Samstag, 25. März 2017

"Du seiest so allein in der schönen Welt ...."


Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind,

Ich dir noch kennbar bin, die Vergangenheit

O du Teilhaber meiner Leiden!

Einiges Gute bezeichnen dir kann,


So sage, wie erwartet die Freundin dich?

In jenen Gärten, da nach entsezlicher

Und dunkler Zeit wir uns gefunden?

Hier an den Strömen der heiligen Urwelt.


Das muß ich sagen, einiges Gutes war

In deinen Blicken, als in den Fernen du

Dich einmal fröhlich umgesehen

Immer verschlossener Mensch, mit finst'rem


Aussehn. Wie flossen Stunden dahin, wie still

War meine Seele über der Wahrheit, daß

Ich so getrennt gewesen wäre?

Ja! ich gestand es, ich war die deine.


Wahrhaftig! wie du alles Bekannte mir

In mein Gedächtniß bringen und schreiben willst,

Mit Briefen, so ergeht es mir auch

Daß ich Vergangenes alles sage.


War's Frühling? war es Sommer? die Nachtigall

Mit süßem Liede lebte mit Vögeln, die

Nicht ferne waren im Gebüsche

Und mit Gerüchen umgaben Bäum' uns.


Die klaren Gänge, nied'res Gesträuch und Sand

Auf dem wir traten, machten erfreulicher

Und lieblicher die Hyazinthe

Oder die Tulpe, Viole, Nelke.


Um Wänd und Mauern grünte der Epheu, grünt'

Ein selig Dunkel hoher Alleeen. Oft

Des Abends, Morgens waren dort wir

Redeten manches und sah'n uns froh an.


In meinen Armen lebte der Jüngling auf,

Der, noch verlassen, aus den Gefilden kam,

Die er mir wies, mit einer Schwermut,

Aber die Namen der selt'nen Orte


Und alles Schöne hatt' er behalten, das

An seligen Gestaden, auch mir sehr wert

Im heimatlichen Lande blühet

Oder verborgen, aus hoher Aussicht,


Allwo das Meer auch einer beschauen kann,

Doch keiner sein will. Nehme vorlieb, und denk

An die, die noch vergnügt ist, darum,

Weil der entzückende Tag uns anschien,


Der mit Geständnis oder der Hände Druck

Anhub, der uns vereinet. Ach! wehe mir!

Es waren schöne Tage. Aber

Traurige Dämmerung folgte nachher.


Du seiest so allein in der schönen Welt,

Behauptest du mir immer, Geliebter! das

Weißt aber du nicht,

. . . . . . . . . . . . . . . . . .


Friedrich Hölderlin

 
***      ***     ***

Öffentlich bekannt gemacht worden ist dieses Gedicht erstmals 1921. Und zwar durch den Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath. Er hat es in seinen "Zwei Vorträgen" gebracht. In der von ihm herausgegebenen Hölderlin-Gesamtausgabe desselben Jahres hat es dann ebenfalls gebracht. (Digital zugänglich z. B. auch hier: U. Harsch.)

Wenig ist über die Entstehung dieses Gedichtes bekannt. 1983 heißt es in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe unter anderem (5), Hölderlin habe - gut bezeugt durch seinen Hausherren Zimmer - in den ersten Jahren seines Aufenthaltes im Tübinger Turm viele Gedichte geschrieben. Vermutet wird, daß zu dem wenigen, was sich von diesen vielen Gedichten erhalten hat, auch dieses Gedicht gehört. Und weiter erfahren wir:

Vermutlich spiegeln diese Ansätze den von Sinclair erwähnten Plan zu einem dritten Band des "Hyperion".
Einen dritten Band zu seinem Briefroman "Hyperion" wollte Hölderlin also noch schreiben. Wie kann da von "Geisteskrankheit" die Rede sein. Nein, er war bei voller und vollster Geisteskraft. In diesem dritten Band sollte nun Diotima offenbar aus der Schattenwelt an Hyperion einen solchen Brief schreiben. Wenn hier weitere Entwürfe verloren gegangen sein sollten, wären sie nicht die einzigen Werk-Entwürfe, deren Verbleib bis heute unbekannt geblieben ist. Ein ganzes fertig gestelltes Drama mit dem Titel "Agis" gilt als verloren. Womöglich sollte doch noch einmal überprüft werden, ob die vielen Verluste hinsichtlich des Werkes von Friedrich Hölderlin wirklich nur "fahrlässig" geschehen sind - wie bisher zumeist angenommen - oder ob sie nicht womöglich sogar sehr bewußt und systematisch zustande gekommen sind.*) 2010 war das von uns gebrachte Gedicht jedenfalls der Ausgangspunkt für eine neue Hölderlin-Studie von Seiten eines italienischen Germanisten (6). So wird der Inhalt und die These dieser Studie in einer Amazon-Rezension wiedergegeben:
Bevilacqua nimmt die Schizophrenie Hölderlins sehr ernst und dies ist für ihn einer der Gründe, die 51 Verse des Gedichtes "Wenn aus der Ferne" aus der Turmzeit nicht Hölderlin zu zuschreiben. Neben rein medizinischen Gründen führt der italienische Germanist aber auch eine Reihe stilistischer Gründe an, dieses Gedicht für etwas zu halten, was man heute Fälschung nennt. Dem steht die Schwierigkeit gegenüber, daß dieses Gedicht in der Handschrift Hölderlins überliefert ist. Mit kriminalistischem Spürsinn versucht Bevilacqua, diesen gewichtigen Grund als Gegenargument aus dem Weg zu räumen. Das Buch liest sich sehr spannend und da Argumente und Gegenargumente offen liegen, kann sich der Leser selbst ein gutes Bild machen, ob er der Argumentation Bevilacquas folgen will.
Welchen Drang einen solchen Germanisten beseelen könnte, ein solches Gedicht zu einer Fälschung zu erklären, ist dem Autor dieser Zeilen absolut unerfindlich. In einer anderen Amazon-Rezension zu dieser Studie (aus dem September 2011) liest man deshalb mit Genugtuung die beruhigenden Worte:
Die Überbewertung biografischer Daten führt zu Fehlinterpretationen, die dann als Beleg dafür benutzt werden, Hölderlin geistige Verwirrung zu unterstellen. Demnächst erscheint im ATHENA Vg. als 23. Band der "Beiträge zur Kulturwissenschaft" eine Gegendarstellung zum traditionellen Hölderlinbild, die vom Biografischen Abstand nimmt, das Wort des Dichters wieder in den Mittelpunkt stellt und Hölderlins Schaffen in allen Lebensphasen rehabilitiert.

