Freitag, 6. Mai 2022

Das Zeitalter der Zuversicht

... und das Zeitalter der Décadence
 - Stehen sie - womöglich - in einem Wechselverhältnis zueinander?

Das Zeitalter der „republic of letters“, das Zeitalter der Vigée-Lebrun (dvhs) ist das Zeitalter der Zuversicht.

Es ist das Zeitalter der Hoffnungsfreudigkeit, des Aufbruchs.

Ist dieses Grundverständnis der Zuversicht, des Aufbruchs und der Hoffnungsfreudigkeit nicht das letztlich angemessene für eine so außerordentlich reiche kulturelle Entwicklung der Menschheit wie sie sich in den letzten 300 Jahren entfaltet hat? 

Abb. 1: Selbstportrait der französischen Portraitistin Elisabeth Vigée-Lebrun, entstanden 1801, vielleicht noch in Petersburg, vielleicht in Berlin oder Potsdam (heute im Museum der Schönen Künste in Rouen) (Grpalais)

Wir haben gelernt, wie dieser Kosmos entstanden ist, wir haben einige Grundgesetze verstanden, nach denen sich dieser Kosmos und alles Gewordene in ihm entwickelt, nach denen aus Chaos Ordnung entstehen kann. Wir haben gelernt, daß das viel Ähnlichkeit mit jenen Gesetzmäßigkeiten hat, die einstmals der Philosoph G.F.W. Hegel und andere (Hölderlin, Marx) in ihren Philosophien vorweg genommen hatten (Grundgesetze der Entwicklung des Individuums, des Seins an sich und der Geschichte, "Umschlag von Quantität in Qualität", "Rollentreppenbegriff der Geschichte", "Dialektik" und vieles andere mehr.)

Wir haben gelernt wie außerordentlich speziell dieser Kosmos ist. Wie speziell er schon in seinen Anfangsbedingungen war, nämlich so speziell, daß er Strukturen und schließlich an Nervenzellen gebundenes Bewußtsein aus sich heraus hat entstehen lassen. 

Wir haben gelernt, daß das alles nicht "selbstverständlich" ist. Daß es also vermutlich wenig Sinn macht, unser Universum schlicht ein "Zufallsereignis" zu nennen. Vielleicht ist das Universum in die Welt gekommen, damit Zuversicht in der Welt sei? Damit Freude in der Welt sei? Damit Hoffnungsfreudigkeit in der Welt sei?

Denn nur aus dem Zeitalter der Décadence, der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit heraus kann man diesem herrliche Universum und unserem Leben in demselben die bloße Bedeutungslosigkeit des Zufalls zusprechen (s. S. J. Gould's "Zufall Mensch").

Wir lernen in den letzten Jahren wie außerordentlich speziell jene Bedingungen in unserer Galaxie, in unserem Sonnensystem und auf unserer Erde sein mußten, damit es erst möglich wurde, daß in 4,5 Milliarden Jahren etwas so Prekäres, etwas an so spezielle Bedingungen Gebundenes und damit Gefährdetes wie Leben - und noch mehr: wie Bewußtsein - entstehen konnten. In diesem Sonnensystem, auf diesem Planeten, auf dessen unterschiedlichen Kontinenten.

Es ist das ein so ungeheures Geschehen der Erkenntniserweiterung in den letzten 200 bis 500 Jahren. Und dennoch konnte das Zeitalter der Zuversicht um 1770, um 1790 herum so ungeheuer schnell umschlagen in ein Zeitalter der Décadence, in ein Zeitalter des "fin de sciecle", in ein Zeitalter des "Unbehagens an der Kultur", des Mißmuts, der Griesgämigkeit, des Pessimismus, der Verzweiflung, der "Desillusionierung", der Untergangsstimmung, des Scheiterns. All das sind Stimmungen, die sich auch in dem Umstand widerspiegeln, daß Millionen, nein, Milliarden von Menschen heute anteilnahmslos an diesem ungeheuren Geschehen der Erkenntniserweiterung der letzten 300 Jahre vorbei gehen.

