Dienstag, 23. Mai 2017

Rede für eine Verstorbene

Daß wir Menschen sterben, ist ein immer wieder unverstandener Teil unseres Lebens. Sich an die Begrenztheit unserer Lebenszeit zu erinnern, kann uns innehalten lassen und uns vor oberflächlicher Lebensgestaltung, Lebenszeit-Verschwendung bewahren. Im folgenden soll die Ansprache eines Schwiegersohnes wiedergegeben werden, die er im Mai 1996 gehalten hat für seine mit 85 Jahren gestorbene Schwiegermutter. Ihre zusätzliche Bedeutung erhält diese Ansprache durch den Umstand, daß der Sprechende selbst nur vier Monate später ebenfalls - ganz unerwartet - verstorben ist. Ein Mensch charakterisiert sich durch die Art, wie er über einen anderen Menschen spricht. Hier wird deutlich, was er als wesentlich, was er als unwesentlich wahrnimmt und benennt - auch für sein eigenes Leben. Deshalb gibt er dabei immer auch ein Bild von sich selbst. Die weiteren Worte dieses Beitrages stammen - soweit nicht anders angegeben - von Hermin Leupold. (I.B.)

Traueranzeige:
Wir trauern um unsere liebe Mutter Ingeborg Sch., 22.10.1911 - 4.5.1996. Nach einem langen erfüllten Leben ist sie unerwartet von uns gegangen. Ihre große Sorge galt ihrer großen Familie und unserem Volk. 

Rede für eine Verstorbene


Musik: Langsamer Satz, Es-Dur aus der g-moll Sonate für Flöte von Johann Sebastian Bach (Yt)
Einst

Und wenn ich selber längst gestorben bin,
Wird meine Erde wieder blühend stehen,
Und Saat und Sichel, Schnee und Sommerpracht
Und weißer Tag und blaue Mitternacht
Wird über die geliebte Scholle gehen.

Und werden Tage ganz wie heute sein:
Die Gärten voll vom Dufte der Syringen,
Und weiße Wolken, die im Blauen ziehn,
Und junge Felder seidnes Ährengrün,
Und drüberhin ein endlos Lärchensingen!

Und werden Kinder lachen vor dem Tor
Und an den Hecken grüne Zweige brechen,
Und werden Mädchen wandern Arm in Arm
Und durch den Sommerabend still und warm
Mit leisen Lippen von der Liebe sprechen!

Und wird wie heut' der junge Erdentag
Von keinem Gestern wissen mehr noch sagen,
Und wird wie heut' doch jeder Sommerwind
Aus tausend Tagen, die vergessen sind,
Geheime Süße auf den Flügeln tragen!

                                  Lulu von Strauß und Torney

Musik: Langsamer Satz, h-moll, aus der D-Dur-Sonate von Händel (Yt)

Abb. 1: Ingeborg Sch., 1986
Unsere liebe Inge, unsere liebe Mutter ist nun auf ewig entschlummert.

Vor nur zwei Wochen kam Mutter nach der glatt und glücklich verlaufenen Hüftoperation weitgehend schmerzfrei zu uns zurück. Sie hoffte, nach einem baldigen weiteren Aufenthalt in der Wiederherstellungs-Klinik bald wieder mit Freund Artur in der schönen Hegaulandschaft wandern zu können.

Obwohl nach den anstrengenden Operationen öfters müde, wirkte Mutter durch die kurze Haartracht verjüngt. War es dies oder die Reife der Lebensbahn, Mutters Antlitz hatte irgendwie noch feinere und fraulichere Züge gewonnen. Sonst war sie so wie immer, las gern, erzählte viel und dies meistens mit dem halb überlegenen und halb verlegenen Lächeln, das nur ihr so eigen war.

- Ja, wie schnell, ja, eigentlich innerhalb von nur drei bis vier Tagen hat sich alles geändert ...

Obwohl wir ja alle wegen der anderen schweren Krankheit große Sorge um Mutter haben mußten, schien jede ernste Veränderung so fern ...

