Samstag, 28. März 2020

Warum ist dieses Universum entstanden?

Physikern und Philosophen tauschen miteinander die Stühle
- Zeichen für einen Wandel im Zeitgeist?

Frage:
Warum braucht das Universum einen intelligenten Erkenner?
Antwort:
Wenn es erkennbar ist, ist es auf Erkennbarkeit angelegt. Dann ist es ohne Erkennenden unvollständig.
Was sind denn das für Sätze!?!




Und wie locker und selbstverständlich plätschern sie hier in die Diskussion? - Siehe Video (1). - Was ist denn hier überhaupt los? Ist die ganze Welt verrückt geworden?

Diese Sätze sind entnommen einer philosophischen Diskussion, die im Dezember 2018 in Stuttgart geführt worden ist (1). Die zitierte Antwort wurde von dem Philosophie-Professor Jens Halfwassen (Heidelberg) ausgesprochen (1). Und den beiden anwesenden Theoretischen Physikern scheint eine solche Antwort noch einigermaßen neu zu sein. Zunächst kurz eine Anmerkung zum Verständnis schon der Eingangsworte in dieser Diskussion: "teleologische Struktur des Universums" heißt: die Entstehung und Entwicklung des Universums könnte von einem Ziel (Griechisch "teléōs" = "Zweck", "Ziel", "Ende") her bestimmt sein. Sprich, sie wäre nicht rein zufälliger - und damit - bedeutungsloser Art (wie sehr oft bislang in der Physik angenommen). Und das Ziel könnte dann eben - neben der Erkennbarkeit - auch das Erschaffen eines "intelligenten Erkenners" sein.

Die Reaktionen der Physiker in dieser Diskussion auf die vorgebrachten Gedanken zeigen, daß auch sie allmählich ein Gefühl dafür bekommen, daß sie sich mit solchen philosophischen Deutungen auseinandersetzen müssen. Nicht weil diese eine zeitgeistige Modeerscheinung wären (davon sind wir ja ziemlich weit entfernt). Aber weil der innerwissenschaftliche Diskussionsstand innerhalb der Astrophysik solchen Argumentationsstrukturen gegenüber immer weniger Ausweichmöglichkeiten zuläßt.

Was geschieht hier, wie ist das einzuordnen? Machen wir einen Versuch: In dieser Diskussion spiegelt sich ein neuer Bewußtseinsstand wieder, ein neuer Diskussionsstand zwischen moderner Physik einerseits und moderner Philosophie andererseits. Die Philosophie wird sich der Stärke ihrer eigenen Argumentationsmuster bewußt, und zwar gerade in Auseinandersetzung mit dem aktuellen Kenntnisstand der Astrophysik. Die Philosophie gibt nicht mehr "klein bei" oder weicht Diskussionen mit dem naturwissenschaftlichen Kenntnisstand aus. Nein: Sie übernimmt inzwischen sogar die Führungsrolle in der Diskussion. Und war es nicht genau diese Situation, mit der einstmals die große neuzeitliche Philosophie bei Immanuel Kant angefangen hat? Daß die Philosophie der Naturwissenschaft vorgegeben hat, gezeigt hat, wo sie, die Naturwissenschaft steht? Und wird es nicht hoch an der Zeit, daß das endlich einmal wieder geschieht? Genau das ist es, was in dieser Diskussion, die in Stuttgart im Dezember 2018 geführt worden ist, deutlich wird. Sie wurde im April 2019 auf Youtube zugänglich gemacht (1). Der beteiligte Theoretische Astrophysiker Matthias Bartmann von der Universität Heidelberg (zweiter von links) versucht dann, aus Sicht der Naturwissenschaft eine Antwort auf die erörterte Frage,
warum das Universum seine eigene Erkenntnis gleich mitproduziert.
Aber was für Sätze im Grunde. Was für Sätze (Minute 10:14).

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Nachdem wir den ersten Teil dieses Videos zum ersten mal gesehen hatten, brauchten und brauchen wir allerhand Tage zur geistigen "Verdauung". Versuchen wir zunächst eine geistesgeschichtliche Einordnung: Die Geistes- und Religionsgeschichte der letzten 250 Jahre läßt sich - beim derzeitigen Stand - ungefähr folgendermaßen zusammen fassen: Die Christen glauben an den Gott, den sie sich vorstellen so, als wäre so sicher über ihn zu reden wie über eine naturwissenschaftliche Tatsache. Im Jahr 1781 veröffentlichte Immanuel Kant in Königsberg sein berühmtes Buch "Kritik der reinen Vernunft". In diesem legte er - für alle Philosophen-Generationen nach ihm und bis heute - überzeugend dar, daß über Fragen wie jene nach "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit", also über metaphysische Fragen nicht in der gleichen Weise gesprochen werden kann und darf wie über naturwissenschaftliche Tatsachen. Kant wollte damit keineswegs sagen, daß der Glaube an Gott, an die Willensfreiheit des Menschen und an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele "absurd" wären oder daß darüber keine Aussagen gemacht werden könnten. Kant war kein Atheist.

Aber es war ihm wichtig zu sagen, daß hier genau geprüft werden müsse, wie die Gültigkeit metaphysischer Aussagen beschaffen sei, und daß über sie eben - auf jeden Fall - nicht gesprochen werden könne wie über naturwissenschaftliche Tatsachen, also daß die bis dahin unter Christen übliche Art, über Gott zu sprechen, keine angemessene Art sei, sich diesen Fragen - den womöglich wesentlichsten Fragen des Menschseins - zu nähern. Der Kulturhistoriker Jan Assmann hat diese christliche Art, über Gott zu sprechen, übrigens die "mosaische Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch" genannt. Und er hat heraus gearbeitet, daß es genau diese ist, die jenen "monotheistischen Eifer" bewirkt, der allseits in der Welt sichtbar ist. Diese Unterscheidung und dieser Eifer sind nun - der Sache nach - von Immanuel Kant als ungültig erwiesen worden. Ungültig ist also das schlichte Postulat, die schlichte Behauptung, daß über Gott und seine Existenz ebenso geredet werden könne wie zum Beispiel über den Stuhl, auf dem wir gerade sitzen und dessen Existenz.

