Montag, 22. November 2021

Ein neuer Brief von Rainer Maria Rilke ist bekannt geworden

Aus diesem Anlaß ein paar Einblicke in das Leben von Rainer Maria Rilke auch sonst

Immer wieder tut es gut, den Weg zu den Dichtungen, den Schriften oder den Briefen von Rainer Maria Rilke (1875-1926) (Wiki) zu finden. Man ist hier in einer Welt zu Hause, in der es nur Gehalt, nur Wertvolles, nur ernsthaftes Bemühen gibt, nie Oberflächlichkeit, nie Seichtheit. Wie selten! 

Abb. 1: Rainer Maria Rilke im Palais Biron*), Paris 1908 - als Sekretär Rodins aufgenommen von Harry Graf Kessler (pdf)

Das geistige Erbe von Rainer Maria Rilke bietet ohne Frage Orientierung. Es lenkt den Blick auf das Wesentliche. Wohin immer man bei ihm schaut, ist dies der Fall.

In seinem geistigen Erbe findet sich eine solche Fülle von Themen, daß der Nachgeborene leicht den Überblick verliert.

Rilke-Chronik

Unter diesen Umständen ist die sogenannte "Rilke-Chronik" sehr hilfreich (1). Sie kann als ein Zugang zu seinem Werk und seinem Leben erlebt werden, der immer wieder gerne begangen wird. Natürlich neben Gedicht-Sammlungen, die ja für sich sprechen.

Mit diesem sachlichen, nüchternen, oft taggenauen Abriß, in dem immer wieder Auszüge aus Briefen gebracht werden, erhält man eine Ahnung von seinem Leben, von seinen Lebensinhalten, von seiner Lebenshaltung. Eine Lektüre in dieser "Rilke-Chronik" - und seien es nur wenige Seiten am Tag - legt man selten ohne Gewinn aus der Hand. Auf jeder Seite dieser dickleibigen "Chronik" ist Wesentliches enthalten, findet sich Wesentliches. 

Rilke gelang es, so entsteht der Eindruck, ein Leben zu führen, das Unwesentlichem keinen Raum ließ, bzw. in dem Unwesentliches immer wieder auf sein notwendiges Mindestmaß beschränkt worden ist.

Rußland

In seinen Werdejahren ist Rainer Maria Rilke zwei mal nach Rußland gereist. Dies geschah einmal im Jahr 1899 für zwei Monate und ein zweites mal im Jahr 1900 für vier Monate. Da über das ganze Lebenswerk von Rilke immer wieder verstreut von diesem "Rußland-Erlebnis" die Rede ist, ist es gut, wenn man Rilkes Lebenszeugnisse zu diesem Thema einmal in einem Band zusammen gestellt findet (2). Auch eine Lektüre dieses Bandes legt man selten aus der Hand ohne Gewinn gehabt zu haben.

Diese beiden Rußland-Reisen waren sicherlich eine wichtige Zäsur in seinem Leben. Vielleicht kann gesagt werden, daß mit ihnen sich der Gehalt im Leben von Rilke deutlich vertiefte. Bei der zweiten Reise machte Rilke auch eine Schiffsreise auf der Wolga. Das Urteil der Nachwelt läßt keine Zweifel aufkommen (2):

Diese Reisen stellen eine der wirkmächtigsten Auslandserfahrungen der deutschen Literaturgeschichte dar. Sie lösten einen bedeutenden Kulturtransfer zwischen Ost und West aus.

Diese Wirkungsmächtigkeit ergibt sich aus dem Umstand, daß Rilke sich unverstellt auf "das Russische", auf die russische Welt, auf den russischen Menschen, auf die russische Landschaft, auf die russischen Märchen, auf die russische bildende Kunst, auf die russische Literatur einstellte. Wie oft möchte man all das, was man da erwähnt findet, noch jeweils selbst für sich vertiefen.

