Sonntag, 10. September 2017

Die intelligentesten Arten einer Tiergruppe weisen die intensivste Paarbindung auf

Konrad Lorenz, der Forscher und Mahner, in wenig bekannten Film- und Tondokumenten

Im Jahr 1972 hielt der Begründer der Verhaltenswissenschaft Konrad Lorenz (1903-1989) (Wiki) in Göttingen einen Vortrag mit einem Titel ("Soziale Bindungen und die in ihrem Dienste ritualisierten Verhaltensweisen"), der nicht unbedingt gleich deutlich werden läßt, mit welchen grundlegenden Dingen er in diesem Vortrag befaßt war (5): Soweit uns das übersehbar ist, äußerte er in diesem Vortrag mehrere bedeutsame Erkenntnisse, die in Schriftform so von ihm niemals veröffentlicht worden sind. Sie stellen aber mehr oder weniger "Intuitionen" dar, die oft erst Jahrzehnte später - sprich erst vor wenigen Jahren - ihre außerordentlich überraschende wissenschaftliche "Verifikation" erlangt haben, also den gültigeren, allgemeinen Nachweis, daß - und wie sehr - diese seine Intuitionen der Wirklichkeit entsprechen.




Zu diesen Intuitionen, die er aus den verschiedensten Verhaltensbeobachtungen während seines langen Lebens gewonnen hat, und die er durch den ganzen Vortrag hindurch breit referiert, gehört insbesondere auch jene, daß Konrad Lorenz an einer Stelle im Vortrag sagt, daß die intelligentesten Arten einer Gruppe von Fischen oder Entenvögeln oder Hühnervögeln auch die intensivste Paarbindung haben, daß es also zwischen Paarbindung und Intelligenzevolution auf sehr grundlegender Ebene einen Zusammenhang gibt. Er behandelt also lang und breit die unterschiedlichsten Erscheinungen, die mit der Paarbindung bei unterschiedlichsten Tierarten verbunden sind und sagt dann (5, 21.38'ff):
Es ist also ganz sicher so, daß die Bindung auf individuellen Kommunikationen beruht, die also individuell verschieden sein müssen. Es setzt also die individuelle Bindung immer schon eine gewisse Lernfähigkeit, eine hohe Lernfähigkeit auf dem Gebiete der Gestaltwahrnehmung und auch sonst voraus. Damit stimmt eine sehr interessante Korrelation, daß nämlich innerhalb einer Tiergruppe seien es die Fische oder die Entenvögel oder die Hühnervögel immer gerade die Klügsten, die Lernfähigsten diejenigen sind, bei denen die besten Paarbindungen stattfinden.
Konrad Lorenz gibt viele gute Beispiele für den Hintergrund und die Konsequenzen dieses Zusammenhangs. Er kommt später auch auf aggressives Verhalten und Rangordnungs-Verhalten zu sprechen. Und am Ende spricht er sogar über menschliche Gruppen und die individuellen Freundschaften, auf die sie aufgebaut sind. Nämlich ab Minute 47.53', wo er zusammen faßt (5):
Also Bindungen, persönliche Bindungen sind die Basis alles fruchtbaren Zusammenhaltens von kleinen menschlichen Gruppen.
Und dann kommt er auf jene seiner Intuitionen zu sprechen, die den Menschen als Gruppenwesen betreffen. Hier äußert er schon im Jahr 1972 viele Gedanken, die ebenfalls erst in den letzten Jahrzehnten (ebenfalls nicht zuletzt durch die Forschungen des britischen Anthropologen Robin Dunbar) vielfältige Bestätigung, Ergänzung und Erweiterung erfahren haben innerhalb der naturwissenschaftlichen Forschung, etwa insbesondere im Bereich der Social Brain-Theorien. (Das im einzelnen nachzuweisen, soll an dieser Stelle vorerst nicht geleistet werden.)