Seit Immanuel Kant dies gesagt hat, sind die Völker auf der Nordhalbkugel nach und nach immer nachlässiger geworden in ihren "Eifer", in ihrem Glauben an die Existenz von etwas Göttlichem. Es ist ja auch viel "entspannter" und viel bequemer, von der Nichtexistenz von etwas Göttlichem ausgehen. Außer in einem sehr beschränkten Bereich des menschlichen Daseins, der mit der Moral des "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu" hinreichend zu klären ist, gibt es dann keinen Anlaß mehr, daß Menschen weitergehende Ansprüche an einander oder an sich selbst haben bräuchten. "Hey, easy going", "let it be", "take it easy" und wie all die Slogans der hedonistischen, aber in letzter Instanz atheistischen und materialistischen Gesellschaft lauten, der Gesellschaft, die keinen ethischen Eifer, keinen unbedingten Glauben an Göttliches mehr kennt. Angekommen im "Delta der Beliebigkeit", in der "Ebene" wie das Peter Sloterdijk nennt, weit weg von aller "Vertikalspannung" im Bereich des Menschlichen.

Nach Immanuel Kant hat es zwar viele philosophische Versuche gegeben, über die nicht vollständig naturwissenschaftlich erfaßbare Seite der Wirklichkeit und der darin eingebetteten menschlichen Seele gültige Aussagen zu machen. Hölderlin, Hegel, Schelling haben große philosophische Systeme entworfen, Schopenhauer hat auf die Willenskräfte in allem Sein abgehoben ("Die Welt als Wille und Vorstellung"). Marx hat den Materialismus populär gemacht, der als Ausgangspunkt das Postulat wählt, Antworten auf Fragen zu suchen rund um die Kant'schen Themen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit würde letztlich bloß in den banalen Bereich "Opium für das Volk" fallen. Eine nicht vollständig naturwissenschaftlich faßbare Seite der Wirklichkeit wäre doch gar nicht existent. Und von da aus war es dann nur konsequent, wenn ein weiterer deutscher Philosoph sagte: "Gott ist tot - und wir haben ihn getötet." (Nietzsche) Materialismus und Atheismus wurden - diesseits und jenseits des Atlantiks - zu den vorherrschenden Weltanschauungen und Lebensphilosophien des 20. Jahrhunderts, auch wenn nach außen hin noch die Fassade eines christlichen Welt- und Menschenbildes sollte aufrecht erhalten werden. Und so ist der Stand heute, im Jahr 2020 immer noch.
 
Parallel dazu aber hat sich nun der naturwissenschaftliche Kenntnisstand über die uns umgebende Wirklichkeit und auch im Bereich der Hirnforschung (also über die uns innewohnende Wirklichkeit) immens erweitert. Außerordentlich immens. Seit Ende der 1920er Jahre weiß die moderne Physik, daß unser Universum einen Anfang in der Zeit hat. Und in den 1970er Jahren hat sich die moderne Astrophysik immer intensiver mit den Anfangsbedingungen des Universums beschäftigt und hat im Zuge dieser Beschäftigung das sogenannte "Anthrophische Prinzip" aufgestellt, das eine Auseinandersetzung mit der Feststellung enthält, daß die Anfangsbedingungen des Universums, die vier Grundkräfte des Universums in ihren Werten zueinander außerordentlich "speziell" sind, daß diese Werte um viele Stellen hinter dem Komma nicht verändert werden können, ohne daß das Universum, das dabei herauskäme, unfähig wäre, sich überhaupt zu bilden oder in sich Strukturen auszubilden, insbesondere dann vor allem Kohlenstoff-Atome, die hinwiederum die Voraussetzung bilden für die Entwicklung von komplexeren Strukturen im Universum wie Biomolekülen, Leben, Nervenzellen, Bewußtsein und menschlichen Wissensgesellschaften.

Um diesen philosophisch außerordentlich herausfordernden Befund zu umgehen, hat die Mehrheit der Astrophysiker in den letzten Jahrzehnten an Multiversen-Modellen gearbeitet. Nicht zuletzt die deutsche Astrophysikerin Sabine Hossenfelder war dann eine der ersten, die zu all diesen Multiversen-Modellen sagte: "Der Kaiser ist nackt." All diese physikalischen Theorien haben gar keine Fundierung in irgendeiner empirischen Evidenz. Und als dann auch noch die Reputation eines der lautstärksten Propangandisten dieser Multiversen-Theorien - Lawrence Krauss - in den Sturmfluten der Mee too-Debatte versank, war es vollends um diese geistesgeschichtliche Entwicklung geschehen.

Und das ist - grob umrissen - der geistesgeschichtliche Ort, an dem wir heute stehen. Wir sind zurück geworfen auf die Erkenntnis, daß unser Universum außerordentlich speziell ist, daß es auch nicht besonders einfach bloß als ein "Zufallsereignis" erklärt werden kann (im Rahmen von Multiversen-Theorien), und daß wir uns damit zurecht finden müssen, daß dieses Universum auf - - - "Erkennbarkeit" hin angelegt ist. Und genau an diesem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und auch Bewußtseins-Entwicklung, genau in diesem Bereich des philosophischen Nachdenkens setzt die eingangs erwähnte Diskussion - in einem Tagungshaus in Stuttgart im Dezember 2018 - ein.

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Sehr schnell wird erkennbar: Die Grundfragen der Stellung von uns Menschen in diesem Universum werden hier (in der Diskussion im Dezember 2018) auf einem Niveau und in einer Tiefe erörtert, wie man sie so schon sehr lange nicht mehr hat erleben dürfen.