Ja - trotz alledem - wir müssen Mutters Tod nun tragen.

Es bleibt uns heute nur, all die schönen und auch ernsten Erlebnisse, die wir mit Mutter teilen konnten, uns zu bewahren. Das Kleine, Zufällige wird mehr und mehr absinken. Und das Wesentliche allen gemeinsamen Tuns und Erlebens, das können wir bewahren und für unser weiteres Leben fruchtbar machen.

Das ist es sicherlich, was Inge wünschen würde, für sich selbst nichts, aber alles für die hohen, bleibenden Werte!

In diesem Sinne wollen wir heute einen Rückblick auf ihre nun abgeschlossene Lebensbahn werfen. Nur weniges kann an dieser Stelle gesagt werden, aber vieles mehr wird sicherlich in diesen Tagen und später in den Gesprächen aufgeweckt werden.

Im Jahr 1911 wurde Inge als die Älteste von fünf Schwestern in Pleß in Ostoberschlesien geboren. Die Laufbahn führte in so viele Gegenden deutscher Sprache und Kultur, vom schönen Wien, wo sie die Kindheit im Elternhaus verlebte, über viele Haltepunkte im Lande Salzburg, in Hessen und schießlich hierher zum Bodensee.

Wie ja auch Helga schon sagte, Höhepunkte der Jugendzeit waren die Überlandfahrten mit dem Wandervogel, von denen eine auch zum schönen Bodensee geführt hatte. Diese Fahrten und der Geist der Gruppe war für das ganze Leben prägend; sie weckten eine lebenslange Liebe zur Landschaft, zur Natur und zu unserer gemeinsamen Kultur. Wie gern und ausführlich hat Mutter uns - sozusagen noch gestern - davon erzählt!

Mutter erhält eine Ausbildung als Krankenschwester und hat auch in diesem Beruf gearbeitet. Aber wie gern hätte sie mehr gelernt, ein Studium begonnen! Doch die wirtschaftlich karge Zeit und das entscheidende Wort des Vaters stand dem Studium entgegen.

Aber immer war Mutter geistig breit interessiert und las und lernte immer.

Nun kommt ein entscheidendes Ereignis. Inge lernt auf einer Bergwanderung einen Künstler und vor allem Maler kennen! Er ist zwar schon 19 Jahre älter und war schon einmal verheiratet. Aber von vornherein verbindet eine gemeinsame Weltanschauung, schon auf den ersten Blick an einem Abzeichen erkannt. Hinzu kommt die gemeinsame Liebe zur Natur, zu den Bergen und zur bildenden Kunst. Nun waren die Heiratsgesetze in Österreich zu jener Zeit konfessionell so einschränkend, daß ein aus einer früheren katholischen Ehe Geschiedener nicht mehr heiraten konnte. So können die beiden erst drei Jahre später die Ehe schließen, als durch den Anschluß Österreichs an das Reich im Jahre 1938 eine freiere Gesetzgebung dies erlaubte.

- Die beiden stellten ihr Leben unter eine neue und eigene Lebens- und Gottauffassung, fern von den herkömmlichen christlichen Religionen.

Nach der Eheschließung 1938 entstand in Tamsweg und dann in Zell am See im Land Salzburg schnell eine große Familie: innerhalb von etwas weniger als 10 Jahren wurden 7 Kinder geboren: 3 Mädchen und 4 Jungen.

Aber nur 12 Jahre des erfüllten Zusammenseins waren geschenkt: Wilhelm Sch. starb unerwartet im Jahre 1950, im Alter von 58 Jahren.

Wir Jüngeren bedauern alle es sehr, daß wir ihn nicht selbst näher kennen gelernt haben. Die Bilder, die er malte, sind ein Spiegel seines Wesens.

Und nun muß ich von der Haltung und Leistung Mutters berichten, die nur zu bewundern und mit Erschütterung zu erfahren ist.

Beim Tod des Vaters war der Jüngste drei und der Älteste zwölf Jahre alt.