Tolstoi

Greifen wir da nur ein Thema heraus. Einer der Schwerpunkte seiner Auseinandersetzung mit Rußland bildet - über sein Leben seit 1899 hinweg verstreut - seine wiederkehrende Auseinandersetzung mit Nikolai Tolstoi. Rilkes Interpretation der Lebensproblematik von Tolstoi wird sicherlich nicht jedem bekannt sein. Rilke hatte ja Tolstoi zwei mal sogar persönlich getroffen (1899 und 1900). Und er hat dieses Zusammentreffen im Laufe seines Lebens immer einmal wieder im Licht neuer Deutungen gesehen. Schon bald danach verstand Rilke, daß Tolstoi viele Jahre seines Lebens mit der Anstrengung zugebracht hat, seiner eigenen Begabung als Künstler auszuweichen.

Er habe das dadurch getan, daß er alles mögliche andere versucht habe als Künstler zu sein und dabei seiner Begabung gerecht zu werden. Er habe versucht, Bauer zu sein, Handwerker zu sein, er habe also insbesondere das "einfache Leben" gesucht. Zum Schluß hat sich Tolstoi sogar gegen einen großen Teil der Kunst überhaupt ausgesprochen. In Tolstoi's Schrift "Über moderne Kunst" aus dem Jahr 1899 wird zum Beispiel eine Ablehnung der 9. Sinfonie von Beethoven zum Ausdruck gebracht. Ist darin nicht schon eine Vorahnung von "kulturlosem Bolschewismus" zu erkennen? Rilke bezeichnete diese Schrift Tolstois - aber erst am Ende seines eigenes Lebens - einfach nur noch als das, was sie wohl tatsächlich war, nämlich als eine flache Dummheit. Im Oktober 1924, also nach Vollendung seines eigenen Hauptwerkes, der Duineser Elegien nannte sie Rilke nun erstmals sehr entschieden und ohne alle Entschuldigung: "die schmähliche und törichte Broschüre" (2, S. 366).

Vielleicht sollten wir einfach auch heute uns mehr bemühen, die Irrtümer Tolstoi's zu vermeiden, die wir selbst - natürlich - unbewußter begehen als Tolstoi sie begangen hat. Es kann einem fast so vorkommen, als ob ein Volk, in dem der bedeutendste Schriftsteller die eigene künstlerische Tätigkeit von sich aus so stark infrage stellt wie das Tolstoi getan hat, solchen Revolutionen wie denen von 1917 und 1918 kaum noch etwas entgegenzustellen hat.

Insgesamt war Rilke mit dem Thema Rußland innerlich so sehr beschäftigt, daß er auch noch ein drittes mal nach Rußland reisen wollte. Da aber kam ihm eine neue Erfahrung "dazwischen": Worpswede.

Abb. 2: Fritz Mackensen - "Der Säugling", 1892

Worpswede

Damit ist gemeint: Die Künstlerkolonie Worpswede. Im Herbst des Jahres 1900 kam Rilke nach Worpswede. Im Frühjahr 1901 heiratete er dort die Bildhauerin Clara Westhoff. Im Dezember wurde ihre gemeinsame Tochter Ruth geboren. In dieser Zeit schrieb Rilke seine Monographie "Worpswede" (3).

Dieses Buch ist von den Rilke-Kennern bis heute in seiner Bedeutung nicht ausreichend gewürdigt worden (3, S. 270ff). 2003 widmete die Kunsthalle Bremen diesem Buch eine eigene Ausstellung. Das Buch Rilkes selbst gab sie dabei neu heraus (3). Der Band gibt nicht nur die Schrift selbst wieder, sondern enthält auch viefältige Auskünfte zu seiner Entstehungsgeschichte und zu seiner Wirkung. Daß in den beigegebenen "Kommentaren" die heutigen Kunstwissenschaftler sich dabei alle vornehmer und urteilssicherer dünken als Rilke wird man sicherlich nicht auf die Goldwaage legen müssen.