Als der Autor dieser Zeilen vor 30 Jahren - um 1990 herum - an die Freie Universität Berlin kam, lagen solche Gedanken durchaus schon in der Luft. Er saß auch in entsprechenden Seminaren drin, in denen sich Philosophen mit dem aktuellen Forschungsstand in der modernen Physik auseinander gesetzt haben, etwa in den Seminaren von Philosophie-Professor Rainer E. Zimmermann. Aber das war damals keinesfalls der "große" Mainstream innerhalb der Philosophie, keinesfalls. Noch vor zehn Jahren war er das nicht. Erst neulich hat der Autor dieser Zeilen gesucht, wo Harald Lesch etwas zum Anthropopischen Prinzip gesagt haben könnte. Das hat der Harald Lesch in der Tat schon vor zehn Jahren getan, nämlich in der Sendung "Alpha Centauri". Und sachlich auch sehr richtig. Aber man muß vermuten, daß die wenigsten Zuschauer damals sich der philosophischen Fundamentalität der von Lesch erörterten Fragen durch dessen Ausführungen bewußt geworden sind.

Hier nun, in dieser Stuttgarter Diskussison im Dezember 2018 ist diese Fundamentalität sofort da, sie ist sofort spürbar. Hat man denn schon jemals Physiker, also - - - Physiker, Theoretische Physiker so in die Ecke gedrängt gesehen von Philosophen - wie hier?!? Sonst war es doch immer genau umgekehrt. Sonst hatten doch die Physiker immer nur ein nachsichtiges Lächeln für Philosophen übrig.

Aber im Grunde genommen ist diese Situation von weitsichtigen Physikern und philosophisch Denkenden schon vor 30 Jahren genau so voraus gesagt worden, zumindest vereinzelt vorausgesagt worden. Daß eine solche Entwicklung kommen wird, so ahnt man jetzt auch selbst, ist ab einem bestimmten Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der menschlichen Geistesgeschichte wohl mehr oder weniger "inhärent". Und zwar weil eben die moderne Physik voller philosophischer Implikationen ist. Und das war den Weitsichtigeren schon vor mehreren Jahrzehnten erkennbar. Jetzt scheint jedoch der Zeitpunkt gekommen, wo dieses Bewußtsein das Potential dazu hat, "Mainstream" zu werden, wo Philosophen und Physiker vollkommen auf Augenhöhe miteinander über alles zu reden beginnen. Und kein Atheist wie Jürgen Habermas weit und breit, der ihnen diese so wertvollen Diskussionen zerreden würde. Das würde einen völligen Umschwung im Zeitgeist bedeuten. Und zwar von den Fundamenten unseres Denkens her, nicht aufgrund irgendwelcher ideologischer Modeströmungen, wie sie innerhalb des 20. Jahrhunderts so herein und hinaus geschwemmt werden innerhalb der geistig orientierungslos gewordenen materialistischen und atheistischen Gesellschaften der Nordhalbkugel.

Noch ein Hinweis: Im Mittelpunkt dieser ganzen Erörterung in Stuttgart im Dezember 2018 steht das sogenannte Anthropische Prinzip der modernen Astrophysik und eine mögliche philosophische Deutung desselben, nämlich jene Deutung, die sagt: Dieses Anthropische Prinzip legt nahe, daß bewußtes Leben in diesem Weltall schon bei seinem Beginn angelegt gewesen sei. Von dem Mitdiskutanten Jens Halfwassen gibt es im Rahmen desselben Workshops da in Stuttgart einen Einzelvortrag über die Philosophie Plotins (3), die eigentlich nur die Philosophie Platons sein will, vielleicht etwas anders in Worte gefaßt. Und es sagen nun immer mehr kluge, kundige Leute, daß diese philosophische Tradition Plotins zunächst am besten geeignet sei, wenn man das Anthropische Prinzip von philosophischer Seite aus deuten will. Bislang hat es auf diesem Gebiet immer nur einen Einzelgänger unter den Philosophen gegeben, nämlich den kanadischen Philosophen John Leslie, der das getan hatte, schon vor 20 Jahren.

Jetzt ist dieser John Leslie offenbar längst nicht mehr so "abseitig" wie man das vor 20 Jahren noch wahrnehmen konnte. Und genau dieser Umstand wird in dieser Diskussion deutlich. Hier scheint also wirklich etwas im Gange zu sein. Man möchte rufen: Menschheit, horche auf. Deine Philosophen beginnen wieder, sinnvolle Dinge zu tun.

Menschheit, horche auf, das 20. Jahrhundert, sein Materialismus, sein Atheismus sind zu Ende. Und nicht das Christentum ist die Zukunft der Menschheit, sondern moderne philosophische Deutungen wie sie in diesen Diskussionen zum ersten mal geäußert werden.