Der erstgenannte außerordentlich bedeutsame Gedanke wurde erst vor zehn Jahren - 2007 - von dem britischen Anthropologen Robin Dunbar und seinen Mitarbeitern anhand von statistischen Artvergleichen verifiziert - und zwar von diesen im Grunde ganz unbeabsichtigt. Darüber ist an anderer Stelle von uns schon 2007 berichtet worden (6, 7). Und ein Jahr später wurde in einer anderen Studie auch die Evolution von Altruismus mit Paarbindung in Verbindung gebracht (8). Schließlich haben neun Jahre später auch andere Wissenschaftler diesen Stab aufgenommen und gehen diesen Gedanken in allgemeinerer Weise nach (9, 10). Konrad Lorenz wäre von diesen Forschungen, daran dürfte wohl kein Zweifel bestehen, sehr angetan.

Vor zwei Jahren nun hatten wir das eingangs erwähnte Video von Konrad Lorenz entdeckt (an einer Stelle, wo es zwischenzeitlich wieder aus dem Netz genommen ist). Und wir wiesen Robin Dunbar auf die Inhalte dieses deutschsprachigen Vortrages von Konrad Lorenz hin. Robin Dunbar antwortete:
Oh, that is VERY neat! Thanks VERY much for sending me this. You see, science consists in simply rediscovering what the great minds of the past already knew…..
Zu Deutsch also:
Oh, das ist wirklich großartig! VIELEN Dank, daß Sie mir das gesendet haben. Sie sehen, Wissenschaft eigentlich nur darin, das wieder zu entdecken, was die großen Köpfe der Vergangenheit schon lange gewußt haben.
Dieser Kennzeichnung ist nichts hinzuzufügen. Er könnte womöglich auch insgesamt auf die Bedeutung von Film- und Tondokumenten von Konrad Lorenz hinweisen, was die Aufgabe dieses Beitrages sein soll.

Die beiden Langspielplatten "Umweltgewissen" von 1989


Das Leben und Lebenswerk des Verhaltensforschers, Philosophen und Naturbewahrers Konrad Lorenz (1903-1989) (Wiki) ist der Leserschaft der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" in verschiedenen Beiträgen aus tiefer Begeisterung heraus dargestellt worden (1, 2). Wer diese Beiträge auf sich hat wirken lassen, dem sollte das Bewußtsein von der großen Bedeutung des Lebenswerkes von Konrad Lorenz für die Geistesgeschichte der Menschheit nicht mehr abhanden kommen können.




Insbesondere als Begründer der Evolutionären Erkenntnistheorie hat Konrad Lorenz grundlegendste Beiträge zu unserem heutigen, modernen Weltbild geleistet. Aus dem reichen Erkenntnissen seines Forscherlebens heraus wurde Konrad Lorenz in seinen letzten Lebensjahrzehnten zusätzlich aber auch noch zu einem der bekanntesten Gesellschaftskritiker seiner Zeit. Fast möchte man sagen, daß es schon zu seiner Zeit keinen authentischeren, thematisch breit aufgestellten und allgemein bekannten Gesellschaftskritiker gegeben hat als Konrad Lorenz. Und das mag auch noch für unsere heutige Zeit gelten.

Freilich gibt es andere Gesellschaftskritiker. Viele gibt es. Aber viel zu oft ist das, was sie vertreten, "durchstilisiert" entlang bestimmter "gruppenevolutionärer Strategien". Man spürt viel zu oft die Absicht, ist verstimmt und legt die Mahnungen unwirsch beiseite. Dies kann einem bei Konrad Lorenz nicht passieren. Hier spricht ein freier Mensch, nur sich selbst, der Wahrheit und der Kultur, der er angehört, verantwortlich.