Selbst unter den Denkenden unserer Zeit. Selbst unter den Philosophierenden unserer Zeit.

Wie war das möglich?

Wie ist das möglich?

Wo liegen die Umschlagspunkte dafür?

Deutlich wird: In einem Dichter und Denker wie Friedrich Hölderlin finden wir beides in einer Person in sich vereinigt. Zum einen diese riesige große Zuversicht. Und zum anderen - und zugleich - eine wiederholt wiederkehrende, riesige große Niedergeschlagenheit. Er hat in seinem Leben wie in seinem dichterischen Schaffen - wie in einem Brennglas – beides in sich gefaßt, die Grundstimmung des Zeitalters der Zuversicht ebenso wie die Grundstimmung des Zeitalters der Untergangsstimmung, die sich weiterentwickelte in das Zeitalter der seelischen Verelendung, des Staats-, Kultur- und Gesellschafts-Verfalls. Und was für prophetische Worte man bei ihm in diesem Zusammenhang findet (Gutenb):

O ihr Genossen meiner Zeit! fragt eure Ärzte nicht und nicht die Priester, wenn ihr innerlich vergeht! Ihr habt den Glauben an alles Große verloren; so müßt, so müßt ihr hin, wenn dieser Glaube nicht wiederkehrt, wie ein Komet aus fremden Himmeln.

Wie konnte Hölderlin so etwas niederschreiben? Zu seiner Zeit wußte man doch noch gar nicht, daß es tatsächlich "Kometen aus fremden Himmeln" (Asteroiden) waren, wieder und wieder, die es ermöglichten, daß sich alles Lebens verjüngte auf unserer Erde, auf diesem Planeten. Wie konnte er so etwas voraus ahnen?

Aber etwas anderes ist auch sicher: Wir gewinnen noch nicht einmal einen angemessenen Maßstab, ein angemessenes Bewußtsein für dieses Zeitalter des Gesellschafts-, Kultur- und Politikverfalls, solange wir uns nicht aufschwingen und uns beschwingen lassen von jenem Geist, der einmal war, der wieder kommen wird, gewiß wieder kommen wird, der in uns ruht, der jeden neuen Frühling, Völkerfrühling beseelt und beseligt, der erfüllt ist von Zuversicht und Selbstvertrauen und gegenseitiger Anteilnahme der Menschen untereinander, der Geborgensein kennt, Erfülltsein von allem Seligen, was diese Erde und dieser Kosmos zu bieten haben.

Wenn wir uns dazu nicht aufschwingen können - wie wollen wir dann einen Maßstab gewinnen, ein Bewußtsein gewinnen davon, was all der Verfall, der uns umgibt (und womöglich erfüllt), eigentlich soll?

Warum?

Warum auch der?

Warum ist er da?

Warum gibt es ihn?

Warum geben wir uns ihm hin?

Wird der Verfall ... das letzte Wort haben?

Wenn wir aufschauen zu Elisabeth Vigée-Lebrun, ihrem Glanz, ihrer Schönheit, ihrem Adel, dann wissen wir wieder eines: Dieser Verfall kann und wird nicht das letzte Wort haben. In der Menschheitsgeschichte. Nein. Dazu ist Menschheit nicht entstanden, dazu ist Leben auf diesem Planeten, in diesem Kosmos nicht entstanden, damit das der Endpunkt ist, damit das "das Ende vom Lied" ist. Das, was wir heute erleben.

Nein. Von überall her ruft es uns zu: Das ist Lüge, so zu denken. In uns schlummert anderes. In uns schlummert Besseres. Wir sind zu Höherem geboren. In uns ist Adel, heiliger Sinn, Edelmut, Andacht, Geschenk, Gewährung des Guten. Zu sagen, ein Zeitalter der Zuversicht wäre bloße Illusion gewesen - ja, wer im Sumpf steht, der kann nichts anderes sagen. Und denken. Gewiß. Wie auch?

Aber wir wissen es anders.

