Donnerstag, 13. April 2017

Die "heiligen Narren" Rußlands

Das russische Volk - Es zog sie oft den "studierten" Zeloten vor

Manchmal wandern wir gedankenschwer durch den dunklen, mondhellen Wald entlang eines murmelnden Baches - voller Schmerzen über einen herben, schweren Schicksalsschlag (Abb. 1).

Abb. 1: Nachts einsam im Wald - Zeichnung, entstanden im Winter 1990/91

Wie damit umgehen? Wie sich das Herz erhalten? Wie die Begeisterung in sich zu heller Lohe empor lodern lassen - dennoch? Dennoch - - -

Ja, viele Menschen werden heute psychiatrisch behandelt. In früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden hätten sie ihr Leben womöglich auf ganz andere Weise hingebracht. 

Insbesondere aus dem russischen Kulturraum sind Lebensformen überliefert, die Anhaltspunkte geben können dafür, daß sogar verhaltensauffällige Menschen und Menschen, die auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sind - weil sie keiner regelmäßigen Berufsarbeit mehr nachkommen können - dennoch als ein Segen von ihrer Mitwelt empfunden werden. Ein christliche Grundeinstellung im Volk mag dazu viel beitragen, berichtet doch auch etwa der deutsche Schriftsteller Peter Rosegger von manchen "Wundergestalten" in seiner zurück gebliebenen bäuerlichen Heimat, der Steiermark Ende des 19. Jahrhunderts.

Da die Sichtweise auf solche verhaltensauffälligen Menschen im russischen Kulturraum traditioneller Weise eine etwas andere war als in vielen anderen Völkern, könnte ein Blick auf die Verhältnisse dort auch auf die Möglichkeiten größere Spielräume in der Sichtweise auf solche Menschen bei uns - hier und heute - hinweisen.

Der französische Schriftsteller Pierre Pascal (1890-1980) (Wiki) (a) gilt als ein Spezialist für die russische Geschichte, Literatur und Kultur. Von 1916 bis 1933 lebte er in Rußland. Sein Aufsatz "Russische Volksfrömmigkeit" ("La Religion du peuple russe") (1) erschien erstmals 1962 (sowie 1966, 1969 und 1973). Er ist auch ganz gut im Internet zugänglich. Im folgenden sollen aus diesem Aufsatz einige Auszüge gebracht werden über ein volkskundliches Phänomen, für das es - außer vielleicht in Indien - in keinem Land der Erde so viele und vielfältige Beispiele gibt wie im traditionellen Rußland. Nämlich die "heiligen Narren", die Wanderasketen. Das sind Menschen, die mitunter einen märchenhaften Wahnsinn mit der einfältigen Herzenreinheit eines Kindes vereinbaren, und die um dessentwillen vom russischen Volk so geliebt worden sind und nicht nur von diesem, sondern auch von einem so bedeutenden Schriftsteller wie Leo Tolstoi.

Ganz selten einmal trifft man auf solche Menschen womöglich auch in Deutschland. Vielleicht häufiger in der Psychiatrie und unter an Schizophrenie Erkrankten als in anderen Gruppen. Um gegebenenfalls solche Menschen etwas genauer "einordnen" und verstehen zu können, mögen auch die Schilderungen von Pierre Pascal eine Hilfe sein.

Dabei sei gleich vorbeugend und einschränkend gesagt, daß es hier nicht darum gehen soll, das Phänomen jener "barfüßigen Propheten" der deutschen frühen 1920er Jahre aufzuklären (Wiki). Auf dem Blog "Gesellschaftlicher Aufbruch - jetzt!" ist schon dargestellt worden, daß ihr Wirken vor allem verstehbar wird vor dem Hintergrund von Okkultlogen, und daß sie zumeist geheime Agenden verfolgt haben, die elitärer Natur waren (etwa Gusto Gräser, Friedrich Hielscher und das ganze Umfeld dieser Leute). Natürlich hat es solche auch im traditionellen Rußland gegeben. Und auch diese sind zum Verständnis politischer Zusammenhänge auf keinen Fall zu vernachlässigen. Aber sie allein würden die Volkstümlichkeit des Phänomens gewiß nicht erklären. Und die deutschen sogenannten "barfüßigen Propheten" mögen sich zumeist auch nur äußerlich die russischen als Vorbild genommen haben.