Nun aber soll der vorliegende Beitrag dazu dienen, die genannten Beiträgen in der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" dadurch zu ergänzen, daß auf die vielfältigen, inzwischen bekannt und leicht zugänglich gewordenen Ton- und Filmdokumente von und mit Konrad Lorenz aufmerksam gemacht wird. Diese sind womöglich noch eindrucksvoller als jede schriftliche Übermittlung und jede Übermittlung über Bildbände. Sie geben einen Eindruck von dem tiefen Ernst im Denken, Leben und Handeln von Konrad Lorenz (3).

Der Autor dieser Zielen stieß erst vor wenigen Wochen auf eine frühere, größere Zusammenstellung von Hördokumenten von Konrad Lorenz, die schon 1989 unter dem Titel "Umweltgewissen" auf zwei Langspielplatten (bzw. Hörkassetten) veröffentlicht worden sind (3). Dabei können diese Hördokumente - laut Angabe - schon seit 2012 auf Youtube frei verfügbar angehört werden*). Auch weil man bei bloßen Hördokumenten nicht abgelenkt wird von Seh-Eindrücken, mögen solche Tondokumente manchmal noch eindrucksvoller in ihrer Wirkung sein als Filmaufnahmen von und mit Konrad Lorenz (die inzwischen ja auch reichlich verfügbar sind [4]).

Man kann Reden und Vorträge, in denen Konrad Lorenz weniger als Wissenschaftler denn als Mahner spricht (3), nicht anhören, ohne selbst von dem tiefen Ernst ergriffen zu werden, in dem Konrad Lorenz seine Gedanken vorträgt. Und somit ist über sie sicherlich noch ein direkterer, unmittelbarerer Eindruck vom Menschen und Menschheitswarner Konrad Lorenz möglich  geworden als über andere Formen der Mitteilung. Dies womöglich gerade auch für die Jugend, der es heute mitunter schwerer als früher zu fallen scheint, sich an ernsthaftere, populärwissenschaftliche Literatur in Bücherschränken und Buchhandlungen heranzuwagen.

Auf den beiden Schallplatten "Umweltgewissen" finden sich zum Beispiel auch viele Kerngedanken von Konrad Lorenz angesprochen, und zwar oft auch ganz neu oder anders formuliert als man es von anderen Quellen her kannte. So spricht Konrad Lorenz auf diesen etwa über die "Sinnentleerung der Welt" (3) (im dritten Video). Er äußert Gedanken, wie dieser Sinnentleerung entgegen gesteuert werden kann. Diese Gedanken stehen in voller Übereinstimmung mit den Anliegen des vorliegenden Blogs und mit denen der Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule". Und so findet man noch viele andere überraschende Gedanken und Handlungen auf diesen beiden Langspielplatten, von denen andernorts (vor allem in Büchern) noch nichts zu hören war.

Diese beiden Langspielplatten aus dem Jahr 1989 sind aber nun - und auch das überraschenderweise - gar nicht einmal die einzigen Tondokumente, die von Konrad Lorenz überliefert sind und inzwischen frei verfügbar geworden sind. Auf der Internetseite von "Konrad Lorenz Haus Altenberg" findet sich eine Zusammenstellung aller frei verfügbaren Tondokumente und Filme von und über Konrad Lorenz, die womöglich regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht wird. Und indem man auf diese Internetseite stößt, stößt man auf einen unglaublich reichen Schatz (4). Auf dieser Seite finden sich auch zahlreiche ausführliche Radio-Interviews mit Konrad Lorenz, sowie Ansprachen anläßlich von Preisverleihungen.


