Samstag, 2. September 2017

"Ich glaube, daß man durch den Tod gezwungen wird, sinnvoll zu leben"

Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer äußert Grundgedanken der Philosophie von Mathilde Ludendorff und beklagt, daß ein entsprechender "philosophischer, konzeptioneller Überbau nicht propagiert" wird.

In einem Interview mit dem 70-jährigen Konstanzer Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer (geb. 1947) (Wiki), das Anfang Januar dieses Jahres 2017 veröffentlicht worden ist (1), äußert sich dieser zu sehr grundlegenden Fragen nach dem Sinn des Todesmuß des Lebens und nach dem Sinn des Lebens. Viele seiner Gedanken stehen in hundertprozentiger Übereinstimmung mit der Philosophie von Mathilde Ludendorff (1877-1966) (Wiki). Aber ihren Namen nennt er an keiner einzigen Stelle. Dieses Interview soll im folgenden etwas gründlicher erörtert werden.

Gleich am Anfang des Interviews erörtert Ernst Peter Fischer den Gedanken:

"Der Tod ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden." 

Leider ist dieser Satz schon aus rein naturwissenschaftlicher Sicht nicht ganz richtig. Auch bei den weiteren Ausführungen sind leider manche gedanklichen Unschärfen bei der Mitteilung des naturwissenschaftlichen Forschungsstandes festzustellen. Aber man kann die Gedanken, die Fischer äußern will, ja hier noch einmal gedanklich etwas präziser fassen. Denn es ist klar, was er sagen will. Er spricht über die Einführung des gesetzmäßigen Alterstodes in der Evolution beim Übergang des Lebens vom Einzeller zum Vielzeller.

Die Einführung des gesetzmäßigen Alterstodes in der Evolution

Er vergißt zu erwähnen, daß Einzeller zwar nicht unbedingt einen gesetzmäßigen Alterstod kennen, daß aber Tod sehr wohl Teil ihres Leben ist und daß es den Tod sehr wohl seit der Zeit gibt, seit der es Leben gibt. Denn Einzeller können den Unfalltod sterben. Und sie sterben ihn in der Regel auch. Nur das "Todesmuß", der gesetzmäßige Alterstod, ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden. Das ist der Kerngedanke, den Ernst Peter Fischer hier zum Ausdruck bringen will.

Und das ist sehr wertvoll, daß er das tut. Dieser Kerngedanke stammt von dem berühmten deutschen Evolutionsforscher August Weismann. Und er ist zugleich der Ausgangspunkt der naturwissenschaftsnahen Philosophie seiner Schülerin Mathilde Ludendorff. Diese Philosophie ist ab dem Jahr 1921 nieder gelegt worden. Würde sich Ernst Peter Fischer auf diese Philosophie beziehen, würde es ihm wohl nicht so schwer fallen, seine Gedanken präziser zu fassen. Das Nichterwähnen dieser Philosophie wenn solche naturwissenschaftlichen im Zusammenhang mit philosophischen Fragen angesprochen werden, kann man heute kaum noch für intellektuell redlich halten.

Denn die philosophische Deutung der evolutionären Einführung des Alterstodes durch Mathilde Ludendorff steht sehr einzigartig da in der Philosophie-Geschichte. Dem Autor dieser Zeilen ist kaum eine Alternative zu dieser sehr grundlegenden philosophischen Deutung bekannt geworden. Diese philosophische Deutung schließt aber zugleich unmittelbar an auch noch an den heutigen Forschungsstand in der Naturwissenschaft, also jenen, auf den sich - unscharf - Ernst Peter Fischer in diesem Interview bezieht. Also darf man Mathilde Ludendorff nicht mit Schweigen übergehen. Denn welcher Gedanke ist naheliegender als ihrer, nämlich daß der materielle Unsterblichkeitswille der lebenden Zellen, der sich in ihrer Tendenz zur Zellteilung und Zellvermehrung Ausdruck verschafft, im Verlauf der Evolution und dann im Verlauf der Kulturgeschichte der Menschheit sich "vergeistigt" hat zu einem Unsterblichkeitwillen bewußter, mit einem Großhirn ausgestatteter Lebewesen? Zum menschlichen Willen, wie Ernst Peter Fischer es ausdrückt, auch bezüglich des Lebensendes "Grenzen überschreiten" zu wollen.

Krebszellen, so sagt Ernst Peter Fischer - im Einklang mit dem gegenwärtigen Forschungsstand - gewinnen die potentielle Unsterblichkeit zurück, schalten also evolutionär primitivere, einfachere Programme an, zerstören dabei aber das Leben des vielzelligen Organismus, dem sie angehören. Anhand dieses Umstandes will Fischer aufzeigen, daß auch noch in allen sterblichen Zellen aller Vielzeller die Tendenz vorhanden ist, sich unendlich teilen zu wollen und damit unsterblich zu leben, und dabei aber auf Kosten des Gesamtorganismus zu "wuchern".