Bettler, Pilger, Wanderasketen, Wahrheitssuchende, Narren

Abb. 2: Heiliger Narr - aus einem Gemälde von W.I. Surikov

Der Schriftsteller Pascal schreibt also in seiner Schrift "Russische Volksfrömmigkeit" von 1962 (1, S. 69f), das russische Volk

"hörte mit Vergnügen von den frommen Abenteuern der Bettelmönche, Wanderasketen und Pilger erzählen."
Und weiter (1, S. 74f):
"Der Pilger, der einmal in das ununterbrochene Gebet eingetreten ist, sieht alles, was ihn umgibt, in einem neuen und wunderbaren Licht: Bäume, Gräser, Vögel, Erde, Luft und Licht, alles verkündet die Liebe Gottes zum Menschen, alles betet und singt zur Ehre Gottes. Auch der Missionar empfängt in seiner kindlichen Reinheit die ersten Aufforderungen zum Gebet von der Natur. Makar Ivanovitsch, der im "Jüngling" von Dostojevskij die Volksfrömmigkeit auf ihrer höheren Stufe symbolisiert, erkennt in jedem Grashalm, im singenden Vogel und in den leuchtenden Sternen das Mysterium Gottes, die unsagbare Schönheit."
Es handelt sich also gerne auch um religiös Erleuchtete oder um solche, denen eine solche Erleuchtung zugeschrieben wird (1, S. 90f):
"Aus diesem Grunde gibt es in diesem Volk die zahlreichen Wahrheitssuchenden (pravdoiskateli), die den modernen Westen in Erstaunen versetzen; jene, die sich einfach ihrer Aufgabe widmen, solche, die Ungerechtigkeit kränkt, solche, die diese Welt des Antichristen verlassen und umherirren; jene, die einer vollkommenen Kirche auf der Spur sind, bis zum geheimnisvollen und unauffindbaren Land der Weißen Gewässer hin; solche, die Gesetzen und Polizei Trotz bieten, um der Menschheit zu dienen; die, die aus der Revolution ein modernes Christentum gemacht haben."
Und weiter (1, S. 91f):
"Die Kirche ist an den Staat gebunden, nur zu oft bemerkt man dies. Sowohl von moralischer als auch von dogmatischer Seite entstehen jetzt Ärgernis, Zweifel, Nachforschungen, Sekten. Von daher erklärt sich z. B. der Erfolg der Duchoborzen ("Geisteskämpfer"), der Anhänger Tolstojs, der Evangeliumschristen, der Stranniki, der Abstinenzler und vieler anderer, die Pässe, Steuern und Militärdienst ablehnten."
Und weiter:
"Der Bauer bricht auf, mit seinem Stock und seinem Brotbeutel, natürlich zu Fuß und begibt sich zu den ihm bekannten heiligen Stätten. Vielleicht ist dies eine benachbarte Einsiedelei, wo ein verehrter Asket wohnt, der in den Herzen liest, Trost und Rat spendet: ein Starez, wie man ihn nennt. Unser Pilger hält sich eine Weile dort auf und kehrt dann, geistig erneuert, zurück; oder er setzt auch seine Wanderung fort und macht eine Rundreise zu den Einsiedeleien der Gegend. Manchmal ziehen sich diese Pilgerfahrten zur Befreiung der Seele über Monate hin."

Pilgerfahrten zur Befreiung der Seele. Was für eine - wunderbare - Wortwahl.