/Überarbeitet und ergänzt: 
26.9.2017, 4.5.2020/

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*) Es erscheint einem hier nicht zum ersten mal merkwürdig, wie lang bestimmte, wertvolle Video's auf Youtube veröffentlicht sind, ohne daß man jemals auf sie gestoßen ist. (In diesem Fall fünf Jahre lang!) Ob es hier bewußte Manipulationen der Suchalgorithmen gibt, die verhindern, daß man solche früher entdeckt, stehe dahin. (Solche Manipulationen sind ja inzwischen von der Firma Google gut bezeugt.) Jedenfalls wundert sich der Autor dieser Zeilen, der in den letzten Jahren gewiß häufiger nach neuen Video's von und über Konrad Lorenz gesucht hat, daß ihm die Hördokumente, auf die in diesem Beitrag hingewiesen wird, bislang entgangen sind - obwohl sie doch schon im Jahr 2012 veröffentlicht worden sind. (Oder sind wir in früheren Jahren über sie hinweg gegangen, da es sich "nur" um Hördokumente gehandelt hat? Das soll an dieser Stelle nicht völlig ausgeschlossen sein.)
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  1. Schäfler, Wilhelm: Tierfreund, Erforscher tierischen und menschlichen Verhaltens, Philosoph und Naturbewahrer. Leben und Werk von Konrad Lorenz. In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 63, September 1989, S. 1-12
  2. Leupold, Hermin: Wie sind die menschlichen Denk- und Erlebnisfähigkeiten zustandegekommen? Die evolutionäre Entstehung der angeborenen Formen menschlicher Erfahrung. In: In: Die Deutsche Volkshochschule, Folge 72, März 1991, S. 1-11
  3. Lorenz, Konrad: Umweltgewissen. Ein Hörbild mit Stimmdokumenten aus zwei Jahrzehnten begleitet von Bernd Lötsch. 2 Langspielplatten, CBS Schallplatten GesmbH, Wien 1989, https://www.youtube.com/watch?v=Nk8h8etRmjs&t=1s, https://www.youtube.com/watch?v=w_7NBsRYSd4&t=66s, https://www.youtube.com/watch?v=6_-p_Gg-UUc, https://www.youtube.com/watch?v=LSP13I5_osk, https://www.youtube.com/watch?v=6GwhGanh15s, https://www.youtube.com/watch?v=fB9alMDQJ4o; (s.a. Discogs)
  4. Filme und Audiodokumente über Konrad Lorenz. Konrad Lorenz Haus Altenberg, http://klha.at/kl_filme.html [10.9.2017] 
  5. Lorenz, Konrad: Soziale Bindungen und die in ihrem Dienste ritualisierten Verhaltensweisen. Vortrag anläßlich der Tagung Encyclopaedia Cinematographica, Göttingen 3. Oktober 1972, Film des Instituts für den wissenschaftlichen Film, https://youtu.be/QdnhQV2JyiU, https://youtu.be/Po22rgYOXRw.
  6. Bading, Ingo: Ist die monogame Bindung der Kern aller Intelligenz-Evolution auf der Erde? Die sensationellen neuen Thesen des britischen Anthropologen Robin Dunbar. Auf: Studium generale, 31. August 2008 (zuerst 15.11.2007), http://studgendeutsch.blogspot.de/2008/08/ist-die-monogame-bindung-der-kern-aller.html
  7. Bading, Ingo: Das menschliche Gehirn ist evoluiert, "um zu lieben". Auf: Studium generale, 16. November 2007, http://studgendeutsch.blogspot.de/2007/11/das-menschliche-gehirn-ist-evoluiert-um.html
  8. Bading, Ingo: Stand die monogame Lebensweise an der stammesgeschichtlichen Wurzel allen komplex-sozialen Lebens auf der Erde? Auf: Studium generale, 31. August 2008, http://studgendeutsch.blogspot.de/2008/08/stand-die-monogame-lebensweise-der.html
  9. Jacqueline R. Dillard: Disentangling the Correlated Evolution of Monogamy and Cooperation. In: Trends in Ecology & Evolution 31(7), May 2016, https://www.researchgate.net/publication/301829279_Disentangling_the_Correlated_Evolution_of_Monogamy_and_Cooperation 
  10. Jacqueline R. Dillard and David F. Westneat: Monogamy and Cooperation Are Connected Through Multiple Links - Why does cooperation evolve most often in monogamous animals. In: The Scientist, 1. August 2016, http://www.the-scientist.com/?articles.view/articleNo/46608/title/Opinion--Monogamy-and-Cooperation-Are-Connected-Through-Multiple-Links/

