(Nach einer Mitschrift von Vorträgen Hermin Leupolds aus dem Jahr 1993)
Die Aufsatzreihe „Die stammesgeschichtliche Entstehung des Menschen aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie“ (1), die ab März 1995 erschienen ist, bricht schon im Jahr 1996 wieder ab, da ihr Verfasser im Jahr 1996 gestorben ist.
Abb. 1: Titelseite der Zeitschrift DVHS vom Januar 1994 Darauf: Republikanische Büste um 30 v. Ztr. Terrakotta, Höhe 33,5 cm Boston Museum of Fine Arts |
Eine erhaltene Vortragsmitschrift aus dem September 1993 gibt einen Eindruck von weiteren Inhalten, die in dieser Aufsatzreihe hätten behandelt werden sollen. Wir bringen hier zunächst den reinen Wortlaut der Vortragsmitschrift. Im Anschluß versuchen wir uns noch an einigen inhaltlichen Erläuterungen derselben.
Eine Vortragsmitschrift (1993)
(Vortrag von Hermin Leupold, September 1993)
göttliche Wünsche …
… Einmal tiefstes Erlebnis
Einmal stilles, ruhiges Besinnen.
Wie sind die Ausstrahlungen des „Göttlichen“ entstanden?
Wurzeln bereits im Tierreich.
Elternliebe:
Freie Entscheidung, wie es ausgeübt wird. Gottesstolz (besser Gottverantwortung). Kern: Verantwortung.
Selbstverantwortung Grund zum Handeln
Wurzel: Abwehr von Feinden und Gefahren
Verantwortung höherer Wert als Verpflichtung
ist verbunden mit Altruismus
z.B. Herdenboß, Patriarch
Naturwissenschaftliche Befunde zu bisher o.g.
quantitative Beschreibung der Mutation und Selektion → Neodarwinismus
wie bildet sich altruistisches Verhalten in der Evolution? (z.B. Verzicht auf Nachkommen?)
Ab 1964 erste Erklärungen dafür durch Hamilton.
Darwin: fitness spielt Hauptrolle bei Evolution des Einzelnen, bestimmt Selektion der Gene
Fitneß: Evolutionserfolg, Zahl der Nachkommen
Hamilton: Fortpflanzung der Gene durch Vermehrung der Verwandten möglich → „inklusive Fitneß“ = eigene + Verwandte bestimmt die Selektion der Gene
Soziobiologie:
„Inklusive Fitneß“ bestimmt die Selektion der Gene. Sie enthält zusätzliche ...
Einschließlicher Evolutionserfolg (Zahl der Nachkommen) = inklusive Fitneß
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Abb. 2: Aus der handschriftlichen Mitschrift die an dieser Stelle an die Tafel geschriebene mathematische Gleichung |
Alle Gene müssen zu ihrer eigenen Vervielfältigung, Vermehrung im Genbestand wirken (in Nachkommen) (im Erbbestand) ==> auch Altruismusgene müssen sich halten.
Altruismus z. B. bei Bienen (Arbeiterbienen zu 75 % identisch, zu 50 % mit Königin) z. B. bei Honigameisen: Honigtöpfe
Mittwoch, 15.9.93
Staatenbildung bei Wirbeltieren: nach Prinzip wie bei Termiten: Nahrung weit verstreut, pflegebedürftige Jungtiere, mehrere Generationen …
Nacktmulle in Afrika 1 Königin, 60 - 200 Tiere, 5 normale Tiere a 30 Gramm
Nur die Königin pflanzt sich fort.
Untersuchungen an verwandten Mullen ergaben, daß die Staatenbildung des Heterocephalus glaber (Nacktmull) nicht zwingend ist.
Grundformel der Soziobiologie (Wickler/Seibt, Prinzip Eigennutz, S. 176) r > E/Z nur in diesem Rahmen kann sich die soziale Hilfeleistung in der Evolution erhalten.
r = Verwandtschaftsgrad von Wohltäter zu Empfänger
E = „Einbuße“, d. h. verminderter Fortpflanzungserfolg bei Wohltäter durch „Wohltat“
Z = „Zuwachs“, d. h. zusätzlicher Fortpflanzungserfolg beim Empfänger der Wohltat.
Mensch hat die Neigung, sich in Gruppen abzugrenzen durch ähnliche Kleidung in der Gruppe entgegen der Kleidung anderer Gruppen, Dialekt … usw.