Leo Tolstoi hat sie geliebt - die russischen Wanderasketen (Strannik)

Und (1, S. 94f):

"So gibt es einen höheren Typ der Frömmigkeit, den Stand des Wanderasketen oder Strannik. Wir haben davon eine sehr anschauliche Darstellung in den "Erzählungen eines Pilgers". Der Wanderasket wurde oft durch besondere Umstände zu dieser Lebensform geführt. Ein angeborenes oder erworbenes Gebrechen hat ihn für schwere Arbeiten untauglich gemacht; ein Ereignis, wie der Tod seiner Frau, eine Feuersbrunst oder eine Vision, die ihm den Auftrag gab, haben ihn von seinem Besitz getrennt. Mehr bedarf es nicht, und sein meditativer Geist, seine fromme Seele reißen ihn mit. Als seinen einzigen Besitz nimmt er ein langes Gewand, eine Kappe, einen Bettelsack mit Brotrinden mit sich und geht fort. Er wandert, wie die Pilger, von denen wir schon gesprochen haben, von Kloster zu Kloster, aber unbestimmt und ohne den Gedanken an eine Rückkehr. Überall trifft er auf Gastfreundschaft. Als Gegendienst verrichtet er kleine Arbeiten oder er spricht auch nur. Er berichtet erbauliche Erinnerungen, beschreibt die Wunder der heiligen Stätten, das Tun der Asketen, er bringt die Menschen zum Nachdenken und reißt seine Gastgeber aus ihrem täglichen, irdischen Leben. Wenn er lesen kann und sie nicht, liest er ihnen das Evangelium, die Wüstenväter oder die Heiligenleben vor. Sein Besuch ist ein Fest, ein Wunder und später eine belebende Erinnerung. Rußland wurde von Nord nach Süd und von Ost nach West von Tausenden dieser Pilger durchstreift."

Und:

"In Ržev empfing Vater Matfej jeden Tag einige von ihnen, manchmal bis zu vierzig. Tolstoj hat sie gekannt und geliebt. Bunin hat sie beschrieben, Schaljapin hat sie häufig besucht. Der Bauerndichter Jessenin berichtet, daß das Haus seiner Großmutter immer voll von diesen Pilgern, Pilgerinnen und Krüppeln gewesen sei, die in den Ortschaften Legenden und Klagelieder gesungen hätten. Eine solch ungeheuer wichtige und fromme Rolle spielten also die Wanderasketen."

Die "heiligen Narren" Rußlands (Jurodivyj)

Und:

"Der "podvig" geht jedoch noch weiter. In Syrien, der Heimat aller religiösen Exzesse, hatten die Christen der ersten Jahrhunderte die Worte des Apostels: "Die Torheit Gottes ist weiser als die Weisheit der Menschen... [1 Kor 1,25] Wir sind töricht um Christi willen... [1 Kor 4,10]" wörtlich genommen, und es kam zur Erscheinung der "Saloi". Welch’ eine Tat könnte verdienstvoller sein als die, auf das, was das Besondere und Eigene des Menschen und seines Hochmutes ist, nämlich den Verstand, zu verzichten und als Narr zu gelten, um den höchsten Schimpf zu ernten, in die abgrundtiefste Erniedrigung zu fallen, freiwillig, um Christi willen? Sobald sie bekehrt sind, ergreift das Verlangen der Nachfolge die Russen: In Kiev gab es freiwillige Narren, die "Jurodivye", und dieses Phänomen verschwand nie mehr; die Narren verbreiteten sich darauf in Moskau, sie hielten den Verfolgungen der Zivilbehörden, den Verdammungen der aufgeklärten Prälaten des 18. Jahrhunderts, der entrüsteten Verachtung der intellektuellen Gesellschaft und der "Kulturpropaganda" der Sowjets stand. Sie sind noch heute vorhanden.
Sie irren, ebenfalls mit "verigi'" und Eisenmützen, in lächerliche Lumpen gekleidet oder beinahe nackt, umher, betteln, wälzen sich im Schlamm, erregen Spott und bekommen verletzende Worte zu hören, reizen zu grotesken und gehässigen Handlungen. Sie haben Empfindlichkeit und Eigenliebe in sich getötet. Sie erregen Skandal und haben vor nichts Respekt. Sie scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Man verachtet und bewundert sie, und man erkennt ihnen außergewöhnliche Fähigkeiten zu: sie lesen in den Herzen, sie sehen in die Zukunft. Ihre unbedeutendsten Äußerungen versucht man auszulegen. Einst spielten sie auf diese Weise eine Rolle in der Politik: sie geißelten die Mächtigen. Iwan der Schreckliche ließ einen Metropoliten hinrichten, aber er nahm die Schmähung eines Jurodivyj hin. Heute sind sie die Beichtväter des Volkes.
Der Jurodivyj befindet sich überall. Ein Jurodivyj von Kursk bildete den späteren Serafim von Sarov aus. Ein Jurodivyj, ein ehemaliger Pilger aus Palästina, der Mönch geworden war, gründete neben dem Sergij-Kloster die Einsiedelei Gethsemane. Ein Priester aus Uglič namens Peter, den man für einen Jurodivyj hielt (man behandelte ihn als Narren, man schnitt ihn, man legte ihn in seinem Hause an die Kette), wurde 40 Jahre lang, bis zu seinem Tode im Jahre 1866, von Scharen aufgesucht, die begierig nach seinen Ratschlägen waren, und er wurde von den Weisen und Philosophen als geistlicher Lehrer hochgeschätzt: so z.B. von dem Archimandriten und Lehrer Fedor (Bucharev).
Die Schriftsteller haben es nicht versäumt, den Jurodivyj mit mehr oder weniger Verständnis und Sympathie zu beschreiben: Tolstoj in seiner "Kindheit" und Dostoievskij in den "Besessenen", ebenso der Satiriker Saltykov-Schtschedrin und die populären Schriftsteller Gleb Uspenskij und Naumov; Pryjov und Korolenko haben ihm auch Studien gewidmet. Auf jeden Fall bestreitet niemand, daß er ein hervorstehend repräsentativer Typ der russischen Volksfrömmigkeit auf ihrer heroischen Stufe ist."

Diese Ausführungen können aufzeigen, daß das menschliche Seelenleben ein sehr vielfältiges sein kann, und daß Menschen mitunter in der tiefsten Erniedrigung, die Menschen nur möglich ist, womöglich dennoch ein reiches Gotterleben haben können oder doch zumindest Menschen mit warmem, guten Herzen sein können, deren Anwesenheit für andere Menschen ein Segen sein kann.

Kann dem Menschen etwas Wesentlicheres eingeflößt werden als Ehrfurcht vor der Reinheit des Herzens?


/ Verfaßt: 1.8.2014;
leicht überarbeitet, 
ergänzt durch Abb. 1: 
31.7.2021 /

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  1. Pascal, Pierre: Russische Volksfrömmigkeit. In: Kyrios. Zeitschrift für Kirchen- und Geistesgeschichte Osteuropas. 1962, S. 69-102. Ergänzende Bemerkungen in [...] von K. Bambauer. Auf: BorisOGleb.de. Offenbar auch als Einzelschrift: Oekumenischer Verl. Edel 1966 (40 S.)

Freitag, 7. April 2017

"Hört auf zu gebären, das Leben ist voller Leid"

Picassos "Blaue Periode"

/Dieser Blogartikel hat zwischenzeitlich 
eine - vielleicht noch gültigere -
 Neufassung erfahren: DVHS 2/2020./

"Hört auf zu gebären, das Leben ist voller Leid." Picasso's Gemälde "Das Leben" aus dem Jahr 1903 scheint diese Aussage zu haben: "Hört auf zu gebären, das Leben ist voller Leid." Es scheint dies der darauf abgebildete Freund Picasso's zu der gleichfalls darauf abgebildeten Mutter Picasso's (der Frau mit dem Kind im Arm) zu sagen.  