Samstag, 2. September 2017

"Ich glaube, daß man durch den Tod gezwungen wird, sinnvoll zu leben"

Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer äußert Grundgedanken der Philosophie von Mathilde Ludendorff und beklagt, daß ein entsprechender "philosophischer, konzeptioneller Überbau nicht propagiert" wird.

In einem Interview mit dem 70-jährigen Konstanzer Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (geb. 1947) (Wiki), das Anfang Januar dieses Jahres 2017 veröffentlicht worden ist (1), äußert sich dieser zu sehr grundlegenden Fragen nach dem Sinn des Todesmuß des Lebens und nach dem Sinn des Lebens. Viele seiner Gedanken stehen in hundertprozentiger Übereinstimmung mit der Philosophie von Mathilde Ludendorff (1877-1966) (Wiki). Aber ihren Namen nennt er an keiner einzigen Stelle. Dieses Interview soll im folgenden etwas gründlicher erörtert werden.

Gleich am Anfang des Interviews erörtert Ernst Peter Fischer den Gedanken:

"Der Tod ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden." 

Leider ist dieser Satz schon aus rein naturwissenschaftlicher Sicht nicht ganz richtig. Auch bei den weiteren Ausführungen sind leider manche gedanklichen Unschärfen bei der Mitteilung des naturwissenschaftlichen Forschungsstandes festzustellen. Aber man kann die Gedanken, die Fischer äußern will, ja hier noch einmal gedanklich etwas präziser fassen. Denn es ist klar, was er sagen will. Er spricht über die Einführung des gesetzmäßigen Alterstodes in der Evolution beim Übergang des Lebens vom Einzeller zum Vielzeller.

Die Einführung des gesetzmäßigen Alterstodes in der Evolution

Er vergißt zu erwähnen, daß Einzeller zwar nicht unbedingt einen gesetzmäßigen Alterstod kennen, daß aber Tod sehr wohl Teil ihres Leben ist und daß es den Tod sehr wohl seit der Zeit gibt, seit der es Leben gibt. Denn Einzeller können den Unfalltod sterben. Und sie sterben ihn in der Regel auch. Nur das "Todesmuß", der gesetzmäßige Alterstod, ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden. Das ist der Kerngedanke, den Ernst Peter Fischer hier zum Ausdruck bringen will.

Und das ist sehr wertvoll, daß er das tut. Dieser Kerngedanke stammt von dem berühmten deutschen Evolutionsforscher August Weismann. Und er ist zugleich der Ausgangspunkt der naturwissenschaftsnahen Philosophie seiner Schülerin Mathilde Ludendorff. Diese Philosophie ist ab dem Jahr 1921 nieder gelegt worden. Würde sich Ernst Peter Fischer auf diese Philosophie beziehen, würde es ihm wohl nicht so schwer fallen, seine Gedanken präziser zu fassen. Das Nichterwähnen dieser Philosophie wenn solche naturwissenschaftlichen im Zusammenhang mit philosophischen Fragen angesprochen werden, kann man heute kaum noch für intellektuell redlich halten.