Das Schaffen in den Mittelpunkt zu stellen, scheint also immer noch nötig zu sein (7). So mancher Hölderlin-Forscher - mit und seit Pierre Bertaux (4) - ist ja zu der Einsicht gekommen, daß Hölderlin gar nicht geisteskrank gewesen ist, sondern dies nur - nach den Worten des Hölderlin-Freundes Sinclair - eine “angenommene Äußerungsart” war, um sich der politischen Verfolgung, sowie den Zudringlichkeiten und Verständnislosigkeiten seiner Zeitgenossen, ja, auch seiner engsten Freunde zu entziehen. (Fast dasselbe ist übrigens der Inhalt seiner unvollendeten Tragödie "Empedokles".) Der einzige Mensch, der ihn voll verstanden hatte - Susette Gontard - war schon 1803 sehr plötzlich gestorben. (Sie war kurz vor ihrem Tod noch sehr gesund gewesen, war in Gesellschaft bewundert worden. Sie hatte sich dann bei den Röteln ihrer Kinder angesteckt und ist daran dann überraschend schnell gestorben.)

"Der Mann steht erstaunlich da"

Im Jahr 1990 hat die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" die Auseinandersetzung mit dem geistigen Erbe des deutschen Dichters und Philosophen Friedrich Hölderlin (1770-1843) begonnen (s. 9-12). Im vorliegenden Beitrag soll die Aufmerksamkeit auf zwei Lebenszeugnisse aus den Altersjahren Hölderlins gelenkt werden, Lebenszeugnisse aus jenen Jahren, in denen Hölderlin - angeblich - geisteskrank gewesen ist.  Das erste war das einleitend gebrachte Gedicht.

Abb. 1: Stahlstich von Xaver Steifensand nach einer Zeichnung von Wilhelm Kaulbach
zu "Wallenstein’s Tod" von Friedrich Schiller, erster Aufzug, erster Auftritt 

Auf ein zweites Lebenszeugnis Hölderlins soll nun die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Im Jahr 1841 besuchte der nachmalige Hölderlin-Biograph Christoph Theodor Schwab (1821-1883) Hölderlin mehrfach. Das war also zwanzig bis dreißig Jahre nach der Entstehung des einleitend gebrachten Gedichtes. Immer noch lebte Hölderlin in demselben Haus - nun bei der Tochter jenes Tischlers Zimmer, die sich anstelle ihres verstorbenen Vaters um Hölderlin kümmerte. Unter anderem berichtet Schwab (zit. n. 1, S. 18):

25. Febr. (...) Heute ging ich wieder hin. (...) Er war freundlich und sprach ziemlich viel und deutlich. (...) Zimmers Tochter erzählte mir, daß er an den neu herausgekommenen Stahlstichen von Kaulbach zu Schillers Werken in Einem Band, die man ihm zeigte, eine große Freude gehabt habe, besonders habe ihm die Szene aus Wallenstein (nach meiner Ansicht auch die beste) gefallen, er habe gesagt: "Der Mann steht erstaunlich da". Überhaupt hat er für Kunst noch viel Sinn und Urteil.

Die hier erwähnte Ausgabe von Stahlstichen war 1840 herausgekommen (2; s.a. 3). (Dieser Bericht Schwabs ist auch behandelt in der Frankfurter Ausgabe der Gesammelten Werke Hölderlins, Bd. 9, 1983, S. 336f.) Zu welchem Geschehen war dieses Bild die Erläuterung? Es handelt sich um Wallensteins Entschluß zu handeln. Wallenstein sagt über die ihm angeblich günstige Konstellation der Planeten (s. Wallensteins Tod):

Nicht Zeit ist's mehr zu brüten und zu sinnen,
Denn Jupiter, der glänzende, regiert
Und zieht das dunkel zubereitete Werk
Gewaltig in das Reich des Lichts - Jetzt muß
Gehandelt werden, schleunig, eh die Glücks-
Gestalt mir wieder wegflieht über'm Haupt,
Denn stets in Wandlung ist der Himmelsbogen.

Der Betrachter des Bildes sieht, daß dieser Entschluß Wallensteins zum Handeln zugleich sein Ende ist. Auch dieses Kunsturteil Hölderlins aus dem Jahr 1841 zeigt, daß er noch in seinen letzten Lebensjahren bei vollen Geisteskräften war.