Vorteil: Verwandtschaftsgrad kann besser erkannt werden!
Prinzip Eigennutz paßt nicht, da Gene kein Ich besitzen
Inwieweit läßt sich Schönheit auch oft als nützlich beschreiben? Sechseck = stabil + raumsparend ...
Anlage erhöht die Wahrscheinlichkeit, in eine bestimmte Richtung zu handeln (altruistisch)
Alexander, Richard D. in Englisch (8), Quelle von Eckart Voland, Funkkolleg (Psychobiologie - Verhalten bei Mensch und Tier, 1986)
An der Wurzel der Evolution stand als Einheit eine Menschengruppe / Stamm, die zu anderen in Konkurrenz stand.
→ enge Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern einer Gruppe und Bekämpfung der Mitglieder fremder Gruppen
Voraussetzung:
Erkennung der eigenen Verwandten
→ Höherentwicklung durch Kennzeichnung wie Kleider, Haartracht usw.
→ Höherentwicklung des Gehirns!
→ zunächst diente auch die Sprache dazu. z. B. Heute noch üblich, viel Gemeinschaftskontakt durch Gespräche: wie geht’s?
Nachbar Huber ist doof, du bist gut usw. siehe auch polit. Reden!
Grenze bei ca. 160 Menschen abhängig vom Zeitaufwand
nimmt ständig zu: Schimpansen ca. 30% ihrer Zeit
Menschen ca. 40 % der wachen Zeit!!!
beachte auch Bestreben, sich anzupassen! (an Sprache, Kultur und politische und geschichtl. Ansichten …)
Es werden auch Zwänge eingesetzt
z. B. Verbannung, Verstellung (um zu parasitieren)
Summe: die Aufwärtsentwicklung des Menschen ist durch konkurrierende Gruppen entstanden.
Mensch sucht sich aus dem vorhandenen Kulturangebot (Eltern, Schule …) seinen Neigungen, Anlagen entsprechende Dinge heraus und lebt sie.
Kulturelle Ideale führen z. B. zur Veränderung von Genhäufigkeiten (z. B. schlanke Menschen schöner, besser als dicke …)
Grundthese: Erbgut = Resonanzboden
Gene machen den Menschen dazu geneigt, derjenigen Kulturform Unterbau zu schaffen, die/der das Überleben der Gene fördert.
Äußert sich vor allem in/bei Fortpflanzung.
Statistik: Partner in der Ehe: gleich zu gleich gesellt sich gern
Gene müssen gleiche Gene erkennen
→ Kultur ist eingespannt zur vermehrten Fortpflanzung (in sehr vielen Bereichen)
religiöse Inhalte sehr stark wirksam, da sie hohe Ansprüche stellen und tief erlebt werden, bzw. auch wichtig für das Überleben sind (Maiskochen)
Soziobiologie nicht ausreichend, um Kultur vollständig zu erklären, es darf jedoch auch kein Widerspruch zwischen Kultur und Evolutionsgesetzen geben.
Frau Ludendorff beschreibt die Volksseele:
…
Gottlied der Völker allerhöchstes Ziel
Erste Erläuterungen zur Vortragsmitschrift
Es wird also hier zunächst das grundlegende Konzept der Verwandtenselektion nach William D. Hamilton behandelt, sowie seine Anwendung zur Erklärung von Eusozialität im Tierreich, also insbesondere von Staatenbildung mit sterilen Arbeiterinnen-Klassen, die sich nicht selbst fortpflanzen. Es folgt dann die Behandlung des Schrittes in der Wissenschaft, daß sich der US-amerikanische Zoologe Richard D. Alexander fragte: Das gibt es bei wirbellosen Tieren recht oft, sollte es das dann nicht auch bei Wirbeltieren geben? Und er sagte dann genau voraus, unter welchen Bedingungen es eine solche Eusozialität auch bei Wirbeltieren sollte geben können. Erst nachdem er diese Voraussage getätigt hatte, wurde dann die Tierart der Nacktmulle entdeckt, und es wurde entdeckt, daß sie genau jene Voraussetzungen, die Alexander theoretisch vorausgesagt hatte.