Denn die philosophische Deutung der evolutionären Einführung des Alterstodes durch Mathilde Ludendorff steht sehr einzigartig da in der Philosophie-Geschichte. Dem Autor dieser Zeilen ist kaum eine Alternative zu dieser sehr grundlegenden philosophischen Deutung bekannt geworden. Diese philosophische Deutung schließt aber zugleich unmittelbar an auch noch an den heutigen Forschungsstand in der Naturwissenschaft, also jenen, auf den sich - unscharf - Ernst Peter Fischer in diesem Interview bezieht. Also darf man Mathilde Ludendorff nicht mit Schweigen übergehen. Denn welcher Gedanke ist naheliegender als ihrer, nämlich daß der materielle Unsterblichkeitswille der lebenden Zellen, der sich in ihrer Tendenz zur Zellteilung und Zellvermehrung Ausdruck verschafft, im Verlauf der Evolution und dann im Verlauf der Kulturgeschichte der Menschheit sich "vergeistigt" hat zu einem Unsterblichkeitwillen bewußter, mit einem Großhirn ausgestatteter Lebewesen? Zum menschlichen Willen, wie Ernst Peter Fischer es ausdrückt, auch bezüglich des Lebensendes "Grenzen überschreiten" zu wollen.

Krebszellen, so sagt Ernst Peter Fischer - im Einklang mit dem gegenwärtigen Forschungsstand - gewinnen die potentielle Unsterblichkeit zurück, schalten also evolutionär primitivere, einfachere Programme an, zerstören dabei aber das Leben des vielzelligen Organismus, dem sie angehören. Anhand dieses Umstandes will Fischer aufzeigen, daß auch noch in allen sterblichen Zellen aller Vielzeller die Tendenz vorhanden ist, sich unendlich teilen zu wollen und damit unsterblich zu leben, und dabei aber auf Kosten des Gesamtorganismus zu "wuchern".

Der (gesetzmäßige) Alterstod eines vielzelligen Organismus kommt aber - nach Fischer - gemäß eines Gedankenganges, den er in dem Interview leider ebenfalls viel ausführlicher erläutern müßte, um verständlich zu sein, dadurch zustande, "daß die einzelne Zelle im Gesamtverband des Organismus ihre Aufgabe erfüllt". Und diese Aufgabe besteht unter anderem - aber nur unter anderem - darin, nicht zur Krebszelle zu werden. Ansonsten besteht die Aufgabe der einzelnen Zelle eines Vielzellers vor allem darin, Nervenzellen das Leben zu unterhalten und damit schrittweise in der Evolution größeres Bewußtsein - bis hin zum Großhirn des Menschen - zu ermöglichen. So wie es Fischer ausdrückt, ist es aber natürlich noch keine vollständige Theorie des gesetzmäßigen Alterstodes. Aber immerhin.

Zum Nachdenken von Ernst Peter Fischer über diese Fragen könnte auch dazu gehören, daß er - wenigstens ansatzweise, aber vielleicht ungenügend - um das Nachdenken und die Forschungen meines Onkels, seines Konstanzer Kollegen, des Zellphysiologen Gerold Adam (1933-1996) (Wiki), wußte, für den das Wechselspiel zwischen dem Streben der einzelnen Zelle nach Unsterblichkeit (unendlicher Zellteilungsfähigkeit) und der Einordnung der einzelnen Zelle in einen vielzelligen, aber sterblichen Organismus mit streng gesetzmäßiger Zahl von Zellteilungen je nach Gewebeart das Hauptthema der Forschung seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte an der Universität Konstanz war.

Mit Bewußtsein unsterblich leben?

Bei einem anderen - eher philosophischen - Gedanken ist Fischer sich dann wieder sicherer, nämlich daß unsterbliches körperliches Leben mit einem bewußten Leben sehr schwer in Einklang zu bringen sein würde, daß vielmehr unser bewußtes Leben deshalb so ereignisreich und tatfroh ist wie es ist, weil wir sterblich sind. Würden wir körperlich viele hundert oder tausend Jahre leben, gäbe es ja keinen Grund, so Fischer, heute das zu tun, was man auch morgen tun könnte. Und der Mensch neigt ja bekanntermaßen dazu "aufzuschieben". Und dieser Gedanke ist natürlich ein sehr leicht nachzuvollziehender Gedanke. Es ist ein Gedanke, der genau so auch schon von Mathilde Ludendorff 1921 geäußert wurde.

