zusammen mit ihrer Sekretärin. Sie hätte auch nie hohe Eintritte genommen. Für sie war ihr Wirken ein Auftrag, Kunst an das Volk weiter zu geben.

Seine Tonbänder werden, so sagt er, Ende des Jahres 2017 zusammen mit dem Elly Ney−Film von Axel Fuhrmann (9) und zusammen mit seltenen Konzert−Aufnahmen (z. B. Beethoven op. 26) in einer Box zum Verkauf kommen. Frithjof von Bodungen ist immer noch innerlich sehr damit beschäftigt, daß Elly Ney bis heute so schlecht geredet wird um ihrer Nähe zum Naziregime willen.

Existenz als Kulturschaffender heute

Kehren wir aber − nach solchen Einzelheiten zur Biographie von Elly Ney − zu allgemeineren Fragen zurück. Sucht man sich heute ins Verhältnis zu setzen zu der Überlieferung unseres Kulturkreises und des Wollens, von dem diese Überlieferung getragen ist, eines Wollens, das dasselbe dann auch lebensvoll fortzusetzen im Stande ist, dann dürfte das Leben und Musizieren von Elly Ney kein sehr ungeeignet gewählter Ausgangspunkt sein.

Heute leben sicher Menschen mit ähnlicher Begabung wie sie Elly Ney oder wie sie andere Menschen ihrer Art in ihrer Generation hatten. Menschen vielleicht, die ihr sogar in dem einen oder anderen Charakter− und Wesenszug ähnlich sein mögen, Menschen aber zugleich, die heute diese Begabung nicht so wie Elly Ney selbst entfalten.

Und wer ein solches Geschehen persönlich erlebt, begreift es als ein aufwühlendes. Er fragt sich: Kann unsere Kultur fortbestehen, wenn die Begabten unserer und künftiger Generationen ihre Begabung nicht mehr entfalten? Die Erinnerung an das Leben und Wirken von Elly Ney sollte einen diesbezüglich eigentlich immer nur dazu entflammen, die von unserer Kultur einstmals errungene Höhe auch in unserer Generation − und damit auch für alle künftigen Generationen − zu halten. Dazu mag auch ein Zeitungsurteil über Elly Ney's späte Interpretationen aus dem Jahr 2003 ermutigen (32):

Hier huldigt eine Grande Dame des Klaviers derart beeindruckend ihren Hausgöttern Beethoven, Mozart und Schubert, dass man geneigt ist, die politischen Verfehlungen ihres Lebens rundheraus gering zu achten. Darin liegt für kritisch reflektierende Hörer ein Dilemma, das selbst unter weniger gestrengen historischen und moralischen Maßstäben kaum aufzulösen ist. Und dieser Zwiespalt wird eher mit jedem Takt größer − so einzigartig und tiefsinnig wirkt dieses Klavierspiel. Läßt man sich also dennoch darauf ein − nicht zuletzt eingedenk der Tatsache, daß große Kunst ihre eigene Wahrheit besitzt −, fühlt man sich unmittelbar in eine Zeit zurückversetzt, in der Pianisten noch ausgeprägte Individualisten und Charismatiker sein durften; als bloße Texttreue wenig, die beseelte Phrase, das gelungene Detail und die Stimmigkeit des Ausdrucks aber alles galten. (...)
Fast schon unerklärlich ist diese ungebrochene Gestaltungskraft bei der Beethoven−Platte, die als Glanzstück das gewaltige Adagio aus der "Hammerklaviersonate" enthält. (...) Dies ist eine große, dabei völlig uneitle Kunst, deren Magie man sich kaum entziehen kann.



_________________________________________ 
Mit Dank auch an die Besitzerin jenes 
Bücherschrankes, in dem der Autor dieser Zeilen 
die Lebenserinnerungen von Elly Ney entdeckte. 
__________________________________________ 
/Letzte Änderungen: 10.4., 1., 14.6.2017; 30.3.2018/



/ Anhang /

Am 20. Januar 1942 schreibt der deutsche Schriftsteller Hans Carossa (1878−1956) an Elly Ney folgende Zeilen (Marelibri):

Wer einem Wink folgt im Sein,
Vieles zu Einem erbaut,
stündlich prägt ihn der Stern,
und nach glühenden Jahren,
wenn wir irdisch erblinden,
reift eine größere Natur −
Für Professor Elly Ney in herzlicher Verehrung mit allen guten Wünschen
20. 1. 1942 Hans Carossa

Am 9. Januar 1943 schreibt der deutsche Schriftsteller Hermann ‎Claudius (1878−1980), der Urenkel von Matthias Claudius:

Liebe verehrte Elly Ney! Nun muß ich nach 12 Monaten Bettlager in Eschenhus doch wieder ins Krankenhaus (...) als Gruß ein Gedicht aus dem Lusamgärtlein−Manuskript −
Wenn sich der Abend niedersenkt,
Und man den Tag so überdenkt:
Warum, weshalb, wieso, wozu? −
Und sammelt langsam seine Ruh.
Und setzt sich auf die Gartenbank.
Und sagt dem Herrgott heimlich Dank −−−
Dann ist's mitunter − Gott verzeih! −
Als säße ER dir nebenbei (...)
Hermann Claudius

Der Gedichtband "Der Garten Lusam" wurde 1947 veröffentlicht. Seit 1937 war Elly Ney auch mit dem Bildhauer Arno Breker befreundet. Am 19. Juli 1949 hatte er in Berlin seinen 49. Geburtstag gefeiert und bedankte sich für ihre Geburtstagswünsche:

Wie sehr haben wir bedauert, daß wir Sie nicht an diesem Tag bei uns hatten. Bei dem 50. müssen wir es auf lange Sicht so vorbereiten, daß auch niemand fehlt. Wir hoffen auf baldiges Eintreffen in Berlin.


________________________________________________
  1. Ney, Elly: Erinnerungen und Betrachtungen. Mein Leben aus der Musik. Paul Pattloch Verlag, Aschaffenburg 1957 (4. Auflage); zuerst unter dem Titel "Ein Leben für die Musik", Franz Schneekluth , 1952
  2. Vogel, Heinrich: Aus den Tagebüchern von Elly Ney. Schneider, Tutzing 1979 (162 S.) (GB)
  3. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke − Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875−1926. Erweiterte Neuausgabe hrsg. v. R. Scharffenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009 (EA 1975)
  4. Maurina, Zenta: Begegnung mit Elly Ney. Eine Danksagung. Dietrich, Memmingen 1956, 1960 (3. Aufl.), 1964 (95 S.)
  5. Ney, Elly: Elly Ney spricht − Wie ich zu Beethoven kam. https://youtu.be/Dh8PojIaRHA
  6. Ney, Elly: Lesung des "Heiligenstätter Testaments" von Ludwig van Beethoven. 1936https://www.youtube.com/watch?v=qdN2iERNxFc
  7. Mitschischek, Erhard: Erinnerungen. Auf: http://www.dr-mitschischek.de/html/musiker.html [1.1.2017]
  8. Fuhrmann, Axel: Elly Ney und ihr Chauffeur − Tonbandprotokolle aus der Limousine. Radiofeature auf BR−Klassik, 11. Dezember 2015, https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/elly-ney-tonbandprotokolle-chauffeur-axel-fuhrmann-feature-100.html
  9. Fuhrmann, Axel: Mondscheinsonate − Die Volkspianistin Elly Ney. http://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-klassik/sendungen/mondscheinsonate-die-volkspianistin-elly-ney-100.html
  10. Ney, Elly: Klavierkonzert Nr. 1 von Frederic Chopin zusammen mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra unter der der Leitung ihres Ehemannes Willem van Hoogstraten, Aufnahme von 1930https://www.youtube.com/watch?v=XnzfEIfl_GQ
  11. Ney, Elly: Klavierkonzert Nr. 15 von W. A. Mozart zusammen mit dem Kammerorchester unter der Leitung ihres Ehemannes Willem van Hoogstraten, Aufnahme von 1935https://www.youtube.com/watch?v=E5VvCBYErDQ
  12. Ney, Elly: Mondscheinsonate von Ludwig van Beethoven, 1964. 1. und 2. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=IiR1v-AvU-Y, 3. und 4. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=5z-NlloM7TE 
  13. Ney, Elly: Nocture op. 48 von F. Chopin. Mitschnitt auf dem Brahmsfestival in Tutzing 1964https://www.youtube.com/watch?v=O570TUdYccQ
  14. Fuhrmann, Axel: Der Filmemacher im Gespräch mit Erhard Meyer−Galow. Jahreszeitengespräch im Chorforum Essen am 21.6.2015, https://www.youtube.com/watch?v=jR6gqYL3J48, 90'30
  15. Rolland, Romain: Ludwig van Beethoven. Rotapfel−Verlag, Zürich, Leipzig 1926 (51.−60.Tsd.)
  16. Siegfried: Elly Ney − Pathos, Pose oder Innerlichkeit? Auf: Tamino−Klassikforum.de, 17.8.2007, http://www.tamino-klassikforum.at/index.php?page=Thread&threadID=6272&pageNo=1&s=137e197bc2bae17355a25051e8bb13603893c777