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*) Friedrich Hölderlin war der Anreger und Jugendfreund Georg Friedrich Wilhelm Hegels, jenes Philosophen, der seit 1804 von Goethe und Niethammer weiter empfohlen wurde und im geistigen - und damit auch politischen Leben - von Jahr zu Jahr einflussreicher werden sollte. In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch von Bedeutung, dass Hölderlins Freund Sinclair schon 1815 "überraschend" mit 39 Jahren auf dem Wiener Kongreß starb, ebenso Hegel 1830 mit 61 Jahren. Über die Ursachen des Todes von Hegel ist sich die Forschung - wieder einmal - keineswegs einig.
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  1. Beck, Adolf: Aus den letzten Lebensjahren Hölderlins. Neue Dokumente. S. 15ff, http://www.hoelderlin-gesellschaft.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Jahrbuch_194849/194849_15.pdf 
  2. Stahlstiche zu Schiller’s Werken in Einem Bande nach Zeichnungen von W. Kaulbach. Stuttgart, Tübingen: Cotta, 1840. Bl. 7-8
  3. Schiller in Detmold Eine Ausstellung zum 200. Todestag des Klassikers. Auf: http://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/ausstellungen/ausstellung-2005-1/3-teil.html
  4. Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 1978
  5. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von D. E. Sattler. 20 Bde. und 3 Supplemente. Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 1975–2008 („Frankfurter Ausgabe“). Bd. 9: Dichtungen nach 1806, Mündliches. Verlag Roter Stern, Frankfurt am Main 1983, S. 37 (lesbar auf Google Bücher)
  6. Bevilacqua, Giuseppe: Eine Hölderlin-Frage. Wahnsinn und Poesie beim späten Hölderlin (Germanistische Texte und Studien) 2010 (Amaz.)
  7. Horowski, Reinhard: Hölderlin war nicht verrückt. Eine Streitschrift. Klöpfer & Meyer, (lesbar auf Google Bücher)
  8. Kreuzer, Johann (Hrsg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Springer-Verlag, Stuttgart 2016 (lesbar auf Google Bücher)
  9. Leupold, Hermin: Gedenken an Friedrich Hölderlin. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 68, Juli 1990, S. 1-3, http://fuerkultur.blogspot.com/1990/07/gedenken-friedrich-holderlin.html
  10. Schäfler, Wilhelm: Friedrich Hölderlin. Versuch zur Erfassung seines Werkes. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 69, September 1990, S. 21-24, http://fuerkultur.blogspot.de/1990/09/friedrich-holderlin.html
  11. Leupold, Hermin: Antworten auf Grundfragen zur menschlichen und kosmischen Existenz. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 71, Januar 1991, S. 1-4
  12. Leupold, Hermin (posthum): Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Aufsätze zur geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistheorie, zur Evolution des Weltalls und des Bewußtseins. Die Deutsche Volkshochschule, 23845 Bühnsdorf, 2001

Mittwoch, 1. März 2017

Die kalte Ratio und die vernunftmäßige Aufklärung können die modernen Gesellschaften für sich genommen nicht retten

"Fast jeder Überlegung geht ein gewisses bestimmendes Gefühl vorher, das bei glücklichen Gemütsbeschaffenheiten selten trügt, und das der Verstand nachher nur gleichsam ratifiziert."
Georg Lichtenberg (1742-1799) (Wiki
(in seinen "Sudelbüchern")

In diesem Zitat ist die Rede von einem vorrationalen Erahnen dessen, was dann erst hinterher rational vollständig verstanden und erkannt wird. Man könnte also im Anschluß an Lichtenberg sagen: Alles Wertvolle und Wesentliche im Menschenleben geschieht, bevor der Verstand (die Ratio), seine Unterschrift darunter setzt. Ratio ist - nach dieser Sichtweise - nur: "Unterschriftleisten". Die Aufgabe - insbesondere für Menschen mit "glücklicher Gemütsbeschaffenheit" - wäre also, die Aufmerksamkeit insbesondere auf das zu richten, was geschieht, bevor "die Unterschrift" geleistet wird. .... Und natürlich auch auf das, was geschieht, während man - ständig - mit "Unterschrift-Leisten" beschäftigt ist.

***

Die nichtrationale Seite der Wirklichkeit und ihre Erfahrung über das "Werterleben", sollte sie nicht nach und nach mehr in den Mittelpunkt der Bemühungen innerhalb einer alternativen Öffentlichkeit gestellt werden? Sollte über ihr Wesen nicht nach und nach intensiver nachgedacht werden? Sollte nicht allmählich ein Anfang gemacht werden damit, daß sie und ihr Wesen und ihre Ausdrucksformen erörtert werden?

Im Februar 2017 hatten wir einen Gedankenaustausch mit einem befreundeten Blogger innerhalb der alternativen Öffentlichkeit. Aus diesem Austausch werden im folgenden die wesentlicheren Gedanken gebracht, die dabei von unserer Seite aus vorgebracht wurden. Denn mitunter mag es leichter sein, in Rede und Widerrede Dinge von Bedeutung zu erörtern, als nur aus der eigenen inneren Kontemplation und Besinnung heraus.
/ Zu den folgenden Ausführungen ist dann gleich einen Tag nach Erstveröffentlichung eine Antwort veröffentlicht worden (3)./

Es sei also begonnen:

Eine klare Unterscheidung wäre zu treffen zwischen Vernunft-Erkenntnissen, wie sie in der Wissenschaft im Allgemeinen und auch im Alltags- und Berufsleben im Vordergrund stehen auf der einen Seite und einem Ahnen, Fühlen, sprich seelischen Erleben (oder: "Gotterleben") wie es von manchen Philosophen benannt wurde (z.B. Mathilde Ludendorff) andererseits. Die Meinung könnte entstehen, daß allmählich fast unübersehbar wird, daß die Völker der Nordhalbkugel so "klug", "intelligent", "aufgeklärt" - "aufgewacht" - sein mögen wie immer das zu wünschen sein mag: Solange nicht zugleich gewissermaßen auch ein im vorrationalen Bereich verwurzelter moralischer Wille vorhanden ist, als moderne Wissensgesellschaft überleben zu wollen, solange nicht der im vorrationalen Bereich verwurzelte Zorn vorhanden ist, solange nicht - gewissermaßen - eine im vorrationalen Bereich vorwurzelte "sittliche Reife" vorhanden ist, solange dennoch "infantile" Lebenshaltung vorherrscht, solange mag dennoch alle noch so wertvolle, bloß rationale Aufklärung wenig bewirken, könnte sie vielmehr ganz "verpuffen".  - Denn in sich einheitliche, geschlossene, moralisch integere Persönlichkeiten, die unbeugsam sind, weil tief beseelt, wären dann immer noch das, was fehlt.