An diesen kann auch der Gedanke angeschlossen werden, daß die Evolution selbst vergleichsweise langweilig war, solange es den gesetzmäßigen Alterstod noch nicht gab, daß sie mehrere Milliarden Jahre nur so "vor sich hin tuckerte" im Einzeller-Status, und daß sie ihre unglaubliche spannende, mannigfaltige Artenvielfalt der Vielzelligkeit erst entfaltete als der gesetzmäßige Alterstod eingeführt worden war (sichtbar vor allem ab dem Präkambrium und der Kambrischen Artenexplosion).

Dann sagt Ernst Peter Fischer - wie oben schon angedeutet -, daß das Streben des Menschen immer schon gewesen ist, Grenzen zu überwinden, also natürlich auch die Grenze des Alterstodes. Mathilde Ludendorff hat dies den menschlichen "Unsterblichkeitwillen" genannt. In den vielfältigen menschlichen Religionen auf dieser Erde sind vielfältige Versuche unternommen worden, diese Grenze zu überwinden, sagt Fischer. Und genau das ist auch der Grundgedanke des Buches von Mathilde Ludendorff aus dem Jahr 1921 "Triumph des Unsterblichkeitwillens". Er wird in diesem Buch gleich einleitend angesprochen:

Wie Schatten flüchtig gleiten die Menschengeschlechter über die Erde,
Sie blühn und vergehen und singen dabei das hohe,
Das niemals verstummende Lied unsterblichen Lebens.
"Ich glaube," sagt Fischer, "daß man durch den Tod gezwungen wird, nicht nur biologisch zu existieren, sondern sinnvoll zu leben." - Nun, gezwungen wird man nicht - viele Menschen nutzen ja die Möglichkeit des Vergessens und Verdrängens bezüglich ihres Wissens, daß sie irgend wann sterben müssen. Aber natürlich ist die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit durchaus ein starker Antrieb, wenn nicht einer der stärksten Antriebe dazu, sinnvoll zu leben. Genau das ist wiederum der Grundgedanke der Philosophie von Mathilde Ludendorff. Also darf sie schlichtweg, wenn ein solcher Gedanke geäußert wird, nicht unerwähnt bleiben, denn ihre Philosophie ist Teil der Geistesgeschichte, Teil des naturwissenschaftsnahen Denkens der letzten einhundert Jahre.

Ein angemessener "philosophischer, konzeptioneller Überbau"

Im übrigen ist dieser von Ernst Peter Fischer geäußerte Gedanke natürlich ein Gedanke, dem man noch sehr viel Raum in seiner Seele lassen könnte, auf daß er sich entfalte. Was heißt denn - im Angesicht der Endlichkeit unseres körperlichen Lebens - "sinnvoll" zu leben?, ist natürlich eine Frage, die sich anschließt. Sehr schön ist dazu zum Beispiel auch der Kommentar eines Zuhörers auf Youtube:

"Tolle (...) Antworten. Ich würde ihm gerne die Frage stellen: Wie hält man so tief ins Sein gedacht die politische/gesellschaftliche Realität, die wir uns bereiten, aus?"

Das ist sicherlich eine gute Frage. Und tatsächlich gibt es auf diese Frage auch aus der Wissenschaft schon erste Antworten: Durch Vergessen. Menschen hingegen, die mit dem eigenen Tod konfrontiert werden, die an ihn erinnert werden, sind in ihren moralischen Urteilen rigoroser und kompromißloser, werden leichter zornig. Sie halten die politische, gesellschaftliche Realität also keineswegs unwidersprochen aus. Und das ist sicher einer der Gründe, weshalb in den Medien der Tod ständig verharmlost wird und werden muß in der Form, daß der Fernsehzuschauer und Zeitungsleser zum Darstellungen und Meldungen zu Todesfällen, Mord und Totschlag geradezu in Dauerberieselung überschüttet wird, werden muß, ohne daß das emotional noch tiefere Auswirkungen bei ihm hinterläßt. Und dementsprechend kann seit wenigen Jahrzehnten auch der Tod ganzer Kulturräume (des Abendlandes, der westlichen Welt) fortlaufend erörtert werden in der Medienwelt, ohne daß der Mensch sich noch angemessen aufrafft, um scharf und entschieden auf dieses weltgeschichtliche Geschehen zu reagieren.

