Samstag, 25. März 2017

"Du seiest so allein in der schönen Welt ...."


Wenn aus der Ferne, da wir geschieden sind,

Ich dir noch kennbar bin, die Vergangenheit

O du Teilhaber meiner Leiden!

Einiges Gute bezeichnen dir kann,


So sage, wie erwartet die Freundin dich?

In jenen Gärten, da nach entsezlicher

Und dunkler Zeit wir uns gefunden?

Hier an den Strömen der heiligen Urwelt.


Das muß ich sagen, einiges Gutes war

In deinen Blicken, als in den Fernen du

Dich einmal fröhlich umgesehen

Immer verschlossener Mensch, mit finst'rem


Aussehn. Wie flossen Stunden dahin, wie still

War meine Seele über der Wahrheit, daß

Ich so getrennt gewesen wäre?

Ja! ich gestand es, ich war die deine.


Wahrhaftig! wie du alles Bekannte mir

In mein Gedächtniß bringen und schreiben willst,

Mit Briefen, so ergeht es mir auch

Daß ich Vergangenes alles sage.


War's Frühling? war es Sommer? die Nachtigall

Mit süßem Liede lebte mit Vögeln, die

Nicht ferne waren im Gebüsche

Und mit Gerüchen umgaben Bäum' uns.


Die klaren Gänge, nied'res Gesträuch und Sand

Auf dem wir traten, machten erfreulicher

Und lieblicher die Hyazinthe

Oder die Tulpe, Viole, Nelke.


Um Wänd und Mauern grünte der Epheu, grünt'

Ein selig Dunkel hoher Alleeen. Oft

Des Abends, Morgens waren dort wir

Redeten manches und sah'n uns froh an.


In meinen Armen lebte der Jüngling auf,

Der, noch verlassen, aus den Gefilden kam,

Die er mir wies, mit einer Schwermut,

Aber die Namen der selt'nen Orte


Und alles Schöne hatt' er behalten, das

An seligen Gestaden, auch mir sehr wert

Im heimatlichen Lande blühet

Oder verborgen, aus hoher Aussicht,


Allwo das Meer auch einer beschauen kann,

Doch keiner sein will. Nehme vorlieb, und denk

An die, die noch vergnügt ist, darum,

Weil der entzückende Tag uns anschien,


Der mit Geständnis oder der Hände Druck

Anhub, der uns vereinet. Ach! wehe mir!

Es waren schöne Tage. Aber

Traurige Dämmerung folgte nachher.


Du seiest so allein in der schönen Welt,

Behauptest du mir immer, Geliebter! das

Weißt aber du nicht,

. . . . . . . . . . . . . . . . . .


Friedrich Hölderlin

 
***      ***     ***

Öffentlich bekannt gemacht worden ist dieses Gedicht erstmals 1921. Und zwar durch den Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath. Er hat es in seinen "Zwei Vorträgen" gebracht. In der von ihm herausgegebenen Hölderlin-Gesamtausgabe desselben Jahres hat es dann ebenfalls gebracht. (Digital zugänglich z. B. auch hier: U. Harsch.)

Wenig ist über die Entstehung dieses Gedichtes bekannt. 1983 heißt es in der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe unter anderem (5), Hölderlin habe - gut bezeugt durch seinen Hausherren Zimmer - in den ersten Jahren seines Aufenthaltes im Tübinger Turm viele Gedichte geschrieben. Vermutet wird, daß zu dem wenigen, was sich von diesen vielen Gedichten erhalten hat, auch dieses Gedicht gehört. Und weiter erfahren wir:

Vermutlich spiegeln diese Ansätze den von Sinclair erwähnten Plan zu einem dritten Band des "Hyperion".
Einen dritten Band zu seinem Briefroman "Hyperion" wollte Hölderlin also noch schreiben. Wie kann da von "Geisteskrankheit" die Rede sein. Nein, er war bei voller und vollster Geisteskraft. In diesem dritten Band sollte nun Diotima offenbar aus der Schattenwelt an Hyperion einen solchen Brief schreiben. Wenn hier weitere Entwürfe verloren gegangen sein sollten, wären sie nicht die einzigen Werk-Entwürfe, deren Verbleib bis heute unbekannt geblieben ist. Ein ganzes fertig gestelltes Drama mit dem Titel "Agis" gilt als verloren. Womöglich sollte doch noch einmal überprüft werden, ob die vielen Verluste hinsichtlich des Werkes von Friedrich Hölderlin wirklich nur "fahrlässig" geschehen sind - wie bisher zumeist angenommen - oder ob sie nicht womöglich sogar sehr bewußt und systematisch zustande gekommen sind.*) 2010 war das von uns gebrachte Gedicht jedenfalls der Ausgangspunkt für eine neue Hölderlin-Studie von Seiten eines italienischen Germanisten (6). So wird der Inhalt und die These dieser Studie in einer Amazon-Rezension wiedergegeben:
Bevilacqua nimmt die Schizophrenie Hölderlins sehr ernst und dies ist für ihn einer der Gründe, die 51 Verse des Gedichtes "Wenn aus der Ferne" aus der Turmzeit nicht Hölderlin zu zuschreiben. Neben rein medizinischen Gründen führt der italienische Germanist aber auch eine Reihe stilistischer Gründe an, dieses Gedicht für etwas zu halten, was man heute Fälschung nennt. Dem steht die Schwierigkeit gegenüber, daß dieses Gedicht in der Handschrift Hölderlins überliefert ist. Mit kriminalistischem Spürsinn versucht Bevilacqua, diesen gewichtigen Grund als Gegenargument aus dem Weg zu räumen. Das Buch liest sich sehr spannend und da Argumente und Gegenargumente offen liegen, kann sich der Leser selbst ein gutes Bild machen, ob er der Argumentation Bevilacquas folgen will.
Welchen Drang einen solchen Germanisten beseelen könnte, ein solches Gedicht zu einer Fälschung zu erklären, ist dem Autor dieser Zeilen absolut unerfindlich. In einer anderen Amazon-Rezension zu dieser Studie (aus dem September 2011) liest man deshalb mit Genugtuung die beruhigenden Worte:
Die Überbewertung biografischer Daten führt zu Fehlinterpretationen, die dann als Beleg dafür benutzt werden, Hölderlin geistige Verwirrung zu unterstellen. Demnächst erscheint im ATHENA Vg. als 23. Band der "Beiträge zur Kulturwissenschaft" eine Gegendarstellung zum traditionellen Hölderlinbild, die vom Biografischen Abstand nimmt, das Wort des Dichters wieder in den Mittelpunkt stellt und Hölderlins Schaffen in allen Lebensphasen rehabilitiert.

Das Schaffen in den Mittelpunkt zu stellen, scheint also immer noch nötig zu sein (7). So mancher Hölderlin-Forscher - mit und seit Pierre Bertaux (4) - ist ja zu der Einsicht gekommen, daß Hölderlin gar nicht geisteskrank gewesen ist, sondern dies nur - nach den Worten des Hölderlin-Freundes Sinclair - eine “angenommene Äußerungsart” war, um sich der politischen Verfolgung, sowie den Zudringlichkeiten und Verständnislosigkeiten seiner Zeitgenossen, ja, auch seiner engsten Freunde zu entziehen. (Fast dasselbe ist übrigens der Inhalt seiner unvollendeten Tragödie "Empedokles".) Der einzige Mensch, der ihn voll verstanden hatte - Susette Gontard - war schon 1803 sehr plötzlich gestorben. (Sie war kurz vor ihrem Tod noch sehr gesund gewesen, war in Gesellschaft bewundert worden. Sie hatte sich dann bei den Röteln ihrer Kinder angesteckt und ist daran dann überraschend schnell gestorben.)

"Der Mann steht erstaunlich da"

Im Jahr 1990 hat die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" die Auseinandersetzung mit dem geistigen Erbe des deutschen Dichters und Philosophen Friedrich Hölderlin (1770-1843) begonnen (s. 9-12). Im vorliegenden Beitrag soll die Aufmerksamkeit auf zwei Lebenszeugnisse aus den Altersjahren Hölderlins gelenkt werden, Lebenszeugnisse aus jenen Jahren, in denen Hölderlin - angeblich - geisteskrank gewesen ist.  Das erste war das einleitend gebrachte Gedicht.

Abb. 1: Stahlstich von Xaver Steifensand nach einer Zeichnung von Wilhelm Kaulbach
zu "Wallenstein’s Tod" von Friedrich Schiller, erster Aufzug, erster Auftritt 

Auf ein zweites Lebenszeugnis Hölderlins soll nun die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Im Jahr 1841 besuchte der nachmalige Hölderlin-Biograph Christoph Theodor Schwab (1821-1883) Hölderlin mehrfach. Das war also zwanzig bis dreißig Jahre nach der Entstehung des einleitend gebrachten Gedichtes. Immer noch lebte Hölderlin in demselben Haus - nun bei der Tochter jenes Tischlers Zimmer, die sich anstelle ihres verstorbenen Vaters um Hölderlin kümmerte. Unter anderem berichtet Schwab (zit. n. 1, S. 18):

25. Febr. (...) Heute ging ich wieder hin. (...) Er war freundlich und sprach ziemlich viel und deutlich. (...) Zimmers Tochter erzählte mir, daß er an den neu herausgekommenen Stahlstichen von Kaulbach zu Schillers Werken in Einem Band, die man ihm zeigte, eine große Freude gehabt habe, besonders habe ihm die Szene aus Wallenstein (nach meiner Ansicht auch die beste) gefallen, er habe gesagt: "Der Mann steht erstaunlich da". Überhaupt hat er für Kunst noch viel Sinn und Urteil.