Die kalte Ratio allein kann nicht die Retterin moderner Gesellschaften sein


Es ginge dabei also nicht um die Zahl der Anhänger und Abonnenten in erster Linie. Sondern es ginge darum, daß die inhaltliche Linie tadellos ist, daß Kultur vertreten wird - anstelle von Scheinkultur. Kultur nämlich als Ausdruck von Gotterleben oder von Gottahnen. Dies wäre dann die erste Priorität. Soweit übersehbar, sehen sich die meisten politischen Aufklärer heute immer noch nicht in erster Linie als echte Kulturrevolutionäre im tieferen Sinne, sondern bloß als Aufklärer (als "Truther").

Abb.: Der moderne Mensch in seiner Angefochtenheit
Vincent van Gogh, Selbstbildnis, Paris 1887
Aber fast alle großen gesellschaftlichen Bewegungen der Vergangenheit, die die Gesellschaft grundlegend zum Besseren hin verändert haben - etwa die Reformation des 16. Jahrhunderts, die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, das Humboldtsche Bildungsideal des 19. Jahrhunderts, die Lebensreform-Bewegung des 20. Jahrhunderts - waren gesellschaftsweite, geistig-moralische Wenden hin zum Besseren, und waren damit zugleich kulturelle Bewegungen, haben die moralischen Grundlagen der Gesellschaft selbst verändert oder versucht, das zu tun.

Für die Notwendigkeit eines solchen tieferliegenden kulturellen Ansatzes gibt es innerhalb der heutigen alternativen Öffentlichkeit, soweit übersehbar, bislang nur wenige Ansätze, ja, sogar nur wenig "Gespür". Nämlich daß hier ein weites Feld des Nachdenkens, der Erörterung überhaupt offen steht, ein weites Feld der philosophischen Klärung.

Lese man doch zum Beispiel die berühmten isländischen Sagas des Mittelalters (1). Sie gehören zur Weltliteratur (Wiki). In ihnen findet man viele Aspekte eines Menschseins der Zukunft. Denn der darin dargestellte vormittelalterliche Mensch war in sich nicht so gespalten wie der christliche, mittelalterliche Mensch, er war ein in sich geschlossenerer, einheitlicherer Mensch. Er hat aus einer großen Einheit, aus einem großen, in sich geschlossenen moralischen Wollen heraus gehandelt. Einem Wollen auch, zu dem es in der Gesellschaft, in der er lebte, zu jener Zeit auch gar keine Alternative gab. Diesbezüglich wäre alles bloße "Vernünfteln" sehr zweitrangig. Und es mag keinesfalls einfach sein, eine solche Einheit im Menschlichen wieder zu gewinnen. Vernunft-Konstruktionen aber würden bei einem solchen Bestreben wenig weiter helfen.

Oder soll behauptet werden, daß das Wesen von Kultur an sich durch Vernunft zu erfassen wäre? Also das Wesen von Schönem (was auch immer es sei), das Wesen von Wahrem, das Wesen von Gutem? Das Wesen, der Gehalt von auf das Wesentliche gerichteter Liebe und von entsprechendem Zorn, Veränderungswillen? Kommt man dem Wesen des Wahren zum Beispiel allein schon mit der Forderung nahe und schöpft es vollständig aus, wenn man sagt - - - es dürfe nicht gelogen werden?

Philosophisch mag man wenig interessiert sein. Dennoch aber könnte es eine Meinung geben dahingehend, daß jemand, dem es so angelegen ist, der Welt und der Menschheit zu einem besseren Zustand zu verhelfen - so wie das ja für so viele Autoren in der alternativen Öffentlichkeit gilt -, daß ein solcher Mensch sich dennoch wenigstens annäherungsweise ein richtiges Bild davon verschaffen sollte, was - zum Beispiel - einem Immanuel Kant Anliegen war, als er "Die Kritik der reinen Vernunft" schrieb und was den Philosophen des Deutschen Idealismus Anliegen war oder dem Philosophen Fichte in seinen "Reden an die deutsche Nation".

Gibt es nichts Wesentliches und Wertvolles, was durch die Vernunft nicht erfaßt werden kann?


Gibt es nichts Wesentliches und Wertvolles, was durch die Vernunft nicht erfaßt werden kann? Ist das nicht eine sehr grundlegende Frage? Ebenso zum Beispiel die Frage: Was ist der Sinn des Lebens? Wer hat auf solche Fragen eine Antwort? Wer stellt überhaupt nur die Frage? Könnte die Antwort auf eine solche Frage, würde sie überhaupt gestellt, wesenhaft eine bloße Vernunft-Antwort sein?

In der derzeit am besten bewerteten Amazon-Rezension zu Rüdiger Safranski's Schiller-Biographie heißt es:
Schillers Werke sind nämlich keineswegs von vorgestern, sondern sie haben nach wie vor eine hohe Aktualität und jeder, der sich in irgendeiner Form künstlerisch betätigt, sollte seine Kunstphilosophie kennen. Nicht umsonst heißt es in Schillers letztem vollendeten Werk, dem szenischen Gedicht "Die Huldigung der Künste":
Mich hält kein Band, mich fesselt keine Schranke,
Frei schwing ich mich durch alle Räume fort,
Mein unermeßlich Reich ist der Gedanke,
Und mein geflügelt Werkzeug ist das Wort,
vor allem aber "der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" (Über die ästhetische Erziehung des Menschen)." 
Mit diesem Zitat könnte gesagt sein: Das niedrige intellektuelle Niveau der heutigen Deutschen beklagen und einen deutschen Dichter und Denker wie Friedrich Schiller als "unmodern" bezeichnen, das paßt niemals zusammen. Niemals. Niemand wird die Völker der Nordhalbkugel und ihre fortgeschrittene Kultur retten können, der sich nicht zu einem Friedrich Schiller in seiner ganzen Bandbreite bekennt. Man darf es für Niveaulosigkeit sondergleichen halten, Dichter und Denker des 19. Jahrhunderts als solche und nur weil sie solche sind, schon abzuwerten. Man darf es als eine gewollte Frucht, der Umerziehung und der gesellschaftlichen Manipulation halten, wenn eine solche Entwurzelung aus der eigenen Kulturgeschichte sichtbar wird. Dazu darf - wiederum mit Schiller gesagt werden:
Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling bei Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern Alters und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu reinigen.
"Furchtbar wie Agamemnons Sohn - um es zu reinigen". Kulturelles deutsche Bildungsideal ist es also, seinem eigenen Jahrhundert so fremd zu sein wie nur immer möglich. Weil man als gebildeter Mensch um bessere, viel, viel bessere, kulturell und menschlich gehaltvollere, weil nichtchristliche, vorchristliche Jahrhunderte weiß. Warum soll eine solche These in irgendeiner Form "unmodern" sein oder unpassend in welchem Diskurs auch immer? Ist es zulässig, das 19. Jahrhundert oder überhaupt irgendein Jahrhundert, soweit es dessen ureigenste geistige, kulturelle Leistungen betrifft, abzuwerten - ?