Und wer im Sumpf stehen bleibt, wird dem Adel nicht nahekommen, dem Adel, der einstmals war in der Welt, und der wieder kommen wird in dieser Welt. Wir selbst sind Bürgen dafür. Nur wir. Wer sonst? Sind es nicht unsere Träume, die diesen Adel verkünden?

Raffen wir uns auf. Besinnen wir uns. Helfen wir uns. Helfe jeder sich selbst, helfe jeder dem anderen. Erinnern wir uns. Erinnere sich jeder, was einstmals war, was ist und was wieder kommen kann, was deshalb auch wieder kommen wird. So gewiß wie es ist, daß die Sonne, die am Abend untergeht, am nächsten Morgen wieder aufgeht.

Nur wir haben es - womöglich - in der Hand, nur wir, ob es früher oder später geschieht. Daß die Sonne wieder aufgeht. Wir können der Aufbruch sein, den wir uns wünschen und der uns erwünscht erscheint, ja, der uns erwünscht erscheinen muß. Blicken wir hinaus in die Natur, blicken wir in die Menschheit, blicken wir in uns. 

Der Trank des Lebens - noch ist er an niemandem vorbeigegangen, der jemals lebte. Jeder konnte ihn trinken. Trinken wir, trinken wir doch. Erst dann ergreift uns jene Seligkeit, der wir gewahr werden müssen, wenn wir überhaupt erahnen wollen, was all der Verfall um uns herum und in uns drin eigentlich sollen.

Die "Republik der Gelehrten"

Ist das Antlitz unseres Zeitalters alternativlos?
- Nein, "Gesellschaftlicher Aufbruch - jetzt!" Eine andere Zeit ist möglich
- Im folgenden aufgezeigt am Zeitalter der "Gelehrtenrepublik" des 18. Jahrhunderts, an einer Malerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun und ihren hinreißenden Gemälden

"Republic of letters" (Wiki) - der Begriff fällt ins Auge und begeistert, wenn man ihn in einer Rezension erwähnt findet. Zu Deutsch "Republik der Gelehrten" (Wiki). Und zwar in einer Rezension zu einem neuen Buch über die europäische Wissenschaftsgeschichte. Da ist nämlich die Rede von ... (1)

... den wissenschaftsgeschichtlichen Stichworten, nach denen die Wissenschaftsgeschichte heute üblicherweise gegliedert wird (die Revolution der Druckerpresse, die Gelehrtenrepublik, der Öffentliche Raum, die Aufklärung, Demokratie und die Industrielle Revolution).

Zuvor schon war die Rede von den ... (1)

... bekannten europäischen Marksteinen des Fortschritts: Kopernikanisches Weltbild, Newton'sches Weltbild, Naturgeschichte nach Linnae, Elektromagnetismus nach Maxwell.

Uns fällt aber heute am meisten ins Auge: "Republic of letters", "Republik der Gelehrten". Was für ein riesiges, gewaltiges Bild ersteht mit diesem kurzen Begriff: "Republic of letters".

Abb. 1: Portrait des Charles Alexandre de Calonne (1734-1802) (Wiki) - französischer Reformpolitiker und Finanzminister unter Ludwig XVI. - Gemälde der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki), die auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen hat, darunter mehrere der preußischen Königin Luise

Was für eine Zeit, als edelgesinnte Geister und Gemüter - über ganz Europa hinweg - eine unsichtbare Republik bildeten, eine Republik von Gelehrten und Schöngeistern, die in einer "anderen Zeit" lebten oder gar "zeitlos", die jedenfalls ihrer eigenen Zeit weit voraus waren, die den Niederungen des Alltags entwunden waren, die einem schöneren, größeren, edleren Zeitalter entgegen strebten - durch Wissenschaft und Forschung, durch Beschäftigung mit Kunst und Kunstgeschichte, mit Literatur und Literaturgeschichte, durch Liebe und Begeisterung für alles Edle und Schöne.

Oh, Republik der Gelehrten, komm wieder. Möchte man nicht in die Arme dieser Republik sinken, sich in sie fallen lassen, frei sein, edel sein, dem Fortschritt zugeneigt sein? Wozu soll man noch - - - "Reichsbürger" sein, wenn man Angehöriger einer Republik von Gelehrten sein kann?

