Donnerstag, 23. November 2000

Was wollte Mathilde Ludendorff?

In der Geschichte der Philosophie gibt es nur wenige Philosophinnen. Mathilde Ludendorff (1877-1966) (Wiki) reiht sich unter diese ein. Ihre Philosophie entstand in der aufgewühlten Aufbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg - und zwar, wie sie schildert, in Reaktion auf Nachrichten über die Grausamkeiten der Russischen Revolution. Um eine durchgearbeitete Philosophie zu entwerfen, bedarf es aber natürlich noch mehr als solcher mehr tagespolitischer Anlässe.

Mathilde Ludendorff brachte als eine der ersten Frauen, die Medizin studiert hatten, eine solide wissenschaftliche und psychiatrische Ausbildung und berufliche Praxis mit, das heißt, sie stand auf der Höhe des naturwissenschaftlichen Wissens ihrer Zeit. Der bedeutende theoretische Physiker Arnold Sommerfeld, der Lehrer Werner Heisenbergs, attestierte ihr 1942, die schwierigen Erkenntnisse der modernen theoretischen Physik in - auch für ihn erstaunlich gelungener Weise - dargestellt zu haben. Der Ausgangspunkt für ihre Philosophie war aber nicht die theoretische Physik ihrer Zeit, sondern die Darwinsche Evolutionstheorie, die sie an der Universität durch einen ihrer bedeutendsten Vertreter in Deutschland, durch August Weismann, vermittelt bekommen hatte.

Prüfstein für die Richtigkeit einer Philosophie


In dem einleitenden Kapitel ihres Grundwerkes ("Triumph des Unsterblichkeitwillens") stellt sie die These auf, daß eine Religion, Philosophie oder ein metaphysisches System nur so lange eine lebendige seelische Kraft auf ihre, bzw. seine Anhänger ausüben kann, solange deren Erkenntnisse nicht mit dem sich weiter entwickelnden naturwissenschaftlichen Wissen der Gegenwart in Widerspruch geraten. Damit hat sie auch für ihre eigene Lehre den denkbar einfachsten "Prüfstein" für Richtigkeit oder Unrichtigkeit vorgegeben: Wenn grundlegende Erkenntnisse ihrer Philosophie in Widerspruch geraten sollten mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften, dann müsse man - traurigerweise oder nicht - davon ausgehen, daß dieselbe widerlegt sei. Ihre Philosophie macht aber nun sehr konkrete und sehr detaillierte Aussagen zu den Ursachen und dem Ablauf der Evolution, zu den in der Evolution entstandenen menschlichen Seelenfähigkeiten und zu den größeren menschlichen Verbänden (Gesellschaften), deren Zusammenhalt - vor allem - auf genetischer Ähnlichkeit beruht.

Mathilde Ludendorff (1937)

Da diese Philosophie vor nunmehr 60 bis 80 Jahren formuliert wurde und dieselbe vor allem auf Gebieten Aussagen getroffen hat, die in der seitherigen Zeit eine rasante Weiterentwicklung in der Forschung erfahren haben, wäre ein Vergleich der Aussagen dieser Philosophie mit den modernen Erkenntnissen ein sehr strenger Prüfstein. Zudem aber könnte diese Philosophie auch bei der Einordnung der vielfältigen naturwissenschaftlich erforschten Einzeltatsachen in einen allgemeinen Erkenntniszusammenhang, also für die Gewinnung eines zusammenhängenden, neuen Weltbildes, das unserer Zeit so sehr zu fehlen scheint, sehr förderlich sein.

Die moderne Naturwissenschaft hat festgestellt, daß die Anfangsbedingungen des Weltalls (zur Zeit des Urknalls), also die Werte nur weniger fester Naturkonstanten (wie Lichtgeschwindigkeit, Stärke der elektromagnetischen Kraft, der Gravitationskraft, sowie der starken und der schwachen Kernkraft) wie ein feinst aufeinander abgestimmtes "Mobile" gerade so beschaffen sind, daß aus einem solchen Weltall grob ungefähr 10 Milliarden Jahre später Atome, Galaxien, Sterne, Planeten, Moleküle, Kohlenwasserstoff-Verbindungen, Biozellen und schließlich Großhirne entstehen konnten. Wären die damals festgelegten Werte nur um geringfügigste Stellen hinter dem Komma abgeändert, hätte all diese Entwicklung zu immer komplexeren Strukturen in diesem Weltall bis zu der komplexesten (unserem Großhirn) nicht ablaufen können. Diese sonderbaren Tatsachen benennen die Astrophysiker mit dem Begriff "Anthropisches Prinzip".