Sind die deutschen Dichter und Philosophen des 19. Jahrhunderts - "unmodern"?


Könnte es nicht vielmehr sein, daß mancher Mitautor in der alternativen Öffentlichkeit, wenn man ihn auf Herz und Nieren prüft, immer noch - so "aufgewacht" er sich immer gerieren mag - als ein Produkt der Umerziehung herausstellt? Als jener kulturlose Barbar, zu denen Kommunismus und Kapitalismus die Menschen in Ost und West machen sollten und machten? Kulturlosigkeit - unter anderem bewirkt - durch jene akademische "Kultur der Kritik" des 20. Jahrhunderts (um einmal einen Buchtitel von Kevin MacDonald zu zitieren)? Auf vielen Blogs findet man allein nur den Namen Friedrich Schiller kein einziges mal genannt. Aber sehr häufig Namen der "westlichen" Popkultur des 20. Jahrhunderts (in der Regel der Zeit nach 1945). Und jetzt werden einem diese vielen Blogautoren sicher auch erklären (können), warum es so viel wertvoller und wesentlicher ist, sich mit Personen der Popkultur oder Schauspielern zu beschäftigen als - - - mit Friedrich Schiller.

Es ist ganz unglaublich, welche Antworten man mitunter auf die oben gestellten Fragen erhält, etwa auf die Frage danach, ob es etwas gibt, das nicht durch die Ratio erfaßt werden könne. Solche Antworten können mitunter recht grotesk platt, ungebildet und geschichtslos geurteilt klingen. Die parawissenschaftlichen Propagandalehren der "Kultur der Kritik" des 20. Jahrhunderts entstanden vermutlich aus dem Bemühen und der Tendenz heraus, den modernen Medienkonsum jeder echten Kultur zu berauben. Und dann mag tatsächlich solche barbarische Kulturlosigkeit heraus kommen.

Ihr Autoren der alternativen Öffentlichkeit! Wendet euch doch erst einmal dem echten Gehalt jener Kultur zu, in der ihr lebt. Beschäftigt Euch doch nicht immer nur mit Krimis. Seien es ausgedachte oder Krimis der Wirklichkeit. Sie haben mit Kultur schlichtweg nichts zu tun. Nichts. Goethe findet man auf einem dieser Blogs einmal erwähnt in dem Tenor, daß man sich auf Goethe und Fußball einigen könne als Minimalkonsens einer Gesellschaft. Sonst fällt der Name Goethe in vielen Jahren nicht ein einziges mal. Da stehen also Goethe und Fußball auf einer Ebene. Auch auf unserem eigenen Blog hier fallen solche Namen verzweifelt wenig.

Unsere Frage ist nicht, was heute Zustand ist und was heute - aufgrund von Machtverhältnissen und aus manipulativer Absicht heraus - für Kinos, Theater und für die Musikbeschallung der Massen produziert wird. Sondern wo der Bereich ist, aus dem heraus eine Erneuerung einer Gesellschaft allein bewerkstelligt werden kann. Und da sagen und behaupten und verteidigen wir, daß dieser Bereich im Wesentlichen ein Bereich jenseits der Ratio ist, und daß es als Kulturrevolutionär notwendig ist, sich zu befähigen, aus diesem Bereich heraus zu agieren. Die Ratio für sich genommen rettet uns nicht. Denn "der Mensch lebt nicht vom Brot allein", nicht von der Ratio allein. Überall dort, wo er zutiefst Mensch ist, steht eben nicht die Ratio im Vordergrund seines Seins.

Ein Sonnenuntergang ist durch Vernunft und Vernünfteln nicht adäquat zu erfassen. Mit Hilfe der Ratio kann der Naturwissenschaftler erklären, wie er physisch entsteht (Brechung von Lichtstrahlen durch Luftschichten, etc.). Über den ästhetischen Gehalt eines Sonnenuntergangs hat er mit dieser rationalen, völlig nüchternen Erklärung noch gar nichts gesagt. In einem frühen Blogbeitrag zitierten wir einmal ein Nietzsche-Zitat (das von Peter Sloterdijk gebracht worden war):
"Das verächtlichste Geschöpf unter der Sonne ist der Mensch ohne Sehnsucht."
Auch dazu ist zu sagen, daß Sehnsucht kein rationales Konzept ist, daß auch dieser Philosoph Friedrich Nietzsche die nichtrationale Seite der Wirklichkeit in den Vordergrund stellt. Und zu einem Konzept wie Sehnsucht weiß vermutlich keiner der vielen, von manchem zitierten Theoretiker der Postmoderne und der "Kultur der Kritik" auch nur irgend etwas wirklich Sinnvolles, Gehaltvolles zu sagen.