Im Weiteren wird dann der Gedanke erörtert, daß etwas seinen moralischen oder ästhetischen Wert nicht dadurch verlieren muß, daß es zugleich auch nützlich ist. Altruismus wird durch die Soziobiologie als nützlich für die Erhaltung der Gene beschrieben, kann aber deshalb natürlich auch moralischen Wert haben weit über die erklärte Nützlichkeit hinaus, etwa in Form von gotterfüllter Elternliebe und Gottverantwortung. Die naturwissenschaftliche Erklärung steht mit einer solchen Möglichkeit nicht in Widerspruch. Der Vortragende will darauf hinaus, daß hier auf der subjektiven Ebene des Individuums keineswegs per se oder vorwiegend "Eigennutz", "Egoismus" erklärt wird - wie in dem bekannten Buchtitel von Richard Dawkins unterstellt -, sondern genau das Gegenteil, nämlich edle, wertvolle Eigenschaften des menschlichen Seelenlebens. Dies Eigenschaften können eben nur zugleich auch - wie die Bienenwabe - nützlich sein.
Im weiteren folgen Ausführungen, die sich aus dem Zusammenhang der Social brain-Theory ergeben, wie sie Robin Dunbar nachmals 1996/98 in seinem Buch „Klatsch und Tratsch“ erläutert hat, wie sie aber bis 1993 schon in Einzelaufsätzen vorgelegen hatte, die der Vortragende also auch alle schon zur Kenntnis genommen hatte. Es handelt sich um Dunbar's Theorie, daß aus der sozialen Fellpflege (Grooming), der Menschenaffen 30 % ihrer wachen Lebenszeit widmen, mit sozial ähnlicher Bedeutung die menschliche Sprache hervorgegangen sei, nämlich vornehmlich für den „Klatsch und Tratsch“ innerhalb von menschlichen Gruppen mit bis zu 150 Angehörigen - „Dunbars Number“, jenen Gesprächen, denen Menschen ca. 40 % ihrer wachen Lebenszeit widmen.
Der Vortragende hatte einmal irgendwo etwas davon gelesen, daß das Kochen von Mais bei bestimmten nordamerikanischen Indianern mit religiösen Ritualen oder Gefühlen verbunden war, wodurch die Beibehaltung dieser Überlebenstechnik gesichert war. Das ist hier ungefähr der Sinn. Vielleicht ist damit die "Green Corn Ceremony" (Wiki) gemeint oder etwas Vergleichbares. Siehe auch Ausführungen über die religiöse Bedeutung des Mais bei den Navajo: Gladys Amanda Reichard: Navaho Religion - A Study of Symbolism, 1950 und viele Folgeauflagen (GB).
Am Ende wird ein Ausblick auf die philosophische Deutung der Evolution menschlicher Gruppen und Völker durch Mathilde Ludendorff gegeben, insbesondere die von ihr gegebene Wertung, daß die Vielfalt der menschlichen Kulturen auf der Erde der höchste Wert in diesem Weltall darstellt.
Wer den größeren inhaltlichen Zusammenhang verstehen will, in dem die Ausführungen dieser Vortragsmitschrift standen, der tut gut daran, sich zunächst jenen Aufsatz anzuschauen, mit dem die eingangs genannte Aufsatzreihe im Januar 1994 eingeleitet worden war. Es geschah das durch den Aufsatz "Der wesentliche Schritt vom Tier zum Menschen - Eine philosophische Psychologie". In diesem wurde einleitend ausgeführt (2):
Eine Aufklärung der Vorgänge der evolutionären Entstehung der Menschenseele sollte es uns erlauben, das besondere menschliche bewußte Erleben besser zu verstehen und von daher zu einer vertieften Selbsterkenntnis und über diese zu einer sinnvolleren Lebensgestaltung zu gelangen. Insbesondere könnte eine solche zutreffende Selbsterkenntnis und gültige Lebensauffassung auch die dringenden Fragen nach dem Sinn der Sonderung der Menschen in unterscheidbare Gruppen, wie Stämme und Völker und zugleich nach den Lebensrechten dieser Gruppierungen beantworten. (...)
Wir wollen wie in den beiden bisherigen (...) Aufsatzreihen über die Evolution wiederum die naturwissenschaftlichen Aussagen zur Entstehung des Menschen denen der Philosophie von Mathilde Ludendorff gegenüber stellen. Die naturwissenschaftlichen Befunde zu unserer Fragestellung werden hier aus den Fachgebieten der Verhaltensforschung, der Soziobiologie, der molekularen Stammbaumanalyse, sowie der Vorgeschichtsforschung herstammen.