Rilkes Worpswede-Buch steht zwischen seiner bedeutsamen Rußland-Reise - zusammen mit Lou Andreas-Salome - und seinem Paris-Aufenthalt bei Auguste Rodin. Es Buch entstand in der kurzen Zeit der glücklichen Ehe mit der Worpsweder Bildhauerin Clara Westhoff. Mit ihr gemeinsam war er im Nachbardorf von Worpswede ansässig und stand in engem Austausch mit den Künstlern und ihren Frauen (3, S. 230ff). Auf eine dritte Rußland-Reise hatte Rilke verzichtet, um eine Worpsweder Künstlerin zu heiraten. Der Maler Fritz Mackensen - berühmt durch sein Bild "Der Säugling" von 1892 (3, S. 39) - nennt das Buch "wohl das Hervorragendste, was je über Kunst geschrieben worden ist" (3, S. 281). Der Maler Paul Moderson äußerte sich ebenfalls begeistert (3, S. 169). Der Schriftsteller Manfred Hausmann eiferte dieser Schrift nach  - wie mancher andere (3, S. 277). Genauso auch der Worpsweder Maler Heinrich Vogeler. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Vogeler - überraschenderweise - Kommunist. Und noch in den 1930er Jahren ließ er in der Sowjetunion Schriften zur Sowjetkunst erscheinen, in denen er die Kunst von Worpswede feierte (3, S. 284f). 

Doch, unbezweifelbar: Dieses Worpswede-Buch Rilkes kann man liebgewinnen. Für ein Leben lang kann es ein teurer Schatz im Bücherschrank bleiben.

Nach Abschluß dieser Schrift ging Rilke zum Bildhauer Auguste Rodin nach Paris. Dort verfaßte er seine berühmte Rodin-Schrift. Ihr entwickelte er eine neue, noch tiefere und reifere Einstellung zur Kunst und zum Leben. Eine tiefere noch als jene, die aus dem Buch über die Maler von Worpswede spricht.

Aber das durchgängig sichere, treffsichere Urteil Rilkes in seiner Worpswede-Monographie, es war nur möglich, weil Rilke in seinem Leben und in seiner Kunst innerlich schon zur Zeit der Entstehung dieser Monographie weiter war als die Maler von Worpswede. So will es einem scheinen. Die Maler von Worpswede standen nicht selten der damaligen Heimatkunst-Bewegung nahe. Beziehungsweise entfernten sie sich oft nicht allzu deutlich von ihr. Der Worpsweder Maler Hans am Ende meldete sich 1914 kriegsfreiwillig. Im Jahr 1918 fiel er. Er hatte sich freiwillig gemeldet sicherlich aus seinem Verständnis heraus für eine freie Entfaltung einer nationalen, deutschen Kunst, die im deutschen Heimatboden wurzeln sollte.

"Worpswede" und die Schrift Rilkes sind Teil des damaligen Aufbruchs zu einer neuen Kunst, mehr noch, Teil des Aufbruchs zu einer neuen Religion. Der Vergleich so mancher "Religions-Suche" von heute mit dem damaligen Ernst und der damaligen Gefühlstiefe wie sie von Rilke zum Ausdruck gebracht wird - er könnte schamrot machen.

Abb. 3: Rainer Maria Rilke, gezeichnet von Emil Orlik (wohl 1921)

Folkwang

Am 31. Oktober 1905 besuchten Rilke und seine Frau Clara eine der mo­dernsten Kunstsammlungen ihrer Zeit: das private Kunstmuseum Folkwang im west­fälischen Hagen. Dieses Museum hat in der Tat eine spannende Geschichte (Wiki). Es war das erste Kunstmuseum Deutschlands, das 1902 ein Bild von van Gogh erworben hat. Damit sei nur eine leise Andeutung seiner reichen Geschichte und seiner vielfältigen Sammelschwerpunkte benannt. 