Die Republik der Gelehrten geht auch noch über die schöngeistigen Tafelrunden, wie sie etwa am Hofe Friedrichs des Großen in Sanssouci stattgefunden haben, hinaus. Sie führt direkt in die Studierzimmer der Gelehrten selbst. All das "Zwischenmenschliche", all die - womöglich oberflächlichen - Neckereien, Heiterkeiten, all der Zank auch, der neckische oder ernsthaftere, all der Unfriede, all die äußere, aufreibende Unruhe der Zeit, die auch noch bis in manche Tafelrunde und in manchen Salon hinein geschwappt sein mögen, sie alle sind aus dieser "Republik" verbannt.

Hier brennt die ewige Sonne der Wahrheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Freiheit. 

Hier brennt die ewige Sonne der Schönheit.

In diese Republik werden nur jene Geister aufgenommen - und sie werden nur insoweit aufgenommen - als sie gleichen Willens sind, von gleicher innerer Freiheit erfüllt sind, von gleicher Hoffnung auf bessere Tage erfüllt sind, auf eine bessere Welt, von gleicher Sehnsucht nach "Zukunft", nach den Inseln der Seligen.

Abb. 2: Portrait der Madame de Polignac, der engsten Vertrauten Marie-Antoinette's (Wiki), gemalt 1782/83 von Élisabeth Vigée-Lebrun (heute im Palast von Versailles) - Zu jener Zeit stand die Madame de Polignac auf der Höhe ihres Einflusses, der ab 1785 zu schwinden begann

Nun gut, auch sonst wartet das besprochene Buch (1) offenbar mit einigen neuen Einsichten auf: Die Kopernikanische Wende ist durch die astronomischen Beschäftigungen im islamischen Bereich während des Mittelalters vorbereitet worden, die Newton'sche Wende durch Erkenntnisse, die nur durch Seefahrt und Seehandel zu gewinnen waren.

Das "Überleben des Stärkeren" des Charles Darwin hat sich im "Frontier"-Idealismus der US-amerikanischen Siedler wieder gefunden, insbesondere Marxisten haben sich für die Quantentheorie, Relativitätstheorie und Genetik begeistert. Das ist alles etwas plakativ, aber ein Körnchen Wahrheit könnte ja in allem darinnen sein.

Die Besprechung kommt zu dem Schluß, daß bei aller Einbindung der europäischen Wissenschaftsgeschichte in außereuropäische Bezüge sie dennoch "eurozentrisch" bleibt (1):

Auch fast alle nicht-europäischen Forscher, die hervorgehoben werden, sind entweder an europäischen oder US-amerikanischen Instituten ausgebildet worden.

An Stelle solcher Erörterungen wäre ja eigentlich noch viel spannender zu erwähnen, daß es solche Republiken von Gelehrten auch im antiken Griechenland gegeben hat. Ganz Griechenland war voller Gelehrter und Philosophen und Künstler in einer Dichte, wie es zuvor und später nie wieder vorgekommen ist. Eine solche Republik von Gelehrten hat es schon im Tang-zeitlichen China oder früher gegeben. Und auch in anderen Hochkulturen. Die Möglichkeit einer "Republik von Gelehrten" ist nicht etwas spezifisch Europäisches. 

Abb. 3: Selbstportrait, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun (1790) (heute in den Uffizien in Florenz)

Aber in der Neuzeit stehen eben nicht mehr China oder Griechenland oder der Vordere Orient oder Indien an der Spitze der geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Menschheit, sondern Europa. 

Und was erfahren wir zusätzlich, wenn wir uns nur ein wenig umschauen zu dem Thema "Republic of letters", "Republik der Gelehrten"? 1774 etwa veröffentlichte der deutsche Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) (Wiki), der damals bei allen deutschen Dichtern hoch verehrte Dichter des "Messias", sein Buch "Die deutsche Gelehrtenrepublik". Goethe schrieb noch im gleichen Jahr dazu:

"Klopstocks herrliches Werk hat mir neues Leben in die Adern gegossen. Die einzige Poetik aller Zeiten und Völker. Die Einzigen Regeln die möglich sind!" 