"Das verächtlichste Geschöpf unter der Sonne ist der Mensch ohne Sehnsucht"


Und in der Tat: es gibt unter den Philosophen und Denkern des 20. Jahrhunderts nur wenige, die gültig über die nichtrationale Seite der Wirklichkeit sprechen können. Deshalb ist über diese wenigen zu sprechen. Man hört sich ja gerne Alternativen zu diesen wenigen an. Es sind eben nur wenige bekannt. Wenn man weitere kennen lernen könnte, würde man sich darüber freuen. Dieter Henrich ist mit all seinen Hölderlin-Deutungen nicht schlecht. Sigrid Hunke ist mit "Europas andere Religion" nicht schlecht. Es gibt vieles, was den Stand der Philosophie des 20. Jahrhunderts, wie er durch Mathilde Ludendorff repräsentiert wird, ergänzt. Ersetzen kann diesen Stand kein weiterer Autor. Das möchten wir hier postulieren, nachdem wir uns lange genug im Reiche des Geistes umgetan haben.

Wer Kulturlosigkeit benennt und kritisiert, muss Alternativen kennen und benennen. Warum sonst alles nur zynisch benennen und kritisieren? Das wird mit der Zeit dumm und dumpf. Man will doch irgendwo hin mit seiner Kritik. Man will doch durch Kritik Platz schaffen für Besseres. Also muss das Bessere auch positiv benannt werden. Und ich will auch exakt den Grund nennen, warum es benannt werden muss: Weil wir ohne Wurzeln im Metaphysischen ständig weiter manipuliert werden und manipulierbar bleiben. Weil damit die Manipulation begann. Daß man uns aus dem Metaphysischen heraus riß. 

Wenn ich einen Weg aufzeigen will weg von der Manipulation, muß ich einen Weg aufzeigen hin zum Metaphysischen. Dort allein ist jene Kraft, die zu vielen Arten von Aushalten und Durchhalten befähigt, die den notwendigen "langen Atem" verleiht. Denn mit schnellen Erfolgen rechnete doch (und auch das nur bis vor wenigen Monaten) nur noch ein Björn Höcke. Die wesentliche Aufgabe ist also nicht: "Kritisiert die herrschenden Verhältnisse, lernt sie durchschauen". Das ist mehr oder weniger selbstverständlich. Nein, die wesentliche Aufgabe ist - in den Begriffen von Peter Sloterdijk die Auseinandersetzung um "Beseelungswissen". Wie ist Seele zu gewinnen, zu stärken in einer immer seelenloseren Gesellschaft? Wie kann Sehnsucht wachsen in einer Gesellschaft, in der alle Sehnsüchte immer seichter werden, immer weniger ins Vertikale gehen, sondern nur noch ins "Delta der Beliebigkeit" ins Horizontale? 

Aber dazu ist erstes Erfordernis anzuerkennen die Tatsache: All diese so wertvollen Eigenschaften sind nichtrational, werden durch den Versuch rationalen Erfassens entwürdigt, entweiht. Kritisieren und "entzaubern" können inzwischen Tausende von Autoren in der alternativen Öffentlichkeit. Und sie bewirken: Nichts. Es wird Zeit, den Blick ins Positive zu richten und zu fragen: Welchem positiven Gehalt muss man sich denn zuwenden, wenn das Negative in seiner ganzen Nacktheit und Bloßheit vor aller Augen stehen soll, damit es sich von selbst erledigt und niemand mehr großartige Analysen verfassen muss, die doch immer nur eines sagen, nämlich dass Lüge Lüge ist und Böses böse ist.

Das Wesen der Kunst und des Künstlerischen ist das Absichtslose. Das Wesentliche dessen, was die meisten analysieren in der alternativen Öffentlichkeit oder meinen analysieren zu müssen, ist das Manipulative. Oder unterstellt man etwa, Gestalten und Schauspieler der Popkultur wären durch reinen Zufall oder ohne Absicht zu dem geworden, was man von ihnen behaupten und unterstellen kann? Warum soll man sich dauernd und stetig, Jahre lang mit den irrwitzig gewordenen Absichten, Manipulations-Absichten irgendwelcher Spinner und Verbrecher beschäftigen - - - anstatt sich gleich dem Wesen der Kultur hinzuwenden, das nämlich darin besteht, nicht mit der Absicht herüberzukommen zu manipulieren.

"Man spürt die Absicht und ist verstimmt"


Daher ja auch kommt der schöne Satz "Man spürt die Absicht und ist verstimmt." Und auf wie viele Gelegenheiten ist er anwendbar.

Alles Menschliche, was nicht Kunst, was nicht Kultur ist (im Sinne der Deutung wie sie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts gegeben worden ist - aber auch wie es das Kulturbewusstsein des Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts sowieso schon ausgemacht hat), ist für die Erfüllung des menschlichen Lebens wertlos, wenn nicht sogar kontraproduktiv. Es lenkt von den wesentlichen Dingen ja erst ab.

Indem man sie noch großartig kritisiert, lenkt man ein weiteres mal die Aufmerksamkeit seiner Leserschaft auf Wertloses, anstatt sie gleich auf Wertvolles, Wertbehaftetes hinzulenken. Die meisten Figuren der Popkultur, der nach 1945 "lizensierten" und vom CIA geförderten Kultur können einen doch nur anekeln. Die zugrunde liegende Konstellation "Krimi" selbst zum Beispiel schon kann einen doch nur anekeln. Der Krimi ist doch übrigens ein "Kultur"-Produkt Englands des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wenn man das recht in Erinnerung hat. Der besserwisserische Gestus in fast allen Krimis kann einen doch nur anwidern. Der besserwisserische Gestus von Krimiautoren ebenfalls. Das ist doch die kulturlose Barbarei Englands, gegen die sich schon Heinrich Heine gewehrt hat, gegen die sich die Deutschen seit 1914 wehren.