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Dieses Universum und unser Leben in ihm sind also keineswegs ohne Sinn. Denn das wäre die absurdeste Deutung, die man ihnen - vor dem Hintergrund des heutigen Wissens- und Diskussionsstandes - geben könnte. Vollends begeistert war der Autor dieser Zeilen, als ab Minute 26 in dieser Diskussion der Philosophie-Professor Holm Tetens (geb. 1948) (Wiki) (ganz rechts sitzend), vormals Berlin, anfing, von Kunst zu reden, von Johann Sebastian Bach. "So muß das,", rief er geradezu verzweifelt aus, "so muß das, verdammt noch mal - - - meine Güte!!!" - - - Tetens sagt (1):
Das ist erst einmal eine Intuition und über die kann man natürlich streiten, daß ein Universum, in dem Einstein auftritt und die Feldgleichungen hinschreibt (...) für die Struktur der Raumzeit und für den Zusammenhang mit der Verteilung der Materie und in dem er damit etwas Objektives, Richtiges am Universum feststellt, daß ein solches Universum ein "besseres" Universum ist, als ein Universum, in dem es auch diesen Sachverhalt, diese Gesetzmäßigkeit gibt, in dem es aber niemanden gibt, der das erkennt, der das zu würdigen weiß, und der sagt "Ach, das ist aber großartig". Ein anderes Beispiel zur Unterstützung, zur Plausibilisierung dieser Intuition, daß ein erkanntes Universum ein besseres Universum ist, ist natürlich jede Form von Kunst. Ich meine, ich finde es großartig, daß Johann Sebastian Bach Musik geschrieben hat, und daß wir diese Musik hören können, und daß wir von dieser Musik angerührt sind, daß wir sogar so angerührt werden können von dieser Musik, daß unsere grundsätzliche Einstellung zum Ganzen der Welt sich ändert. Das hat ja auch etwas mit religiösen Gefühlen zu tun.
Und in diesem intuitiven Sinne (...) würde ich sagen, ist ein Universum, in dem es Subjekte gibt, die dieses Universum erkennen, ein besseres Universum als ein Universum, wo Materie, geistlose, bewußtseinslose, blinde Materie einfach vor sich hin agiert, nach bestimmten Mechanismen abläuft, ohne daß jemals jemand auftritt, der das erkennt, und der sich fragt "Welchen Sinn hat das Ganze? Hat das Ganze einen Sinn oder hat es keinen Sinn? Was muß ich denn annehmen, wenn es einen Sinn hat oder nicht?" Ich gebe zu, das kann ich nicht beweisen. Aber das ist meine Intuition. Und das ist im übrigen eine Intuition, die betrifft einen so zentralen Aspekt meines Selbstverständnisses, daß ich nicht ohne weiteres bereit bin, davon Abstand zu nehmen. Denn es betrifft mich vor allem als ein Wesen, das im Positiven wie im Negativen damit beschäftigt ist, die Wahrheit zu erkennen, daran scheitert, es wieder versucht und so weiter. Es betrifft also einen so zentralen Aspekt unseres Menschseins, daß ich jedenfalls die These, daß alles nur Zufall sei, "Du bist als ein erkennendes Wesen in diese Welt geworfen, aber da steckt keine Absicht dahinter, mach dir nichts draus, du wirst sowieso sterben, ein paar werden sich noch an dich erinnern, irgendwann werden auch die letzten, die sich noch an dich erinnern, gestorben sein, du wirst spurlos aus diesem Universum verschwunden sein", bevor ich das glaube, muß man wirklich sehr, sehr starke Gründe haben, um zu sagen: "Das ist aber leider so, gewöhne dich bitte an den Gedanken, das ist so." Denn zuerst einmal möchte ich sagen können: Ich darf mich in dieser Welt als ein um Vernunft bemühtes, selbstbewußtes Wesen verstehen. (...) Deshalb lasse ich mir die These, daß das Universum auf Erkennbarkeit angelegt ist, nicht so leicht von jemandem ausreden, sondern da würde ich sagen: Da mußt du sehr, sehr gute Gründe haben, wenn du sagst "Das ist eine völlig unhaltbare, alberne, nur von Wunschdenken bestimmte These."
Ein unglaubliches Statement. Fast möchte man sagen, eine neue Luther-Rede: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!" Man spürt sofort, wie viel "Hintergrund" dieses Statement hat, daß damit ein ganzes - und insbesondere: ein neues - Weltbild verbunden ist. Ein Weltbild, in dem wir Menschen uns mehr zu Hause fühlen können, das uns Menschen angemessener ist als all der - man Entschuldige schon! - atheistische Scheiß, der uns seit Jahrzehnten so unendlich lang um die Ohren gehauen wurde. Als all der materialistische und atheistische Scheiß. Man entschuldige schon.

Und vor allem: Man beachte doch bitte, wie sich hier plötzlich die Rollen vertauscht haben. In früheren Generationen haben Physiker selbst noch recht oft mit Nachdruck aus der Haltung heraus geforscht, daß ihre Forschung und die Ergebnisse dieser Forschung - natürlich - etwas zu tun haben und zu sagen haben in Richtung auf Sinnfragen des Menschen. Auch Albert Einstein gehörte übrigens zu diesen Wissenschaftlern, ebenso Werner Heisenberg, ebenso Manfred Eigen. Und so unzählige weitere, nicht zu vergessen insbesondere auch Konrad Lorenz. Und die Philosophen haben das - nicht selten - infrage gestellt oder zerredet oder - was wohl am häufigsten vorkam: ignoriert.

In dieser Diskussion jedoch wenden die beiden anwesenden Physiker alle rhetorischen und argumentativen Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, dazu auf, einer solchen Stellungnahme, einem solchen Bekenntnis auszuweichen. Sie wollen sich nicht festlegen. Sie wollen auch nicht festgelegt werden. Sie wollen ihre Wissenschaft im Nirwana des Elfenbein-Turmes der Wissenschaft machen. Aber bitteschön soll sie doch niemand danach fragen, welche Bedeutung diese ihre Wissenschaft für eine Sinngebung des menschlichen Lebens hier in diesem Universum haben könnte. Dafür ist die Religion zuständig. Und die Religion soll - bitteschön - nicht danach fragen, was die Wissenschaft macht. (Das Mantra von so höchst "lieben" Leuten wie Stephen Jay Gould oder Jürgen Habermas, wobei letzterer sich schon vor zehn Jahren zu ersten Rückzugsgefechten diesbezüglich - nämlich in Bezug auf Fragen zur Willensfreiheit des Menschen - bereit gefunden hatte.)

Jetzt hier in dieser Diskussion aber sind die Rollen vollständig vertauscht. Die Philosophen fordern - aus ihrer Frage nach Sinngebung in diesem Leben heraus - die Physiker zum Bekenntnis, zur Stellungnahme. Eine völlig neue Situation. Deshalb können einen diese Ausführungen des Herrn Tetens so hinreißen. Sie fordern neuerdings die Vereinheitlichung unseres Weltbildes, unseres Wissens, nicht mehr die Naturwissenschaftler. Was für eine Situation! Wie sind plötzlich die Stühle vertauscht! Wenn das Schule macht. Nicht auszudenken.

Fast unnötig darauf hinzuweisen, daß alle Ausführungen, die hier gemacht werden, in vollständigem Einklang stehen mit jenem naturwissenschaftsnahen philosopischen Entwurf, der ab 1921 Teil der Geistesgeschichte der Menschheit wurde und von Seiten einer Schülerin von August Weismann, einer vormaligen Anhängerin von Ernst Haeckel und einer Assistentin von Emil Kraeppelin stammt (7).