Damals war noch Begeisterung in der Welt, Begeisterung für Tugend, Schönheit und Kunst. Wir erfahren (Wiki):

Klopstocks aufgeklärte Utopie "Die deutsche Gelehrtenrepublik" (1774) ist ein Konzept, das für die als regierungsunfähig angesehene Fürstenherrschaft eine gebildete Elite in die Macht einsetzt. Die Republik soll von "Aldermännern", "Zünften" und "dem Volke" regiert werden, wobei den ersteren - als den gelehrtesten - die größten Befugnisse zukommen sollten, Zünften und Volk entsprechend weniger. Der "Pöbel" hingegen bekäme höchstens einen "Schreier" auf dem Landtage, denn Klopstock traute dem Volk keine Volkssouveränität zu. Bildung ist in dieser Republik das höchste Gut und qualifiziert ihren Träger zu höheren Ämtern. Entsprechend dem gelehrsamen Umgang geht es in dieser Republik äußerst pazifistisch zu: Als Strafen zwischen den Gelehrten veranschlagt Klopstock Naserümpfen, Hohngelächter und Stirnrunzeln.

Da sehen wir also mit leichter Hand schon einen Gegen-Entwurf gezeichnet zu jener Art von Oligarchie, die heute in allen Teilen Europas und Amerikas "Demokratie" genannt zu werden beliebt. (Denn es sollte sich ja wohl inzwischen herumgesprochen haben, daß der Begriff "Demokratie" längst nicht mehr mit der Verfassungswirklichkeit übereinstimmt - wenn er es überhaupt jemals getan hat in der europäischen Neuzeit.)

Klopstock, de Calonne, Vigée-Lebrun

Wir binden als erstes Bild (zugleich Vorschaubild) in diesen Beitrag ein Portrait des französischen Reformpolitikers und Finanzministers unter Ludwig XVI. ein, Charles Alexandre de Calonne, geschaffen von der französischen Malerin Élisabeth Vigée-Lebrun (1755-1842) (Wiki) (Abb. 1). Diese hat auch sonst viele hinreißende Portraits geschaffen. Darunter zum Beispiel auch mehrere der preußischen Königin Luise. Aber dieses Portrait des französischen Reformpolitikers mag aus ihren vielen schönen Bildern noch einmal besonders hervor stechen. Und genau deshalb stellt sich auch die Frage, was das da eigentlich für ein Mann war.

Abb. 4: Selbstportrait mit Tochter von Élisabeth Vigée-Lebrun (1786) (heute im Louvre)

Und man stellt fest: Dieser befähigte Staatsmann hätte, wenn König Ludwig XVI. ihn nicht zwei Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution entlassen hätte, diesselbe verhindern können! Und was für ein hinreißend schöner Mann war er zugleich! Zumindest auf dem Portrait dieser Künstlerin Vigée-Lebrun.

In ihrer Kunst ist auch sonst die ganze Seligkeit dieser Epoche eingefangen worden. Diese war eben nicht nur von wissenschaftlichem Wahrheitsdrang erfüllt, sondern auch von politischem Freiheitsdrang und von Sehnsucht nach Schönheit und dem Ausdruckgeben von Schönheit - in der Kunst. Wie erstaunlich, wie ungewöhnlich, dies alles in einer Zeit vereinigt zu sehen. Was für ein Wunder geradezu, wenn man darauf von heute aus blickt.