Schön ist dann weiterhin, daß Ernst Peter Fischer dem Menschen - und auch den Tieren - nicht die Seele abspricht, sondern daß er den begeisternden Gedanken äußert, daß unsere Wahrnehmung darauf ausgerichtet ist, das Individuelle eines Mitmenschen wahrzunehmen und den Mitmenschen darin mit Achtung zu begegnen. Dies ist ein Gedanke, so kann man hier lernen, der von dem griechischen Philosophen Aristoteles stammt, und aus dem Aristoteles die menschliche Moral abgeleitet hat. Interessant! Im weiteren Verlauf des Interviews wird die Frage erörtert, was aus naturwissenschaftlicher Sicht eigentlich Bewußtsein ist. Fischer sagt an einer Stelle:

"Natürlich wäre jetzt die Aufgabe, dem Ganzen einen philosophischen oder konzeptionellen Überbau zu geben. Aber das wird nicht propagiert."

Diesen Satz kann man ja einmal weitgehend unkommentiert lassen. Wir hatten schon darauf hingewiesen, daß Ernst Peter Fischer ja im Grunde genommen selbst viel Anlaß hat, einen solchen Überbau zu "propagieren", einfach indem er intellektuell redlich aufhört, den Namen Mathilde Ludendorff zu verschweigen.

Ein weiterer schöner Gedanke ist es, daß er sagt, daß Aufklärung und Romantik komplementär zueinander wären, also zwei unterschiedliche Annäherungsweisen an dieselbe Wirklichkeit darstellen würden, die beide notwendig sind zu berücksichtigen wären, wenn das Phänomen Wirklichkeit möglichst vollständig erfasst werden soll. Das ist ein sehr tiefer Gedanke. Schließt er doch auch die Möglichkeit aus, daß man - wozu es heute viele Neigungen gibt - das eine gegen das andere auszuspielen. Nein, erst gemeinsam geben sie ein vollständiges Bild der Wirklichkeit. Fischer leitet diesen Gedanken aus dem komplementären Denken der Physik zum Welle-Teilchen-Dualismus ab. Das Denken in Komplementarität stammt ja unter anderem von den Atomphysiker Niels Bohr. Mit diesem Gedanken ist natürlich eine bedeutende Aufwertung der Geisteswissenschaft gegeben durch einen Naturwissenschaftler, eine Aufwertung, die wiederum vollständig auf der inhaltlichen Linie der Aussagen der Philosophie von Mathilde Ludendorff liegt.

Im zweiten Teil des Interviews wird sehr oft deutlich, daß es Fischer selbst noch an dem von ihm geforderten philosophischen Überbau fehlt, einem Überbau nämlich, der klar ausspricht, daß es eine zweite Seite der Wirklichkeit gibt, die dem Menschen über das Werterleben, über das ästhetische Erleben, über das Erleben des Wahren, Guten und Schönen zugänglich ist, und daß erst im Erschließen des Erlebens dieser zweiten Seite der Wirklichkeit der Sinn des Menschenlebens hier auf dieser Erde erfüllt wird (2).

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  1. Huemer, Werner: „Der Tod ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden“ - Zu Besuch bei Ernst Peter Fischer. ThantaosTV, 4.1.2017, https://www.youtube.com/watch?v=0bmEnFKl5rE
  2. Leupold, Hermin: Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Die Deutsche Volkshochschule, Bühnsdorf 2001, 2014