Der (gesetzmäßige) Alterstod eines vielzelligen Organismus kommt aber - nach Fischer - gemäß eines Gedankenganges, den er in dem Interview leider ebenfalls viel ausführlicher erläutern müßte, um verständlich zu sein, dadurch zustande, "daß die einzelne Zelle im Gesamtverband des Organismus ihre Aufgabe erfüllt". Und diese Aufgabe besteht unter anderem - aber nur unter anderem - darin, nicht zur Krebszelle zu werden. Ansonsten besteht die Aufgabe der einzelnen Zelle eines Vielzellers vor allem darin, Nervenzellen das Leben zu unterhalten und damit schrittweise in der Evolution größeres Bewußtsein - bis hin zum Großhirn des Menschen - zu ermöglichen. So wie es Fischer ausdrückt, ist es aber natürlich noch keine vollständige Theorie des gesetzmäßigen Alterstodes. Aber immerhin.

Zum Nachdenken von Ernst Peter Fischer über diese Fragen könnte auch dazu gehören, daß er - wenigstens ansatzweise, aber vielleicht ungenügend - um das Nachdenken und die Forschungen meines Onkels, seines Konstanzer Kollegen, des Zellphysiologen Gerold Adam (1933-1996) (Wiki), wußte, für den das Wechselspiel zwischen dem Streben der einzelnen Zelle nach Unsterblichkeit (unendlicher Zellteilungsfähigkeit) und der Einordnung der einzelnen Zelle in einen vielzelligen, aber sterblichen Organismus mit streng gesetzmäßiger Zahl von Zellteilungen je nach Gewebeart das Hauptthema der Forschung seiner beiden letzten Lebensjahrzehnte an der Universität Konstanz war.

Mit Bewußtsein unsterblich leben?

Bei einem anderen - eher philosophischen - Gedanken ist Fischer sich dann wieder sicherer, nämlich daß unsterbliches körperliches Leben mit einem bewußten Leben sehr schwer in Einklang zu bringen sein würde, daß vielmehr unser bewußtes Leben deshalb so ereignisreich und tatfroh ist wie es ist, weil wir sterblich sind. Würden wir körperlich viele hundert oder tausend Jahre leben, gäbe es ja keinen Grund, so Fischer, heute das zu tun, was man auch morgen tun könnte. Und der Mensch neigt ja bekanntermaßen dazu "aufzuschieben". Und dieser Gedanke ist natürlich ein sehr leicht nachzuvollziehender Gedanke. Es ist ein Gedanke, der genau so auch schon von Mathilde Ludendorff 1921 geäußert wurde.

An diesen kann auch der Gedanke angeschlossen werden, daß die Evolution selbst vergleichsweise langweilig war, solange es den gesetzmäßigen Alterstod noch nicht gab, daß sie mehrere Milliarden Jahre nur so "vor sich hin tuckerte" im Einzeller-Status, und daß sie ihre unglaubliche spannende, mannigfaltige Artenvielfalt der Vielzelligkeit erst entfaltete als der gesetzmäßige Alterstod eingeführt worden war (sichtbar vor allem ab dem Präkambrium und der Kambrischen Artenexplosion).

Dann sagt Ernst Peter Fischer - wie oben schon angedeutet -, daß das Streben des Menschen immer schon gewesen ist, Grenzen zu überwinden, also natürlich auch die Grenze des Alterstodes. Mathilde Ludendorff hat dies den menschlichen "Unsterblichkeitwillen" genannt. In den vielfältigen menschlichen Religionen auf dieser Erde sind vielfältige Versuche unternommen worden, diese Grenze zu überwinden, sagt Fischer. Und genau das ist auch der Grundgedanke des Buches von Mathilde Ludendorff aus dem Jahr 1921 "Triumph des Unsterblichkeitwillens". Er wird in diesem Buch gleich einleitend angesprochen:

Wie Schatten flüchtig gleiten die Menschengeschlechter über die Erde,
Sie blühn und vergehen und singen dabei das hohe,
Das niemals verstummende Lied unsterblichen Lebens.
"Ich glaube," sagt Fischer, "daß man durch den Tod gezwungen wird, nicht nur biologisch zu existieren, sondern sinnvoll zu leben." - Nun, gezwungen wird man nicht - viele Menschen nutzen ja die Möglichkeit des Vergessens und Verdrängens bezüglich ihres Wissens, daß sie irgend wann sterben müssen. Aber natürlich ist die Erinnerung an die eigene Sterblichkeit durchaus ein starker Antrieb, wenn nicht einer der stärksten Antriebe dazu, sinnvoll zu leben. Genau das ist wiederum der Grundgedanke der Philosophie von Mathilde Ludendorff. Also darf sie schlichtweg, wenn ein solcher Gedanke geäußert wird, nicht unerwähnt bleiben, denn ihre Philosophie ist Teil der Geistesgeschichte, Teil des naturwissenschaftsnahen Denkens der letzten einhundert Jahre.