Nun ist soeben ein neuer Brief von Rainer Maria Rilke bekannt geworden, den er unmittelbar nach Besuch dieses Museums geschrieben hat (4). Und wie sehr wird alles zu Gold, wenn Rilke es berührt. Wie sehr ist man von vornherein für das Folkwang-Museum begeistert, auch wenn man es noch gar nicht kennt, wenn man nur allein diesen Brief liest. Wie sehr wird es einem selbst zum Erlebnis.

Kann sich ein Museum eine bessere Werbeschrift wünschen als dieser Brief, auch wenn er erst 116 Jahre nach seiner Niederschrift öffentlich bekannt wird? Rilke schrieb da an den Museumsgründer Osthaus:

Köln, Hotel Ernst. 1. November 1905
Sehr verehrter Herr, 
das freundliche und reiche Erlebnis, zu dem uns der gestrige Nachmittag durch Ihre und Ihrer Frau Gemahlin Güte geworden ist, hat nicht aufgehört in uns zu wirken - ja, es war so sehr stärker als alle späteren Eindrücke, daß wir einen Augenblick daran dachten, von Barmen (wenn auch nur für einen Abend) nochmals zu Ihnen zurückzukehren: allem in uns recht gebend, was noch bei Ihnen zu verweilen und zu zögern schien. Möchten Sie im Aufgreifen dieser Tatsache die herzliche Bewunderung erkennen, die ich für Ihre seltene Beziehung zu Kunst­dingen hege und für diese Dinge selbst, die eine feine Betrachtung und eine große Liebe mit so sicherem Wissen vermählt hat.
Es ist vielmehr als nur Erinnern, womit wir des Nachmittags gedenken werden, den Sie uns gaben; er gehört zu den besten, die ich weiß.
Kaum jemals hatten wir so stark das Gefühl, daß der rasche Rhythmus der Reise uns fortrisse aus der erwartungs­vollen Stille eines Intervalls, von der wir über die Maßen gern umgeben waren.
Nehmen Sie also unseren allerherzlichsten Dank und sagen Sie Ihrer Frau Gemahlin davon und von der Ergebenheit, deren ich Sie dankbar versichere.
Rainer Maria Rilke

Gold, Gold, wohin Rilke blickte.

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*) 1.9.23: Der Ort der Aufnahme wird in den Kommentaren bei Wangenheim erörtert (Wanghm2020): Es gibt viele Namen für immer das gleiche Gebäude. Es handelt sich um das heutige „Musée Rodin“ (Wiki). Ab 1790 hieß es „Hotel Biron“ nach seinem Vorbesitzer, einem Herzog Biron. Ab 1820 war es als „Konvent von Sacré Cœur“ bekannt, eine Schule für höhere Töchter. 1905 und 1906 wohnte Rilke hier, ebenso andere Künstler, auch seine Frau Clara Westhoff. Rodin selbst scheint hier erst 1909 Zimmer gemietet zu haben, ab 1916 ist dann das ganze Gebäude zum „Musée Rodin“ umgewidmet worden. Auch Bildersuche zu „Musée Rodin“ zeigt gleich, daß man von innen überall diese hohen Fenster sieht.

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  1. Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke - Chronik seines Lebens und seines Werkes 1875-1926. Erweiterte Neuausgabe hrsg. von Renate Schaffenberg. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009 (EA 1975)
  2. "Meine geheimnisvolle Heimat" - Rilke und Rußland. Hrsg. von Thomas Schmidt. Insel Taschenbuch 2020
  3. Rilke. Worpswede. Eine Ausstellung als Phantasie über ein Buch. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath und Andreas Kreul. H. M. Hauschild, Bremen 2003 (Amaz.)
  4. Stamm, Rainer: Einer der besten Nachmittage, die er erlebte. Unbekannter Rilke-Brief. FAZ, 20.11.2021

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