Mutter ist es gelungen, allein und trotz sehr bedrängter wirtschaftlicher Lage die sieben Kinder zu gesunden, bescheidenen und tüchtigen Menschen heranzuziehen, die alle eine gute Berufsausbildung erhielten, und von denen zwei sogar ein Hochschulstudium durchlaufen konnten.

Was aber vor allem anrührt, ist, daß Mutter über Jahrzehnte hin immer nur die Gebende war. Immer in allen Lebenslagen mußte sie da sein, alle Fragen allein beantworten, alle Probleme allein meistern, ohne klärende Rücksprache. Immer nur gefordert - aber eigentlich nie selbst von anderen seelisch beschenkt, wie es eine Zweisamkeit ja tun kann.

So wurde Mutter zu dem nach außen etwas herben, aber immer selbstlosen, tatfreudigen Menschen, der aller Naturschönheit und allem Guten aufgeschlossen und von unbestechlicher Wahrheitsliebe geleitet war.

Mutters Tatkraft und Einsatzwille war mit der Betreuung und Erziehung der eigenen sieben Kinder noch nicht erfüllt - sie fühlte sich auch der größeren Lebensgemeinschaft, unserem Volk zutiefst verbunden und verpflichtet - nicht in Worten, nein, im Tun und Wirken!

So half sie tatkräftig bei der Errichtung, Ausstattung (z.B. mit selbstgenähten Vorhängen und Bildern von Vaters Hand) und Betreuung eines Jugendheims im Salzburger Bergland mit. Sie kochte auch für die dort und anderswo abgehaltenen Ferienlager für unsere Jugend.

Und auch später, nachdem die Kinder ihre eigenen, selbständigen Ausbildungs-, Berufs- und Familienwege gingen, war Mutter immer bereit, die Töchter oder Schwiegertöchter zu entlasten, die Kinder vorübergehend zu betreuen.

Aber nun konnte sich die ununterbrochene Verpflichtung endlich mehr und mehr auflockern. Über eine geraume Zeit hinweg, erst im Hessenlande bei ihren Töchtern und dann im Hegau konnte jetzt das eigene Lesen, Lernen und Erleben in den Vordergrund treten. Immer wieder gab es eine kleinere Reise zu Vorträgen und Tagungen. Eine beeindruckend reiche Büchersammlung erzählt von Mutters immerwährendem Wissensdrang.

In diese letzten Jahre fällt auch die gute Freundschaft mit Artur. Gleicher Lebensausblick, stiller und wohltuender Austausch von Gedanken und Herzenswärme waren noch einmal geschenkt!

- So hat sich die Lebensbahn Inge Sch.s in reichem Schaffen und Erleben vollendet. Von diesem ausgefüllten Leben zeugen hier viele Kinder, Enkel und sogar Urenkel.

Im Angesicht dieses erfüllten Lebens sollte die Naturgesetzlichkeit des Todes uns nicht mit Gram und Enttäuschung erfüllen. Viel angemessener ist doch eine tieferlebte heilige Trauer, die zwar eine nah verwandte liebe Seele unwiderruflich schwinden, aber doch die Möglichkeit sieht, sie in der Erinnerung und in gleichem Wollen und verwandten Tun in uns lebendig werden zu lassen.

So können wir das Andenken an unsere liebe Tote am ehesten dadurch in uns wachhalten, daß wir uns ihr Vorbild der Liebe zur Wahrheit, zur Schönheit und das der hieraus erwachsenen Tat- und Gestaltungskraft, Selbstlosigkeit und Anspruchslosigkeit zu eigen machen und diesem Vorbild auf unsere eigene Weise zu entsprechen versuchen, bis auch uns der Mantel der Natur im eigenen Vergehen einhüllt, und die nach uns Kommenden alles weiterführen und weitergeben werden.

*  *  *

Musik: Thema des langsamen Satzes aus Apassionata von Ludwig van Beethoven (Yt)



Abb. 2: Morgenstimmung an einem märkischen See

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