Noch niemals hat irgend jemand behauptet, dass ein Krimi - in schriftlicher oder filmischer Form - etwas kulturell Wertvolles darstellen würde. Oder etwa doch? Krimis sprechen die Bedürfnisse nach "Sensation" beim "Konsumenten" an. Das Anliegen eines Friedrich Schiller in "Die ästhetische Erziehung des Menschen" ist ein gänzlich anderes. Ja, er hat auch "Der Geisterseher" geschrieben. Aber in dem Augenblick, in dem er merkte, dass das Interesse des Publikums am Fortgang der Geschichte ein anderes war, als er, Schiller, es selbst an der Fortentwicklung seiner Geschichte hatte, in dem Augenblick war ihm diese ganze Sache verleidet, hat er das Werk abgebrochen, ist es Fragment geblieben. Wie sehr möchte man so vielen Krimi-Autoren wünschen, dass sie diese künstlerische und menschliche Reife eines Friedrich Schiller auch besessen hätten oder besitzen würden und irgendwann einmal aufhören würden, "Fragmente" übrig lassen würden und sich dann auf Wertvolles konzentrieren würden.

Schiller hat sich über das Wesen von Kultur und Kunst Gedanken gemacht. Er war Kultur- und Kunstphilosoph, er war nicht ein Vertreter der so seichten, billigen "Kultur der Kritik" wie sie im 20. Jahrhundert so unglaubliche Ausmaße angenommen hat. Dabei war ihm das Theater "als moralische Anstalt" wichtig. Die moderne "Kultur der Kritik" ist doch eigentlich nur Kultur- und Kunstphilosophie entkleidet jedes Metaphysik-Bezuges, indem - zum Beispiel - gesagt wird: alle Medien und alle transportierten Inhalte sind gleichwertig. Sind sie nicht! :) Oh Gott, sie sind nicht gleichwertig! Hallo! Sie sind es nicht!!!

Vor 1945 wusste das jeder Mensch, der sich nur ein bisschen mit Kultur beschäftigt hat (und er hat das bestimmt nicht in Hitler- oder Goebbels-Reden gelernt). Und heute will man mit großartigen Bemühungen dartun, dass nicht alles gleichwertig ist, was in der Medienwelt geschieht, arbeitet aber einen starken, unhintergehbaren Kulturbegriff gar nicht heraus, der es erlauben würde, Kultur und Kunst von bloß manipulativer Medienwelt zu unterscheiden, von bloß manipulierbaren Konsumenten zu unterscheiden.

Damit bleibt alles manipulativ, auch nach der vorgelegten Analyse. Denn man hat ja nicht das Wesen dessen benannt, was nichtmanipulativ ist.


Wo fängt jenes Wesen der Kultur an, das nicht manipulativ und manipulierbar ist?


Wer hat sich eigentlich schon einmal mit dem Philosophen Wilhelm Dilthey beschäftigt? Er war der erste oder einer der ersten, der die grundlegend unterschiedlichen Herangehensweisen zwischen Geistes- und Naturwissenschaft herausgearbeitet hat. Auch bei ihm wird man feststellen, dass für ihn die nichtrationale Seite der Wirklichkeit im Zentrum des Erkenntnisanspruchs der Geisteswissenschaften steht. Aber wahrscheinlich ist er auch - - - "veraltet", seit die manipulierten und manipulativen parawissenschaftlichen akademischen Diskurse der "Kultur der Kritik" sich wie Gedanken-Viren ausgebreitet haben.

Dass in den letzten 100 Jahren in der Kunstphilosophie bleibende Neuerkenntnisse erlangt worden wären, womit will man das aufzeigen und begründen? Ist man von moderner Kunst- und Kunstphilosophie wirklich befriedigt? Ich merke, dass viele durch geschichtslose, parawissenschaftliche, akademische Diskurse im Umfeld der "Kultur der Kritik" heute viel zu sehr selbst umerzogen und manipuliert sind, um offen zu sein für die große Kunstphilosophie, die das antike Griechenland und die insbesondere Deutschland seit Johann Joachim Winckelmann hervorgebracht haben, und die man sich auch von Rüdiger Safranski referieren lassen kann, die der von uns verehrte Professor Rudolf Malter in Mainz referieren konnte, und an der man als wurzelloser und geschichtsloser Parawissenschaftler der "Kultur der Kritik" scheinbar keinen Anteil mehr nehmen kann oder will.

Bei vielen Äußerungen von Menschen in der alternativen Öffentlichkeit spürt man dann auch eine gewisse Abwertung des Kulturellen heraus in dem Sinne, dass es sich ja hier "nur" um - - - "Schöngeistiges" handeln würde. Die großen Künstler haben sich gegen diese Abwertung alle gewehrt. Sie hätten sich nicht für die Kunst, für die Kultur eingesetzt, wenn es "nur" etwas Abseitiges, "Schöngeistiges" wäre, was mit dem Lebensalltag, mit dem politischen Machtverhältnissen nichts zu tun hätte.

Die Kunst und die Kultur stehen mit dem gesamten Leben eines Volkes in allertiefstem Zusammenhang. Wenn sie es nicht tun, dann wäre das eben schon ein Zeichen dafür, dass es sich nicht um echteste Kunst oder Kultur handelt, sondern eben um Scheinkunst, um Machwerke. Scheinkunst und Machwerke freilich können "abseits" stehen. Sie werden von seelisch lebendigen Menschen nicht vermisst.

Es ist dem modernen, seelenlosen Menschen von heute schwer zu vermitteln, dass etwas so wenig Greifbares, "Handfestes" wie die Kunst und die Kultur etwas Wichtigeres sein soll, als die Politik, das Politische, das Wirtschaftliche. Es ist aber schlichtweg so. Zu sagen, eines Menschen Kulturverständnis wäre "19. Jahrhundert", tut einem Menschen, der zugleich tief im naturwissenschafltichen Wissen der Gegenwart verwurzelt ist, nicht weh. Was hätte das 20. Jahrhundert an Kulturellem zu bieten, was das 19. Jahrhundert aufwiegen würde? Was soll man da nennen? Der Expressionismus in der Malerei und Dichtung, auch noch die Neue Sachlichkeit. Aber was danach kommt, spricht in der Regel wenige an außer kleine exklusive Zirkel. Wer will denn - zum Beispiel - Zwölftonmusik hören?