(Man beachte allerdings, daß die Diskussion in dem obigen Video nach der ersten Hälfte abflacht. Da kommt dann nicht mehr so viel Neues - aber das wollen wir im Laufe der Zeit noch selbst genauer überprüfen.)

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Diese Ausführungen geben natürlich Anlaß, sich auch noch einmal den Einzelvortrag des Professors Tetens auf dieser Tagung anzuhören (2). Dieser Mann hat Logik, Wissenschaftstheorie und Argumentationstheorie an der Freien Universität Berlin gelehrt. Er hat sich bis etwa 2015 selbst als Atheist verstanden. Es gibt also wirkich Gründe genug zu sagen, daß seine Argumentationsstruktur ernst zu nehmen ist. Man kann ihr folgen, sie ist naheliegend und nachvollziehbar. In letzter Instanz ist die Annahme eines göttlichen Willens, aufgrund dessen das Universum und die menschliche Erkenntnisfähigkeit innerhalb dieses Universums entstanden sind, "Glaubenssache". So wie der Atheismus auch. Aber die Plausiblitätsargumente für die Annahme eines göttlichen Willens (den man sich nicht mit Tetens monotheistisch vorstellen muß) sind längst viel größer geworden als jene gegen eine solche Annahme. Und dies geschah, das stellt Tetens in seinem Vortrag womöglich noch nicht genügend heraus: durch die moderne naturwissenschaftliche Forschung.

Wenn man beachtet, welchen angesehenen Lehrstuhl Tetens innerhalb der deutschen Philosophie innegehabt hat, dann muß man doch sagen, daß einem in der Öffentlichkeit ein bisschen auffällig zu wenig über diese doch recht gewichtigen Argumente von Tetens (und Leuten seiner Art) geredet wird. Man darf sich auch fragen: Was sagen denn die etwaig noch existenten, früheren Anhänger des Jürgen Habermas, unseres einstigen atheistischen "Staatsphilosophen" dazu? Sollte nicht womöglich endlich einmal klar das Ende des Zeitalters der "Postmoderne" verkündet werden? Es geht ja nicht nur um die Lebensentscheidung einzelner Menschen, es geht auch um den Geist des Zeitalters, von dem diese Lebensentscheidungen mit beeinflußt sind.

Auf Verständnisfragen zu dieser Diskussion hin könnte gesagt werden: Daß das Weltall auf Selbsterkenntnis hin ausgelegt ist, steht ja außer Zweifel. (Jedenfalls inzwischen auch für viele Physiker.) Philosophisch könnte gesagt werden: Es will die Menschen "groß". Deshalb ist es selber so "groß". Und im Angesicht der Weiten des Alls, der - für uns - dimensionslos großen Größen des Alls, im Angesicht der ungeheuren Zeiträume, die schon menschlich gesprochen "ewig" genannt werden müssen, die das All besteht, will es uns - womöglich - darüber belehren, daß es auf Zeit, Raum und Materie an sich auch gar nicht ankommt. Wenn aber schon das platonisch "Gute" (Halfwassen, John Leslie) in ein materielles Gewand eintaucht (weil Selbsterkenntnis, Bewußt-Werden des jenseits von Raum, Zeit und Kausalität als vorliegend zu vermutenden "Großen" nur dadurch möglich wird), daß es sich dann allerdings ein Gewand von erhabener Größe gibt. "Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre."

Tetens jedenfalls wendet die von ihm selbst über viele Jahre hinweg gelehrte Argumentationstheorie an, um das Anthropische Prinzip der Astrophysik philosophisch in nicht-atheistischem Sinne zu deuten. 2015 erschien seine Monographie "Gott denken" (5), in der er argumentierte, daß es vernünftige Gründe gäbe, die Möglichkeit eines persönlichen Gottes anzunehmen und sein Leben darauf auszurichten. Die Argumentationsstruktur dieses Buches stellt Tetens dann in diesem Vortrag aus dem Jahr 2018 vor (2).

Insbesondere kann einen das Engagement von Teten faszinieren, das mehr noch sichtbar wurde in der Diskussion mit Theoretischen Physikern, auf die hier eingangs hingewiesen wurde (1). Aber was folgt denn daraus, wenn der Mensch gewollt ist in diesem Universum? War denn damit die heute im öffentlichen Leben allseits verbreitete Versimpelung, Infantilisierung und Veridiotisierung gemeint? Man möchte doch meinen, daß eine Besinnung auf die geistigen Grundgehalte unserer Kultur schon lange an der Zeit ist und auch seit langem überfällig.

Kommt sie also hier zurück, die "Vertikalspannung des Menschen", wie dies von Peter Sloterdijk benannt worden ist - durch die moderne Naturwissenschaft?

Tetens bezieht sich in der Diskussion auf den britischen Physiker und Theologen John Polkinghorne (geb. 1930) (Wiki, engl). Polkinghorne hat - laut Wikipedia - unter anderem folgende Fragen gestellt:
Naturgesetze erwecken Fragen, welche naturwissenschaftlich nicht mehr zu beantworten sind: Warum ist uns die natürliche Welt so verständlich? Warum sind ihre Gesetze so fein aufeinander abgestimmt, daß sich eine fruchtbare Geschichte entfalten kann? Warum ist Naturwissenschaft möglich? Warum hat das Universum so eine besondere Gestalt? 
Und (6):
Religion ohne Naturwissenschaft ist begrenzt; ihr mißlingt es, für die Wirklichkeit völlig offen zu sein. Naturwissenschaft ohne Religion ist unvollständig; es mißlingt ihr, das tiefste mögliche Verstehen zu erreichen.
Der Name Polkinghorne ist dem Autor dieser Zeilen im Laufe der Jahre sicher einmal untergekommen. Aber er wundert sich gerade, daß er  dessen Denken nicht genauer nachgegangen ist. Erst wenn man solche Leute wie Polkinghorne berücksichtigt, versteht man ja auch, warum der Erzbischof von Wien, Schönborn, im Jahr 2005 seine "Katechesen über Evolution und Schöpfung" halten konnte, die uns damals so auffällig erschienen waren.

