Freitag, 7. April 2017

"Hört auf zu gebären, das Leben ist voller Leid"

Picassos "Blaue Periode"

/Dieser Blogartikel hat zwischenzeitlich 
eine - vielleicht noch gültigere -
 Neufassung erfahren: DVHS 2/2020./

"Hört auf zu gebären, das Leben ist voller Leid." Picasso's Gemälde "Das Leben" aus dem Jahr 1903 scheint diese Aussage zu haben: "Hört auf zu gebären, das Leben ist voller Leid." Es scheint dies der darauf abgebildete Freund Picasso's zu der gleichfalls darauf abgebildeten Mutter Picasso's (der Frau mit dem Kind im Arm) zu sagen.  

Abb. 1: Pablo Picasso - Das Leben - 1903

Wie es wohl zu diesem Bild gekommen ist? Bis 1900 lebte Pablo Picasso (1881-1973) in Barcelona. 1901 besuchte er - auf Anregung seines eben genannten Freundes, Carlos Casagemas (1881-1901) (Wiki) - und mit diesem zusammen das erste mal Paris. Casagemas war ebenfalls Maler. Dort in Paris lernten sie die ebenfalls auf dem Gemälde abgebildete Tänzerin des Moulin Rouge, Germaine Pichot, kennen. In dem Wikipedia-Artikel zu ihr findet sich etwas wieder von dem - im Grunde recht komplizierten und dramatischen - Geschehen, das den Hintergrund zu diesem Gemälde gibt (Wiki):
Germaine Pichot (...) heiratete einen Mann namens Florentin. Unter diesem Namen lernte sie Picasso in Paris kennen, als er im Jahr 1900 mit seinem Freund Carles Casagemas dort eintraf. Während Picasso eine Affäre mit Germaines Freundin oder Verwandter Louise Lenoir, die unter dem Namen Odette bekannt war, begann, verliebte sich Casagemas in Germaine, mußte aber feststellen, daß er impotent war. Nach einer Reise nach Spanien, die er zusammen mit Picasso angetreten hatte, kehrte Casagemas 1901 ohne diesen nach Paris zurück. Bei einer Feier im Restaurant L'Hippodrome am 17. Februar 1901 gab Casagemas einen Schuß auf Germaine ab, der diese aber nicht, wie wohl beabsichtigt, tötete.
In der Annahme, er habe sie getötet, richtete er danach seine Waffe auf sich und rief "So, und jetzt ich". Auf Wikipedia heißt es:
Danach richtete Casagemas die Waffe auf sich selbst und brachte sich eine Kopfverletzung bei, an der er wenig später starb.
Nach dem Tod seines Freundes ist auf den Bildern von Picasso mehrere Jahre viel Trauer zu sehen. 

Abb. 2: Pablo Picasso - Die Tragödie - 1903

Im äußeren Leben ging es bei Picasso - bei großer materieller Armut - folgendermaßen weiter (Wiki):
Nach seiner Rückkehr nach Paris im Mai 1901 brach Picasso mit Odette und fing eine Beziehung mit Germaine an.
Und weiter:
"La Vie" war ursprünglich anders angelegt als es sich heute präsentiert: Der junge Mann auf dem Gemälde war zunächst ein Selbstporträt Picassos, ehe dieser das Bild änderte und dem Mann die Züge Casagemas' und der zunächststehenden jungen Frau die Germaines gab.
Die Entstehungsgeschichte dieses Gemäldes ist also von einem dramatischeren Geschehen bestimmt, als man es ihm auf den ersten Blick ansehen würde. Die sich hier andeutenden wechselnden Liebesverhältnisse, die man auch in manchen Biographien der etwa zeitgleich lebenden expressionistischen Maler des deutschen Sprachraumes findet - etwa in Dresden rund um die "Brücke", mündeten in jener Zeit bei Picasso auch in verschiedene, erhalten gebliebene kleinere Werke. So soll Picasso in dieser Zeit auch das Gemälde "La Doleur" (1902) gemalt haben.