Es ist also die Rede von Dingen, die ein reiches Innenleben erschließen. Diese sind unabhängig von "teuren" Musik- und Theateraufführungen. Bei so etwas handelt es sich nicht per se um etwas Elitäres. Die Lebensreformbewegung der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts bemühte sich vielfältig um "Kunst fürs Volk", auch die Arbeiterbewegung tat das, auch die Nazis taten das, viele Verlage taten das, bspw. Reclam, Diederichs. Die Namen sind im Grunde Legion. Und so lange ist das alles auch noch gar nicht her. Interessant allerdings, dass man an alles das heute erst wieder erinnern muss.

Es ist also verstärkt zu fragen nach heutiger Kultur, die reiches Innenleben erschließt. Nach solcher, die mich ernst macht, mich erschüttert, Katharsis bewirkt. Solche Dinge müssen Menschen doch wichtig sein, die gesellschaftlichen Wandel zum Besseren wollen.

Aber unser Zeitalter ist das Zeitalter des schrankenlosen Nihilismus, des Materialismus, des Atheismus. Das ist die kunst- und sinnfernste Zeit, die überhaupt nur denkbar ist. Es ist doch vermessen, ihr zu unterstellen, dass sie kulturell ähnlich fruchtbar wäre oder sein könne wie frühere Jahrzehnte und Jahrhunderte. Das geht doch gar nicht.

Niemand ist dazu aufgefordert worden, mit überkommenen, abgelebten Formen letztlich mittelalterlicher Religiosität zugleich auch das Kulturbewusstsein des Abendlandes - wie es sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts - unter den kulturbewussten Menschen herausgebildet hatte, über Bord zu werfen. Warum also tun wir es? Warum setzen wir diese lebendige Tradition nicht fort?

Es sind heute die Naturwissenschaften, die am sinnvollsten, weil am schärfsten umrissen vom nichtrationalen Bereich der Wirklichkeit sprechen


Insgesamt ist zu sagen: In diesen Ausführungen ging es vor allem darum, einen Standpunkt erst einmal zu formulieren, sozusagen ins "Unreine" hinein. Und es sollte dazu sicher noch angemerkt werden, dass eine argumentativ dichtere und gültigere Darstellung dieses Standpunktes in Buchform bereits vorliegt. Diese kann leicht unterschätzt werden in ihrem Gehalt (2). Dort wird dann auch klar heraus gearbeitet, in welchem Bereich man heutzutage am sinnvollsten und am schärfsten umrissen von einer „nichtrationalen Seite“ der Wirklichkeit überhaupt sprechen kann. Nämlich im Bereich der Naturwissenschaft: Relativitätstheorie, Quantentheorie, Komplexitätstheorie haben uns schon seit Jahrzehnten gesagt, dass es in der Natur klar umrissene nichtrationale Aspekte gibt, für die wir innerhalb unserer Ratio keine geeigneten Erkenntniswerkzeuge mehr haben, da unsere Ratio ein Ergebnis des evolutionären Prozesses hier auf der Erde ist und wir keine Werkzeuge zum Erkennen dieser Dinge brauchten, um hier auf dieser Erde zu überleben („Evolutionäre Erkenntnistheorie“). So wie Nicolai Hartmann, Konrad Lorenz an einer Erkenntnistheorie des naturwissenschaftlichen Erkennens gearbeitet haben, so muss nun auch eine Erkenntnistheorie für die nichtrationalen Aspekte der Wirklichkeit und unseres Erlebens erarbeitet werden. Erkenntniskategorien und Seinskategorien müssen aufeinander passen auch bezüglich der nichtrationalen Aspekte der Wirklichkeit, damit auch hier Erkenntnis - oder vielleicht besser: Einsicht, Nachvollzug - möglich wird. Hier hat die Philosophie des 20. Jahrhunderts (M. Ludendorff u.a.) schon mancherlei Vorarbeit geleistet (2).

Es sollte aber darauf hingewiesen werden, dass schon seit vielen Jahrzehnten an einer Erkenntnistheorie des nichtrationalen Bereiches gearbeitet wird, an einer Biologie des Wahren, Guten und Schönen und an der Erforschung dessen, wie das menschliche Erleben des Wahren, Guten und Schönen evoluiert ist, wie zum Beispiel Altruismus evoluiert ist, wie unsere Schönheitspräferenzen auf mannigfaltigen Gebieten evoluiert sind und wie schließlich auch unser rationaler Erkenntnisapparat (für die Erkenntnis des Wahren auf dem Gebiet des Rationalen) evoluiert ist. Auf dieser Basis ist durchaus ein naturwissenschaftsnaher Konsens zu formulieren, der über die individuelle nichtrationale Erfahrung des Einzelnen hinausgeht (2).

/Einleitung hinzugefügt, 
sowie Text überarbeitet:
August 2020 /

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  1. Sammlung Thule, Altnordische Dichtung und Prosa, Bde.1-24, herausgegeben von Felix Niedner und Gustav Neckel, Jena, 1912–1930, Bd. 10 Fünf Geschichten aus dem westlichen Nordland (Walter Heinrich Vogt, Frank Fischer)
  2. Leupold, Hermin: Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Die Deutsche Volkshochschule, Bühnsdorf 2001, 2014
  3. Hermsdorf, Daniel: Aufklärung, Irrationales, Seele - Antwort an Ingo Bading. Auf : filmdenken.de, 1. März 2017, http://filmdenken.de/aufklaerung-irrationales-seele-antwort-an-ingo-bading/