Jedenfalls bewegt sich auch Holm Tetens im Rahmen genau solcher Gedanken in dieser Diskussion. Und auffallenderweise sind diese Gedanken heutigen Physikern immer noch - neu. Der Grund dafür dürfte - unter anderem - sein, daß es für eine vorhergehende Generation von Physikern und Naturwissenschaftlern, insbesondere unter den führenden, selbstverständlicher war, sich mit Philosophie zu beschäftigen, als es das für viele heutige, führende Physiker und Naturwissenschaftler zu sein scheint. Von was für ausführlichen philosophischen Diskussionen mit Nils Bohr und anderen berichtet Werner Heisenberg in seinen Lebenserinnerungen "Der Teil und das Ganze". Das ist - scheinbar - lange her. Und ein solches Selbstverständnis ist in der gegenwärtigen Generation von Physikern bei weitem nicht mehr so deutlich ausgeprägt und sichtbar. Und das dürfte der Grund sein, wehsalb der heutige Impuls zum Nachdenken über die philosophische Deutung des Anthropischen Prinzips und des naturwissenschaftlichen Weltbildes insgesamt deutlich stärker von Seiten der Philosophie her kommt als von Seiten der Naturwissenschaft.

Also schließen wir eine Bildungslücke: Polkinghorne war bis 1979, bis zu seinem 49. Lebensjahr als Physiker tätig. 1979 legte er seine Professur nieder und durchlief eine theologische Ausbildung (Wiki):
In einem Interview sagte er, daß er das Gefühl hatte, daß er nach 25 Jahren seinen Teil zur Wissenschaft beigetragen hätte, und daß er die besten mathematischen Arbeiten, zu denen er fähig war, wahrscheinlich schon geleistet hätte; das Christentum war immer wesentlich für sein Leben gewesen und deshalb eröffnete eine Priesterweihe ihm eine attraktive zweite Karriere.
He said in an interview that he felt he had done his bit for science after 25 years, and that his best mathematical work was probably behind him; Christianity had always been central to his life, so ordination offered an attractive second career.
Und in der Tat machte er dann eine steile Karriere innerhalb der Anglikanischen Kirche. Er gesteht ein, daß er von manchen als "vegetarischer Metzger" wahrgenommen werden könnte (Wiki):
Als Theologe mit physikalischem Hintergrund beeindruckt ihn vor allem die formale mathematische Schönheit der Quantenmechanik und Relativitätstheorie, insbesondere die - in den Worten von Eugene Wigner - unerklärbare Effektivität der Mathematik in den Naturwissenschaften. (...) Er sieht darin das Wirken einer höheren, ordnenden Macht. Einen weiteren Hinweis darauf sieht er in den speziellen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit überhaupt intelligentes Leben im Universum entstehen kann (Anthropisches Prinzip).
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  1. Physiker und Philosophen diskutieren über den Ursprung des Universums. Podiumsdiskussion beim Workshop "Ursprung des Universums" am 7.-9. Dezember 2018 an der  Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungshaus in Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 24.04.2019, https://youtu.be/dAUJ8IB3N_0.
  2. Tetens, Holm: Materie oder Geist als Ursprung des Universums. Vortrag beim Workshop "Ursprung des Universums" am 7.-9. Dezember 2018 an der  Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungshaus in Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 18.12.2018, https://youtu.be/GWWuVaKNXGI.
  3. Halfwassen, Jens: Der absolute Ursprung bei Plotin. Vortrag beim Workshop "Ursprung des Universums" am 7.-9. Dezember 2018 an der  Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart im Tagungshaus in Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 24.01.2019, https://youtu.be/jdhNQvi8ac8.
  4. Hüfner, Jörg: Georges Lemaîtres Vorstellungen vom Anfang der Welt und vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion. Vortrag beim Workshop "Ursprung des Universums" vom 7.-9. Dezember 2018, Tagungszentrum Stuttgart-Hohenheim, veröffentlicht auf Video-Kanal "Grenzfragen" am 20.12.2018, https://youtu.be/8OW2w1zqHVk.
  5. Tetens, Holm: Gott denken. Ein Versuch über Rationale Theologie. Reclam, Stuttgart 2015
  6. Polkinghorne John: Theologie und Naturwissenschaften. Gütersloh 2002 
  7. Ludendorff, Mathilde: Triumph des Unsterblichkeitwillens. 1921

Dienstag, 17. März 2020

Eine Malerin aus Westpreußen - Clara Siewert

Zugehörig der "Berliner Secession" - Erst 2008 wieder entdeckt

Die Hexe auf dem Dichterpferd Pegasus, 1910-20 
(Ostdeutsche Galerie, Regensburg)

Der Kulturgeschichte Westpreußens (Wiki) wird selten gedacht. So mag man eher nur durch Zufall auf die "Siewert-Schwestern" stoßen. Dabei handelt es sich um eine Schriftstellerin und eine Malerin, die aus Budda im Landkreis Preußisch Stargard in Westpreußen stammen. Budda war ein Landgut, das einsam inmitten von Wäldern 56 Kilometer südlich von Danzig lag.

Die ältere der beiden Schwestern war Clara Siewert (1862-1945)(Wiki, engl). Sie war eine Malerin, die 1900 bis 1912 - zusammen mit Käthe Kollwitz - der Berliner Secession angehört hat und auch sonst an vielen Kunstausstellungen teilgenommen hat.

Weiblicher Halbakt

An sie soll im vorliegenden Beitrag erinnert werden, vor allem mit einigen ihrer Werke. Im Oktober 1945 ist Clara Siewert mit 83 Jahren verarmt in Berlin gestorben. Der Berliner Secession hatte sie als eine von wenigen weiblichen Künstlerinnen angehört. Es ist aber nicht klar, warum sie dieser nach 1912, also nach ihrem fünfzigsten Lebensjahr nicht mehr angehört hat. Käthe Kollwitz hat 1916 in ihrem Tagebuch festgehalten (Wiki):

"Den ganzen Tag juriert. Nicht geglückt, Clara Siewert hereinzubringen."