Abb. 1: Pablo Picasso - Das Leben - 1903

Wie es wohl zu diesem Bild gekommen ist? Bis 1900 lebte Pablo Picasso (1881-1973) in Barcelona. 1901 besuchte er - auf Anregung seines eben genannten Freundes, Carlos Casagemas (1881-1901) (Wiki) - und mit diesem zusammen das erste mal Paris. Casagemas war ebenfalls Maler. Dort in Paris lernten sie die ebenfalls auf dem Gemälde abgebildete Tänzerin des Moulin Rouge, Germaine Pichot, kennen. In dem Wikipedia-Artikel zu ihr findet sich etwas wieder von dem - im Grunde recht komplizierten und dramatischen - Geschehen, das den Hintergrund zu diesem Gemälde gibt (Wiki):
Germaine Pichot (...) heiratete einen Mann namens Florentin. Unter diesem Namen lernte sie Picasso in Paris kennen, als er im Jahr 1900 mit seinem Freund Carles Casagemas dort eintraf. Während Picasso eine Affäre mit Germaines Freundin oder Verwandter Louise Lenoir, die unter dem Namen Odette bekannt war, begann, verliebte sich Casagemas in Germaine, mußte aber feststellen, daß er impotent war. Nach einer Reise nach Spanien, die er zusammen mit Picasso angetreten hatte, kehrte Casagemas 1901 ohne diesen nach Paris zurück. Bei einer Feier im Restaurant L'Hippodrome am 17. Februar 1901 gab Casagemas einen Schuß auf Germaine ab, der diese aber nicht, wie wohl beabsichtigt, tötete.
In der Annahme, er habe sie getötet, richtete er danach seine Waffe auf sich und rief "So, und jetzt ich". Auf Wikipedia heißt es:
Danach richtete Casagemas die Waffe auf sich selbst und brachte sich eine Kopfverletzung bei, an der er wenig später starb.
Nach dem Tod seines Freundes ist auf den Bildern von Picasso mehrere Jahre viel Trauer zu sehen. 

Abb. 2: Pablo Picasso - Die Tragödie - 1903

Im äußeren Leben ging es bei Picasso - bei großer materieller Armut - folgendermaßen weiter (Wiki):
Nach seiner Rückkehr nach Paris im Mai 1901 brach Picasso mit Odette und fing eine Beziehung mit Germaine an.
Und weiter:
"La Vie" war ursprünglich anders angelegt als es sich heute präsentiert: Der junge Mann auf dem Gemälde war zunächst ein Selbstporträt Picassos, ehe dieser das Bild änderte und dem Mann die Züge Casagemas' und der zunächststehenden jungen Frau die Germaines gab.
Die Entstehungsgeschichte dieses Gemäldes ist also von einem dramatischeren Geschehen bestimmt, als man es ihm auf den ersten Blick ansehen würde. Die sich hier andeutenden wechselnden Liebesverhältnisse, die man auch in manchen Biographien der etwa zeitgleich lebenden expressionistischen Maler des deutschen Sprachraumes findet - etwa in Dresden rund um die "Brücke", mündeten in jener Zeit bei Picasso auch in verschiedene, erhalten gebliebene kleinere Werke. So soll Picasso in dieser Zeit auch das Gemälde "La Doleur" (1902) gemalt haben.