Ein angemessener "philosophischer, konzeptioneller Überbau"

Im übrigen ist dieser von Ernst Peter Fischer geäußerte Gedanke natürlich ein Gedanke, dem man noch sehr viel Raum in seiner Seele lassen könnte, auf daß er sich entfalte. Was heißt denn - im Angesicht der Endlichkeit unseres körperlichen Lebens - "sinnvoll" zu leben?, ist natürlich eine Frage, die sich anschließt. Sehr schön ist dazu zum Beispiel auch der Kommentar eines Zuhörers auf Youtube:

"Tolle (...) Antworten. Ich würde ihm gerne die Frage stellen: Wie hält man so tief ins Sein gedacht die politische/gesellschaftliche Realität, die wir uns bereiten, aus?"

Das ist sicherlich eine gute Frage. Und tatsächlich gibt es auf diese Frage auch aus der Wissenschaft schon erste Antworten: Durch Vergessen. Menschen hingegen, die mit dem eigenen Tod konfrontiert werden, die an ihn erinnert werden, sind in ihren moralischen Urteilen rigoroser und kompromißloser, werden leichter zornig. Sie halten die politische, gesellschaftliche Realität also keineswegs unwidersprochen aus. Und das ist sicher einer der Gründe, weshalb in den Medien der Tod ständig verharmlost wird und werden muß in der Form, daß der Fernsehzuschauer und Zeitungsleser zum Darstellungen und Meldungen zu Todesfällen, Mord und Totschlag geradezu in Dauerberieselung überschüttet wird, werden muß, ohne daß das emotional noch tiefere Auswirkungen bei ihm hinterläßt. Und dementsprechend kann seit wenigen Jahrzehnten auch der Tod ganzer Kulturräume (des Abendlandes, der westlichen Welt) fortlaufend erörtert werden in der Medienwelt, ohne daß der Mensch sich noch angemessen aufrafft, um scharf und entschieden auf dieses weltgeschichtliche Geschehen zu reagieren.

Schön ist dann weiterhin, daß Ernst Peter Fischer dem Menschen - und auch den Tieren - nicht die Seele abspricht, sondern daß er den begeisternden Gedanken äußert, daß unsere Wahrnehmung darauf ausgerichtet ist, das Individuelle eines Mitmenschen wahrzunehmen und den Mitmenschen darin mit Achtung zu begegnen. Dies ist ein Gedanke, so kann man hier lernen, der von dem griechischen Philosophen Aristoteles stammt, und aus dem Aristoteles die menschliche Moral abgeleitet hat. Interessant! Im weiteren Verlauf des Interviews wird die Frage erörtert, was aus naturwissenschaftlicher Sicht eigentlich Bewußtsein ist. Fischer sagt an einer Stelle:

"Natürlich wäre jetzt die Aufgabe, dem Ganzen einen philosophischen oder konzeptionellen Überbau zu geben. Aber das wird nicht propagiert."

Diesen Satz kann man ja einmal weitgehend unkommentiert lassen. Wir hatten schon darauf hingewiesen, daß Ernst Peter Fischer ja im Grunde genommen selbst viel Anlaß hat, einen solchen Überbau zu "propagieren", einfach indem er intellektuell redlich aufhört, den Namen Mathilde Ludendorff zu verschweigen.

Ein weiterer schöner Gedanke ist es, daß er sagt, daß Aufklärung und Romantik komplementär zueinander wären, also zwei unterschiedliche Annäherungsweisen an dieselbe Wirklichkeit darstellen würden, die beide notwendig sind zu berücksichtigen wären, wenn das Phänomen Wirklichkeit möglichst vollständig erfasst werden soll. Das ist ein sehr tiefer Gedanke. Schließt er doch auch die Möglichkeit aus, daß man - wozu es heute viele Neigungen gibt - das eine gegen das andere auszuspielen. Nein, erst gemeinsam geben sie ein vollständiges Bild der Wirklichkeit. Fischer leitet diesen Gedanken aus dem komplementären Denken der Physik zum Welle-Teilchen-Dualismus ab. Das Denken in Komplementarität stammt ja unter anderem von den Atomphysiker Niels Bohr. Mit diesem Gedanken ist natürlich eine bedeutende Aufwertung der Geisteswissenschaft gegeben durch einen Naturwissenschaftler, eine Aufwertung, die wiederum vollständig auf der inhaltlichen Linie der Aussagen der Philosophie von Mathilde Ludendorff liegt.

Im zweiten Teil des Interviews wird sehr oft deutlich, daß es Fischer selbst noch an dem von ihm geforderten philosophischen Überbau fehlt, einem Überbau nämlich, der klar ausspricht, daß es eine zweite Seite der Wirklichkeit gibt, die dem Menschen über das Werterleben, über das ästhetische Erleben, über das Erleben des Wahren, Guten und Schönen zugänglich ist, und daß erst im Erschließen des Erlebens dieser zweiten Seite der Wirklichkeit der Sinn des Menschenlebens hier auf dieser Erde erfüllt wird (2).

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  1. Huemer, Werner: „Der Tod ist nicht gleichzeitig mit dem Leben entstanden“ - Zu Besuch bei Ernst Peter Fischer. ThantaosTV, 4.1.2017, https://www.youtube.com/watch?v=0bmEnFKl5rE
  2. Leupold, Hermin: Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Die Deutsche Volkshochschule, Bühnsdorf 2001, 2014

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