Die jüngere der beiden genannten Schwestern, Elisabeth (1867-1930) (Wiki), hat vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren Romanen einige Erfolge gehabt (Wiki):

Daß die Texte von Elisabeth Siewert bis 1916 eine große Resonanz in frauenbewegten und noch bis 1923 in einer sozialistischen Zeitschrift fanden, liegt darin begründet, daß die Texte, zumindest bis zu dieser Zeit, bei aller Heimatverbundenheit im gesellschaftlichen Kontext und dem Frauenbild der Zeit ausgesprochen modern waren. Immer wieder handelten die Geschichten von verrückten Mädchen/Schwestern aus dem Bildungsbürgertum, die in die große Stadt aufbrachen, um sich künstlerisch selbst zu verwirklichen und auf eigenen Füßen zu stehen. Auch die übrigen Frauengestalten Siewerts waren von der traditionellen Geschlechterrolle in der Regel weit entfernt oder scheiterten an dieser Rolle. Ein weiterer Grund war, daß Siewert ihre Figuren immer wieder betonen ließ, wie wenig ihr Autoritäten, Prediger oder der Glaube an ein höheres Wesen zu geben vermochten.

Sitzender weiblicher Akt

Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 waren sie Schwestern schon 52 und 47 Jahre alt. Sie hatten den Höhepunkt ihrer Lebensbahn bis dahin schon überschritten. Und beide hatten dabei ja auch schöne Erfolge erzielt. Es mag also gar nicht so viel Sinn machen, den Umstand gar zu sehr zu gewichten, daß die beiden Schwestern nach 1914 und nach der Überschreitung ihres fünfzigsten Lebensjahres nicht mehr an die künstlerischen Erfolge anknüpfen konnten, die sie bis dahin erreicht hatten.

Immerhin aber scheinen beide Schwestern selbst unter diesem Umstand sehr gelitten zu haben. Von dem Lebensbild beider Schwestern bleibt als Eindruck zurück, daß sie niemals ganz im Leben angekommen waren und ein Teil ihrer Seele immer noch einer glücklichen Kinderzeit verhaftet blieb, von der es ihnen nicht gelang, sie in ein reifes künstlerisches Schaffen hinüber zu "transponieren". Die beiden Schwestern lebten mit einer dritten Schwester, die ebenfalls Malerin war, zusammen in Berlin in einer Wohnung. Aber keine von ihnen hat jemals geheiratet und Kinder gehabt. Elisabeth, die Schriftstellerin, ist dann schon im Jahr 1930 mit 63 Jahren gestorben.

Stehender weiblicher Akt

Frauen wie Gertrud Bäumler oder Lulu von Strauß und Torney haben sich in Rezensionen anerkennend mit den Romanen von Elisabeth Siewert beschäftigt (Wiki):

Im Zentrum von Elisabeths oft autobiographischem Werk stehen Figuren, vielfach Schwestern, die immer wieder der Frage nachgehen, wie es geschehen konnte, daß das glückselige Himmelreich der Kindheit verlorenging. Gleichzeitig läßt sie ihre Figuren ahnen, daß ihre Sehnsucht nach der versunkenen Kinderwelt nur der Boden zur Weiterentwicklung sein kann. Wie sie selbst suchen ihre Figuren nach Wegen, aus der seligen, aber auch einengenden Erinnerung auszubrechen und im Leben zurechtzukommen. Siewerts Sprache ist eher herb und spröde, vornehmlich in den Romanen aber auch humorvoll. Zu Lebzeiten als "protestantische Droste" bezeichnet, war sie mit ihren Novellen bis zum Ende der 1910er-Jahre vor allem in Zeitschriften der Frauenbewegung und in den Sozialistischen Monatsheften vertreten. In diesen Medien wurde sie auch mehrfach ausführlich rezipiert.

Danach geriet Elisabeth in Vergessenheit und ihres Werkes wurde in den 1920er Jahren nur noch in den - freilich nicht unbedeutenden - "Ostdeutschen Monatsheften" gedacht. Beide Schwester haben also ein irgendwie ähnliches Schicksal erlebt was einen Rückgang in der künstlerischen Geltung und Anerkennung in den 1920er Jahren betrifft. Der Novelle "Die Abenteuer der Oijamitza", die 1928 erschienen ist (Wiki), ist vielleicht auch zu entnehmen, daß die Autorin und ihre beiden Schwestern in ihrem Leben wenig Erfahrungen im Umgang mit der Männerwelt gesammelt haben, vielmehr dem Zusammensein untereinander verhaftet geblieben sind. Auch in den Werken der Malerin findet sich Männer selten dargestellt.

Zwei weibliche Akte

Elisabeth Siewert konnte immerhin noch viele Jahre von den Verkäufen ihrer Romane leben, die schon vor dem Ersten Weltkrieg erschienen waren. Und sie konnte damit auch ihre Schwester Clara, die Malerin unterstützen. Über die Malerin nun ist zu erfahren (Wiki):

Als sie 1930 im Begriff war, nach vier aufeinanderfolgenden Beteiligungen an der Großen Berliner Kunstausstellung wieder Fuß zu fassen, starb die Schwester Elisabeth. Der Tod ihres "Lebensmenschen" im Juni 1930 stürzte Clara in eine Depression und erneute materielle Krise.

1930 war Clara nun schon 68 Jahre alt. Es entsteht dennoch der Eindruck, daß sie das Gefühl hatte, künstlerisch nicht das erreicht zu haben, was sie hätte erreichen sollen. Immerhin war sie ja zeitweise mit Käthe Kollwitz befreundet und hatte persönliche Kontakte zu Lovis Corinth, Walter Leistikow, Max Liebermann, Max Slevogt und Alfred Kubin gepflegt.