Die hier erwähnte Ausgabe von Stahlstichen war 1840 herausgekommen (2; s.a. 3). (Dieser Bericht Schwabs ist auch behandelt in der Frankfurter Ausgabe der Gesammelten Werke Hölderlins, Bd. 9, 1983, S. 336f.) Zu welchem Geschehen war dieses Bild die Erläuterung? Es handelt sich um Wallensteins Entschluß zu handeln. Wallenstein sagt über die ihm angeblich günstige Konstellation der Planeten (s. Wallensteins Tod):

Nicht Zeit ist's mehr zu brüten und zu sinnen,
Denn Jupiter, der glänzende, regiert
Und zieht das dunkel zubereitete Werk
Gewaltig in das Reich des Lichts - Jetzt muß
Gehandelt werden, schleunig, eh die Glücks-
Gestalt mir wieder wegflieht über'm Haupt,
Denn stets in Wandlung ist der Himmelsbogen.

Der Betrachter des Bildes sieht, daß dieser Entschluß Wallensteins zum Handeln zugleich sein Ende ist. Auch dieses Kunsturteil Hölderlins aus dem Jahr 1841 zeigt, daß er noch in seinen letzten Lebensjahren bei vollen Geisteskräften war.

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*) Friedrich Hölderlin war der Anreger und Jugendfreund Georg Friedrich Wilhelm Hegels, jenes Philosophen, der seit 1804 von Goethe und Niethammer weiter empfohlen wurde und im geistigen - und damit auch politischen Leben - von Jahr zu Jahr einflussreicher werden sollte. In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch von Bedeutung, dass Hölderlins Freund Sinclair schon 1815 "überraschend" mit 39 Jahren auf dem Wiener Kongreß starb, ebenso Hegel 1830 mit 61 Jahren. Über die Ursachen des Todes von Hegel ist sich die Forschung - wieder einmal - keineswegs einig.
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  1. Beck, Adolf: Aus den letzten Lebensjahren Hölderlins. Neue Dokumente. S. 15ff, http://www.hoelderlin-gesellschaft.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Jahrbuch_194849/194849_15.pdf 
  2. Stahlstiche zu Schiller’s Werken in Einem Bande nach Zeichnungen von W. Kaulbach. Stuttgart, Tübingen: Cotta, 1840. Bl. 7-8
  3. Schiller in Detmold Eine Ausstellung zum 200. Todestag des Klassikers. Auf: http://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/ausstellungen/ausstellung-2005-1/3-teil.html
  4. Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 1978
  5. Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von D. E. Sattler. 20 Bde. und 3 Supplemente. Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 1975–2008 („Frankfurter Ausgabe“). Bd. 9: Dichtungen nach 1806, Mündliches. Verlag Roter Stern, Frankfurt am Main 1983, S. 37 (lesbar auf Google Bücher)
  6. Bevilacqua, Giuseppe: Eine Hölderlin-Frage. Wahnsinn und Poesie beim späten Hölderlin (Germanistische Texte und Studien) 2010 (Amaz.)
  7. Horowski, Reinhard: Hölderlin war nicht verrückt. Eine Streitschrift. Klöpfer & Meyer, (lesbar auf Google Bücher)
  8. Kreuzer, Johann (Hrsg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Springer-Verlag, Stuttgart 2016 (lesbar auf Google Bücher)
  9. Leupold, Hermin: Gedenken an Friedrich Hölderlin. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 68, Juli 1990, S. 1-3, http://fuerkultur.blogspot.com/1990/07/gedenken-friedrich-holderlin.html
  10. Schäfler, Wilhelm: Friedrich Hölderlin. Versuch zur Erfassung seines Werkes. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 69, September 1990, S. 21-24, http://fuerkultur.blogspot.de/1990/09/friedrich-holderlin.html
  11. Leupold, Hermin: Antworten auf Grundfragen zur menschlichen und kosmischen Existenz. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 71, Januar 1991, S. 1-4
  12. Leupold, Hermin (posthum): Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Aufsätze zur geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistheorie, zur Evolution des Weltalls und des Bewußtseins. Die Deutsche Volkshochschule, 23845 Bühnsdorf, 2001

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