Abb. 3: Pablo Picasso - Der alte Gitarrenspieler - 1903/04

In den kleineren Werken spiegelt sich aber natürlich weniger jener Gehalt wieder, der in seinen bedeutendsten Werken enthalten ist, nämlich der Umstand, daß der Tod seines Freundes - und sicherlich auch die eigenen Liebeserfahrungen - bei Picasso eine mehrere Jahre anhaltende Traurigkeit auslösten. Sie werden zusammenfassend als die Bilder der "Blauen Periode" bezeichnet (Wiki):
Diese Arbeiten (...) gehören heute zu seinen bekanntesten, obwohl er in der Zeit ihrer Entstehung Schwierigkeiten hatte, sie zu verkaufen.
Zu dem Gemälde "Das Leben" aus dem Jahr 1903 hat Picasso selbst nie eine Deutung gegeben. Die Ansichten in der Kunstwissenschaft über seine Deutung gehen weit auseinander. Es heißt, daß es dem Betrachter - womöglich mehr oder weniger bewußt - weite Deutungsspielräume offen gelassen hätte. Daß ja auch für Picasso selbst die Aussage des Gemäldes nicht von Anfang an feststand, ist ja schon seiner angedeuteten Entstehungsgeschichte zu entnehmen: Er wollte eigentlich sich selbst malen. Aber der Gedanke an den Freund drängte sich in den Vordergrund und mußte verarbeitet werden.

Auffallend scheint vor allem die abwehrende Geste des Mannes gegenüber der Frau mit dem Kind zu sein. Es ist nahe liegend, daß sie aussagen soll: Ach, hättest du mich nie geboren.

Es gibt eine Liste der Arbeiten von Picasso zwischen 1901 und 1910 (Wiki), sie bietet einen Überblick. Die Blaue Periode wird auf die Jahre 1901 bis 1904 datiert. Ab 1904 begann sich sein Mal-Stil zu ändern. Und ab 1907 wurde er zunehmend abstrakter.

Abb. 3: Pablo Picasso - Frau mit Krähe - 1904

In der Blauen Periode entstanden etwa "Melancholische Frau", "Sitzende Frau", "Die Suppe", "Mutterschaft", "Die Tragödie", "Der alte Gitarrenspieler" (Wiki).

1904 entstand auch das Gemälde "Frau mit einer Krähe" (Femme à la corneille), das vielleicht den tiefsten Punkt der Depression von Picasso bezeichnet: Eine sehr, sehr blasse Frau, ihre Gesichtsfarbe ist im Grunde kahl-weiß. Und sie streichelt eine Krähe. Man wird eine Krähe von ihrem Wesen her eher als das Gegenteil eines zugewandten, lebensnahen "Streicheltieres" empfinden. Diese Geste mag die tiefe Entfremdung gegenüber allem Leben zum Ausdruck bringen.

Man ist auch geneigt, im Gesicht der Frau Haß zu lesen. Sieht man dieses Gemälde aber im Zusammenhang mit allen anderen Gemälden aus der Blauen Periode, tritt der Eindruck wieder zurück, daß auf diesem Gesicht Haß oder gar Bosheit die dominanten Anteile sein könnten (3). In dem vielleicht vorausgegangenen Gemälde "Frau mit Helmfrisur" ("Femme au chignon", 1904) findet sich ein ähnlich kaltes, ausdrucksloses, desillusioniertes Frauengesicht (Wiki).

Abb. 4: Pablo Picasso  
Frau mit Helmfrisur
1904
Auf die Blaue Periode folgte die Rosa Periode (1904 bis 1906) (Wiki). In dieser nimmt die Melancholie des Künstlers - wie die Farbe Rosa schon für sich selbst aussagt - etwas unbeschwertere Züge an. Aber es wird sicher gesagt werden dürfen: Ohne die Blaue Periode wäre Picasso nicht jener Picasso geworden, als der er in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Sie ist sicherlich ein grundlegendes Lebens- und Kunststadium gewesen, sonst würden die in dieser Lebensphase entstandenen Werke nicht heute noch als so bedeutend empfunden werden.

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  1. Reyes Jiménez de Garnica, Malén Gual (Hrsg.): Journey through the Blue. La Vie. (Catalogue of the exhibition celebrated at Museu Picasso, Barcelona, october 10th 2013 to january 19th 2014). Institut de Cultura de Barcelona: Museu Picasso, Barcelona 2013
  2. Museu Picasso zur Ausstellung, bcn.cat, abgerufen am 05. April 2017
  3. Mit diesem Gemälde befaßte sich 1982 auch das französische Fernsehen anlässlich seiner Versteigerung (Yt).