Stehender weiblicher Akt

Vermutlich auch aus diesen Gründen hat sie noch in späteren Lebensjahrzehnten mehr von ihrem künstlerischen Erfolg erwartet (Wiki):

Sie bezeichnete sich selbst als "Kleinrentnerin" und stellte 1939 beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda einen Antrag auf Beihilfe. Das Ersuchen um die sogenannte Spende "Künstlerdank" begründete sie damit, daß sie "ganz ohne Gelderwerb" sei und "mit etwas Ruhe [ihre] letzten Arbeiten vollenden" wolle. Sie war zwar Mitglied der Reichskulturkammer, nie aber der NSDAP. Immerhin war der Berliner Kunsthändler und Galerist Wolfgang Gurlitt auf die Malerin aufmerksam geworden. Er organisierte 1936 in seiner Galerie den letzten großen Auftritt Siewerts. Die bis dahin mit 174 Werken umfangreichste Ausstellung zu ihrem Schaffen blieb allerdings ohne große Resonanz. Eine geplante Folgeausstellung verhinderte der Beginn des Zweiten Weltkrieges.

1944 fiel ihr Haus und Atelier dem Bombenkrieg zum Opfer. Dabei ging auch ein großer Teil ihres Werkes unwiderbringlich verloren. Erst seit dem Jahr 2008 wird das Werk von Clara Siewert - zunächst insbesondere durch die Ostdeutsche Galerie in Regensburg - wiederentdeckt!

Sitzender weiblicher Akt

Wenn man es recht versteht, kennzeichnete die Siewert-Geschwister von Jugend an ein gewisser übertriebener Unernst, von dem man auch in Schilderungen über ihre Jugend in Westpreußen wieder findet. Dieser findet sich dann auch in manchem weniger gültigen Werk von Clara Siewert wieder.

Vielleicht hat dieser Unernst dazu geführt, daß ihr künstlerisches Schaffen nach ihrem 50. Lebensjahr nicht mehr so dauerhafte und stetige Erfolge aufweisen konnte wie zuvor. 

Zum Beispiel hat sie sich künstlerisch häufig mit dem Hexen-Thema auseinander gesetzt. Dabei bleiben diese Werke - bei aller dennoch vorhandenen Gültigkeit der Aussage - doch oft auch einem gewissen Zug von spielerischem Unernst verhaftet, der der Gesamtaussage des Werkes dann wieder schadet. Womöglich bewegte sich das künstlerische Leben beider Schwestern in diesem Zwiespalt.

Sitzender weiblicher Akt

Diese Uneinheitlichkeit in der Aussage findet sich allerdings in den besten Werken von Clara Siewert keineswegs. Als diese erachten wir insbesondere ihre zahlreichen Akt-Zeichungen. Hier ist künstlerischer Ernst vorherrschend, künstlerische Begeisterung vorherrschend und gar nichts anderers. Hier ist also die künstlerische Aussage gültig und zeitlos. So zumindest will es uns scheinen.

Ihre Themenwahl ist durchaus sehr berührend. Eine Hexe, die auf dem Dichter-Roß Pegasus reitet, das ist ein außerordentlich erregendes Thema, ganz ohne Frage. Der Gedanke kann nicht ausbleiben, daß sie bei diesem Thema an ihre Schwester Elisabeth gedacht haben könnte.

Aber man wünschte sich nun noch einen Zug mehr Erschütterung in dem Werk über diesen krassen, dargestellten Gegensatz - den Gegensatz zwischen teuflischen weiblichen Antrieben ("Hexe") und dem Bemühen um reife künstlerische Aussage ("Pegasus"). Diese künstlerisch und menschlich zutiefst aufwühlende Thematik ergreift. Noch heute.

Hexe

Abschließend ...

Welchen einleitend erwähnten Zufällen kann man es verdanken, auf die Siewert-Schwestern aufmerksam geworden zu sein? 

Wenn einer von uns müde wird,
der andere für ihn wacht.
Wenn einer von uns zweifeln will,
der andere gläubig lacht.
Wenn einer von uns fallen sollt',
der andere steht für zwei,
Denn jedem Kämpfer gibt ein Gott
den Kameraden bei.

Dieses Gedicht hatte man irgendwann irgendwo einmal vor Jahren gelesen. Das Gedicht drückt ja einen sehr allgemeinen Gedanken aus und in einer so knappen und gelungenen Wortverdichtung, daß damit viel "auf den Punkt" gebracht sein könnte und dies einem deshalb mit guten Gründen in Erinnerung bleiben könnte. Wünscht sich nicht jeder Mensch einen solchen Kameraden, einen solchen Freund? Vermutlich hatten die Siewert-Schwestern aneinander einen solchen Freund und Kameraden, einen solchen "Lebensmenschen". Freilich, mit Kampf und Sterben haben es die Menschen heute nicht mehr so wie man es noch in früheren Zeiten gehabt haben mag. Fragt man nun jdeoch nach dem genauen Text dieses Gedichtes, findet man diesen - und auch noch den Namen des Dichters desselben (ingeborg):

Herybert Menzel, 1944 (1906-1945)

Was für Jahreszahlen - schießt einem sofort durch den Sinn. 1944 ein solches Gedicht gedichtet, 1945 tot. Und der Dichter stammt aus der Provinz Posen und ist auch dort gestorben: Herybert Menzel (geb. 1906 in Obornik bei Posen; † Februar 1945 in Tirschtiegel bei Posen) (Wiki; weitere Angaben: Metapedia). Sofort ist die Aufmerksamkeit geweckt. Und indem man sich mit Leben und Schaffen von Herybert Menzel beschäftigt - darüber soll demnächst noch ein Beitrag hier auf dem Blog erschienen, wird man darauf gestoßen, daß er befreundet war mit den Siewert-Schwestern und daß er 1930 einen Nachruf auf Elisabeth Siewert geschrieben hat, über den man noch heute vieles über die beiden Schwestern erfahren kann. - Fast alles vergessen heute. Denn es handelt sich um Menschenleben, die in der Heimat des deutschen Weichsellandes wurzelten, des verlorenen.

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  1. Werke von Clara Siewert, https://www.kunstkopie.de/a/siewert.htm
  2. Zieglgänsberger, Roman u.a.: Clara Siewert. Zwischen Traum und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog. Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Regensburg 2008