Nun ist es wirklich außerordentlich erstaunlich zu beobachten, daß eine Grundaussage der Philosophie Mathilde Ludendorffs sich fast vollständig mit der inhaltlichen Aussage dieses "Anthropischen Prinzips" deckt. Diese Grundaussage lautet nämlich - vielleicht für unsere Zeit schon wieder etwas "abgehoben" klingend: „Im Anfang“ (also bei der Weltentstehung) „war der Wille Gottes zur Bewußtheit.“ Mit einem solchen Satz ist also eine Zielgerichtetheit in der Weltall- und Lebensentwicklung unterstellt (nämlich in Richtung auf ein bewußtes Lebewesen), die ebenso auch die Beschaffenheit der grundlegenden Naturkonstanten unseres Weltalls nahezulegen scheinen.

Wenn von seiten Mathilde Ludendorffs von einem "Willen Gottes" die Rede ist, so ist damit freilich kein persönlicher Gott gemeint, der irgendwie von außen (welchem "außen"?) die Karten mischte, sondern eher etwas nach der Art eines "großen Sehnens", das die Samoaner für die Weltentstehung verantwortlich machten. Auf die Frage: Wer hat diese Welt entstehen lassen? antworteten sie: Das Große Sehnen war es. Es ist durchaus die Frage zu stellen, ob unsere Zeit bereit ist, sich auf solche "spekulativen", "metaphysischen", eben tiefer philosophischen Gedankengänge einzulassen.

Kein persönlicher Gott


Mathilde Ludendorff unterscheidet zwei Erkenntnismöglichkeiten des Menschen. Die eine hat ihre höchste Ausbildung in den Naturwissenschaften erfahren, nämlich die nach Raum, Zeit und Ursächlichkeit denkende Vernunft. Die andere Erkenntnis-, bzw. Erfahrungsmöglichkeit fand ihre schwerpunktmäßige Anwendung in den Geisteswissenschaften und in dem Schaffen von Kulturwerken aller Art. Die großen genialen Musiker, Künstler, Dichter und Philosophen aller Zeiten und aller Völker, sowie die Kulturen aller Völker geben von dieser Erfahrungsmöglichkeit reichstes Zeugnis. Es handelt sich - nach Mathilde Ludendorff - um ein jedem Menschen zugängliches „Gott-erleben“, das Wesenszüge der uns umgebenden Umwelt und unserer seelischen Innenwelt in den "Formen" des Wahren, Guten und Schönen und in dem nach metaphysischen Werten ausgerichteten Fühlen von Liebe und Haß erleben läßt. Dieses Erleben sei durch Freiheit gekennzeichnet, die einen seelisch tief durchatmen lassen sollte.

Die strenge vernunftmäßige Einordnung in Raum, Zeit und Ursächlichkeit steht zu solch einem Erleben eher im Gegensatz, ist aber dafür mit nicht so viel Subjektivität behaftet, wie dies für jede Art von "seelischem Erleben" jenseits des logischen Denkens zutreffen kann. Also die seelische Freiheit der Menschen führt auch zu Uneinigkeit unter ihnen (in ihren Ansichten und Meinungen), während das streng logische Erforschen der Tatsachen in den Naturwissenschaften größere Einigkeit unter den Menschen hervorrufen kann - oder könnte.

Während in den mosaischen Religionen der Mann als Schöpfer, Gott und als Vermittler zu Gott (Priester) im Vordergrund steht, haben bei den (indo)germanischen Völkern immer schon herausragendere Frauen eine besondere Stellung in der Vermittlung zwischen dem "weltlichen" und dem "überweltlichen" Bereich gehabt. Man denke nur an die Griechin Diotima, von der sich der Philosoph Sokrates über die Liebe als einem allesdurchdringenden Weltprinzip belehren ließ. (Es könnten natürlich noch viele andere Beispiele genannt werden.)

Auch die moderne Naturwissenschaft hat allzu deutliche angeborene Begabungsunterschiede zwischen Mann und Frau herausgearbeitet. Und so erscheint es nun doch immer mehr plausibel, daß die Weltgeschichte die philosophische "Alltagsarbeit" vornehmlich den Männern überlassen haben könnte, daß sie aber das Hindringen zu wirklich umfassenden, zusammenhängenden, tiefdringenden philosophischen Einsichten - die zugleich wohl immer auch Psychologie beinhalten müssen - in entscheidenden Umbruchphasen der Weltgeschichte dem weiblichen Geschlecht als Aufgabe "überlassen" haben könnte.

Und es ist vielleicht noch erstaunlicher, daß eine der herbsten und verschlossensten Kämpfernaturen, die unser deutsches Volk hervorgebracht hat, nämlich der General des Ersten Weltkrieges, Erich Ludendorff, sein ganzes restliches Leben vor allem der Verbreitung des philosophischen Gedankengutes seiner Frau gewidmet hat. Er hat zur damaligen Zeit auch die deutsche Wehrmacht auf die Bedeutung der seelischen Geschlossenheit und Stärke eines Volkes für dessen Überleben hingewiesen. Doch Adolf Hitler hatte den 35.000 Panzern Stalins noch nicht einmal genügend materielle Kräfte gegenüber zu stellen.

Erich Meinecke


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/Hier eingestellt 27.6.17;
zuerst in MuM, 23.11.2000/