  17. Stähle, Peter: Applaus und Krawall um die Pianistin − Bonn will sie nicht. In: Die Zeit, 9.4.1965, http://www.zeit.de/1965/15/na-amen-arme-elly-ney/komplettansicht 
  18. Kraus, Beate Angelika (Bonn): Elly Ney (1882−1968), Pianistin, Beethoven−Interpretin, Klavierpädagogin. Portal Rheinische Geschichte, 30.9.2010, http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/N/Seiten/EllyNey.aspx [22.12.2016]
  19. Hoffert, Hans D.: Elly Ney − Lebenslauf. Elly Ney und die Großen der Musikwelt ihrer Zeit. Auf: ProClassics, http://www.proclassics.de/kuenstler/elly-ney-lebenslauf/ u.a.
  20. Peter Brixius: Elly Ney − subjektiv verstandene Humanitas für rassetreue Deutsche. Cappricio Kultur−Forum, 30.8.2009, http://www.capriccio-kulturforum.de/index.php?thread/874-elly-ney-subjektiv-verstandene-humanitas-f%C3%BCr-rassetreue-deutsche/
  21. Hans Hinterkeuser: Elly Ney und Karlrobert Kreiten. Zwei Musiker unterm Hakenkreuz. Kid Verlag, Bonn 2016
  22. Worte des Dankes. Hans Schneider, Tutzing; s.a.: http://www.proclassics.de/kuenstler/elly-ney-die-letzten-konzerte-196768/
  23. Panofsky, Walter: Elly Ney − Ein Leben für die Musik. Text auf der Hülle zu der Schallplatte "Robert Schumann − Symphonische Etüden op. 13 − Elly Ney, Klavier", Aufnahme 1962, Colosseum Panothynamic, http://www.ebay.com/itm/LP-SCHUMANN-Symphonic-Etudes-op-13-Piano-Pieces-ELLY-NEY-COLOSSEUM-508-/291648613732?hash=item43e79cad64:g:-vwAAOSwHPlWgdLN
  24. Pidoll, Carl von: Elly Ney. Gedanken über ein Künstlertum. 2. Auflage. Heling, Leipzig 1943 (176 S.) 
  25. Freundliches Telefonat mit Frithjof von Bodungen am 6. Januar 2017
  26. Freundliches Telefonat mit der "Lieblings−Enkeltochter" von Elly Ney am 2. April 2017
  27. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke − Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875−1926. Erw. Neuausgabe hrsg. v. R. Scharffenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2009
  28. Schäfler, Wilhelm: Josef Weinheber (1892−1945). In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 78, März 1992, S. 18f, http://fuerkultur.blogspot.de/1992/03/josef-weinheber-1892-1945.html
  29. Schumann, Eugenie: Claras Kinder. Mit einem Nachwort von Eva Weissweiler. Dittrich−Verlag, Köln 1995 (als TB 1999)
  30. ‎Ney Elly:‎ ‎Briefwechsel mit Willem van Hoogstraten. Erster Band: 1910−1926.‎ ‎Schneider, Tutzing 1970 (322 S.)
  31. Email einer Zeitzeugin, Jahrgang 1935, in Hamburg aufgewachsen, vom 29.12.2016
  32. Wildhagen, Christian: Späte Aufnahmen von Elly Ney. In: Neue Züricher Zeitung, 16.4.2003, https://www.nzz.ch/article8MUUZ-1.240230
  33. 30 Jahre Tutzinger Musiktage. Ein Bericht. Hrsg. von der Gemeinde Tutzing. Schneider−Verlag, Tutzing 1987
  34. Weidemann, Barbara: Gedichte für Kollegen. 10 Jahre Lyrik am Sonntag. Literarischer Salon Gedichtzeile Kassel, Books on Demand 2012 (AmazGB)
  35. Heuschele, Otto: Briefe an einen jungen Deutschen 1934-1951. Stuttgart 1952
  36. Schön, Karl (geb. 1935, Verwaltungswirt [GB]): Ich und die Zukunft 1991. Arbeitsjournal. Gedanken, Erinnerungen, Notizen. Biorix 2014 (GB)  
  37. Siegert, Stefan: Man begreift es nicht. Große Kunst von dummen Leuten wie Elly Ney. Junge Welt, 31.07.2017, Seite 10 / Feuilleton, https://www.jungewelt.de/artikel/315438.man-begreift-es-nicht-gro%C3%9Fe-kunst-von-dummen-leuten-wie-elly-ney.html, https://stefan-siegert.de/ney-elly-nicht-die-einzige/
  38. Kaiser, Joachim: Große Pianisten in unserer Zeit. Piper Verlag, München 1972, viele Auflagen bis 2017 (GB)