Abb. 3: Pablo Picasso - Der alte Gitarrenspieler - 1903/04

In den kleineren Werken spiegelt sich aber natürlich weniger jener Gehalt wieder, der in seinen bedeutendsten Werken enthalten ist, nämlich der Umstand, daß der Tod seines Freundes - und sicherlich auch die eigenen Liebeserfahrungen - bei Picasso eine mehrere Jahre anhaltende Traurigkeit auslösten. Sie werden zusammenfassend als die Bilder der "Blauen Periode" bezeichnet (Wiki):
Diese Arbeiten (...) gehören heute zu seinen bekanntesten, obwohl er in der Zeit ihrer Entstehung Schwierigkeiten hatte, sie zu verkaufen.
Zu dem Gemälde "Das Leben" aus dem Jahr 1903 hat Picasso selbst nie eine Deutung gegeben. Die Ansichten in der Kunstwissenschaft über seine Deutung gehen weit auseinander. Es heißt, daß es dem Betrachter - womöglich mehr oder weniger bewußt - weite Deutungsspielräume offen gelassen hätte. Daß ja auch für Picasso selbst die Aussage des Gemäldes nicht von Anfang an feststand, ist ja schon seiner angedeuteten Entstehungsgeschichte zu entnehmen: Er wollte eigentlich sich selbst malen. Aber der Gedanke an den Freund drängte sich in den Vordergrund und mußte verarbeitet werden.

Auffallend scheint vor allem die abwehrende Geste des Mannes gegenüber der Frau mit dem Kind zu sein. Es ist nahe liegend, daß sie aussagen soll: Ach, hättest du mich nie geboren.

Es gibt eine Liste der Arbeiten von Picasso zwischen 1901 und 1910 (Wiki), sie bietet einen Überblick. Die Blaue Periode wird auf die Jahre 1901 bis 1904 datiert. Ab 1904 begann sich sein Mal-Stil zu ändern. Und ab 1907 wurde er zunehmend abstrakter.

Abb. 3: Pablo Picasso - Frau mit Krähe - 1904

In der Blauen Periode entstanden etwa "Melancholische Frau", "Sitzende Frau", "Die Suppe", "Mutterschaft", "Die Tragödie", "Der alte Gitarrenspieler" (Wiki).

1904 entstand auch das Gemälde "Frau mit einer Krähe" (Femme à la corneille), das vielleicht den tiefsten Punkt der Depression von Picasso bezeichnet: Eine sehr, sehr blasse Frau, ihre Gesichtsfarbe ist im Grunde kahl-weiß. Und sie streichelt eine Krähe. Man wird eine Krähe von ihrem Wesen her eher als das Gegenteil eines zugewandten, lebensnahen "Streicheltieres" empfinden. Diese Geste mag die tiefe Entfremdung gegenüber allem Leben zum Ausdruck bringen.

Man ist auch geneigt, im Gesicht der Frau Haß zu lesen. Sieht man dieses Gemälde aber im Zusammenhang mit allen anderen Gemälden aus der Blauen Periode, tritt der Eindruck wieder zurück, daß auf diesem Gesicht Haß oder gar Bosheit die dominanten Anteile sein könnten (3). In dem vielleicht vorausgegangenen Gemälde "Frau mit Helmfrisur" ("Femme au chignon", 1904) findet sich ein ähnlich kaltes, ausdrucksloses, desillusioniertes Frauengesicht (Wiki).

Abb. 4: Pablo Picasso  
Frau mit Helmfrisur
1904
Auf die Blaue Periode folgte die Rosa Periode (1904 bis 1906) (Wiki). In dieser nimmt die Melancholie des Künstlers - wie die Farbe Rosa schon für sich selbst aussagt - etwas unbeschwertere Züge an. Aber es wird sicher gesagt werden dürfen: Ohne die Blaue Periode wäre Picasso nicht jener Picasso geworden, als der er in die Kunstgeschichte eingegangen ist. Sie ist sicherlich ein grundlegendes Lebens- und Kunststadium gewesen, sonst würden die in dieser Lebensphase entstandenen Werke nicht heute noch als so bedeutend empfunden werden.

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  1. Reyes Jiménez de Garnica, Malén Gual (Hrsg.): Journey through the Blue. La Vie. (Catalogue of the exhibition celebrated at Museu Picasso, Barcelona, october 10th 2013 to january 19th 2014). Institut de Cultura de Barcelona: Museu Picasso, Barcelona 2013
  2. Museu Picasso zur Ausstellung, bcn.cat, abgerufen am 05. April 2017
  3. Mit diesem Gemälde befaßte sich 1982 auch das französische Fernsehen anlässlich seiner Versteigerung (Yt).

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