Wie weit, wie unendlich weit sind wir heute von all dem entfernt. Welche Fülle an begeisternden Gemälden hat allein diese eine französische Malerin geschaffen, eine Künstlerin, von der die meisten Leser vermutlich an dieser Stelle zum ersten mal erfahren - ebenso wie der Verfasser dieser Zeilen selbst erst gestern - durch reinen Zufall - auf ihre herrliche Kunst gestoßen ist. Ihre Gemälde, Portraits und Selbstportraits sind von so viel weiblichem und künstlerischem Selbstbewußtsein getragen. Man erkennt sofort: Eine selbstbewußte, emanzipierte Frau (Abb. 2-4). Und doch zugleich ist in diesen Gemälden so viel Zartheit, so viel Menschlichkeit enthalten, so viel weibliches Mitgefühl. Und wie jung diese Künstlerin war, als sie schon diese herrlichen Gemälde schuf.

Abb. 5: Portrait der venezianischen Schriftstellerin Gräfin Isabella Albrizzi-Teotochi (1760-1836) (Wiki), entstanden 1792, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun in Italien - nach ihrer Flucht aus Frankreich

Man erkennt sofort: Von diesem weiblichen Selbstbewußtsein war auch die Königin Luise erfüllt, die im Jahr 1801 in mehreren Porträts zum Gegenstand der Kunst der Vigée-Lebrun geworden ist. Auch sie war Reformpolitikern, auch sie gehörte den politisch fortschrittlichen Kräften ihrer Zeit an, auch auf ihr ruhten die Hoffnungen der Besten ihres Landes und ihres Volkes. Und sie war es, die den Plan hegte, Friedrich Schiller zum preußischen Minister zu ernennen. Und just in dieser Zeit starb Friedrich Schiller einen sehr frühen Tod! Und er erhielt in Jena ein sehr merkwürdiges Begräbnis. Und sein Schädel wird bis heute mit allem Eifer von der Wissenschaft gesucht.

Was für eine Zeit. Was für Schicksale. Unbegriffene Schicksale oder auch nur zum Teil begriffene. Wie viel Glanz, wie viel Schönheit, wie viel strahlende Selbstsicherheit selbst unter ihren weiblichen Künstlerinnen. Wie harmlos und selbstbewußt konnten auf den Bildern der Élisabeth Vigée-Lebrun alle Anzeichen weiblicher Schönheit und weiblichen Lebens zur Darstellung kommen?

Abb. 6: "Die unentschlossene Tugend" ("La Vertu Irresolue"), gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun schon 1775, also mit zwanzig Jahren

Wer möchte nicht in einer solchen Zeit gelebt haben - oder leben?

Eine Zeit, in der der wohlgeformte Busen einer Frau noch der wohlgeformte Busen einer Frau sein durfte, ohne daß das Anstoß erregte, ohne daß man durch das Zeigen desselben seine Kultiviertheit verlor (Abb. 5). Ganz so wie in der Antike.

Abb. 7: Portrait einer jungen Dame als Flora, gemalt von Élisabeth Vigée-Lebrun

Eine Zeit, in der eine Frau, die in Bezug auf ihre Tugendhaftigkeit nicht so recht weiß, was sie will oder wollen sollte, so außerordenlich weiblich und mitfühlsam dargestellt werden konnte (Titel "La Vertu Irresolue", das heißt "Die unentschlossene Tugend", Abb. 6). Wie so außerordentlich menschlich dieses Zeitalter. Wie so außerordentlich fern aller Bigotterie.

Abb. 8: Portrait der Sophie von Trott als Bacchantin, gemalt Élisabeth Vigée-Lebrun (1785)

Eine Zeit, in der sich Frauen als Bacchantinnen portraitieren lassen konnten (Abb. 8). 

Und so führt der Weg der Suche nach der Wahrheit und der Freiheit in letzter Instanz immer wieder zurück zur Entdeckung der Schönheit und der Liebe. 

Welches Zeitalter sollte uns das eher bezeugen können als das Zeitalter der "Republic of letters" und als das Zeitalter einer Künstlerin wie Élisabeth Vigée-Lebrun.

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  1. Jorge Cañizares-Esguerra: Rethinking the “Western” revolution in science. Rez. von James Poskett's "Horizons: The Global Origins of Modern Science" (Mariner Books, 2022. 464 pp) In: Science, 28 Apr 2022, Vol 376, Issue 6592, p. 467, DOI: 10.1126/science.abo5229, https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.abo5229