Es seien an dieser Stelle auch noch Ausführungen aus dem Endabschnitt dieses Aufsatzes zitiert. Hier wird nämlich gefragt, welche Gegenkräfte es in der Menschenseele gibt gegen den "unweisen Selbsterhaltungswillen", der den Menschen - nach der Deutung von Mathilde Ludendorff - oft im Widerspruch zum Göttlichen handeln läßt (2):
Wenn es also der Sinn des Menschenlebens ist, sich in freier Entscheidung dem Göttlichen zuzuwenden und sich ihm zu erschließen, muß der Mensch die Möglichkeit haben, es irgendwie zu erfahren, zu spüren.
Wie ist es dann aber möglich, vom Göttlichen zu erfahren und trotzdem die Freiheit des Entscheides für oder wider zu behalten? Dieser wichtigen und schwierigen Frage wollen wir uns nun zuwenden.
In der Stammesentwicklung wurde schon in den höheren Tieren das Verhalten der Brutfürsorge angelegt. Aus dieser Wurzel erwacht im Menschen das bewußte Erleben der Elternliebe, insbesondere der Mutterliebe. Dieses drängt das selbstsüchtige Streben nach Lusthäufung und Unlustvermeidung durch den unvollkommenen Selbsterhaltungswillen zugunsten der häufig schmerzhaften und aufopferungsvollen selbstlosen Hingabe an das Wohl des Kindes zurück und schwächt damit die Wahrscheinlichkeit, daß das Ich dem unweisen Selbsterhaltungswillen die Zügel des Handelns überläßt. Im bewußten Erleben der Elternliebe wird diese gegenüber der tierlichen Brutpflege vergeistigt und kann zum seelischen Aufstieg des Ichs und zur Erfüllung des Lebenssinnes führen.
Ein weiteres sehr starkes Band zur Erfüllung des göttlichen Sinns des Menschenlebens wird von der Philosophie mit dem Begriff Gottesstolz umrissen, der eigentlich genauer mit dem Begriff Gottverantwortung, d. h. dem Erleben der Würde und Verantwortung des Menschen zur Erfüllung seines göttlichen Lebenssinnes beschrieben werden kann (3, S. 36):
"Der Mensch erlebt in seiner Seele die Ahnung seines hohen Menschenamtes. Es ist dies ein Erleben der Würde, gepaart mit Verantwortung und der Forderung innerseelische Freiheit als der notwendigen Voraussetzung würdigen Lebens. Ich habe dieses Erleben Gottesstolz genannt."In einem späteren Beitrag soll dieser oft mißverstandene Begriff Gottesstolz, oder besser Gottverantwortung, näher erläutert werden. Dabei soll gezeigt werden, daß dieses Erleben ebenfalls eine starke stammesgeschichtlich entstandene Wurzel hat, die im bewußten Erleben des Menschen vergeistigt vorliegt und zum seelischen Aufstieg führen kann.
Es wird außerdem wird noch der Wille zum Schönen, zum Wahren und zum Guten in der Menschenseele erwähnt. Der im Zitat angekündigte "spätere Beitrag" konnte aufgrund des frühen Todes des Verfassers nicht mehr entstehen. Aber wertvolle Andeutungen seines Inhaltes werden sich sicherlich in der einleitend gebrachten Vortragsmitschrift finden.
Eine Vortragsmitschrift aus dem Jahr 1993
Diese war ja nur vier Monate zuvor entstanden, im September 1993. Es seien hier noch äußere Umstände erwähnt, unter denen diese Mitschrift zustande gekommen ist. Damals hielt die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" alljährlich einwöchige Herbsttagungen im Salzburger Land ab. In einem kurzen Bericht über die Tagung des Jahres 1993 hieß es (DVHS, Folge 87, Sept. 1993, 3. Umschlagseite):
Seit 1988 findet nun jährlich einmal unsere Herbsttagung im schönen Salzburgerland statt. Veranstaltungsvorträge, kleine Wanderungen, gemeinsames Singen, Musizieren und Gespräche machen diese kurze Zeit zu einem gehaltvollen, schönen Erlebnis. Im Mittelpunkt der Tagung stand das Thema „Das Werden der Menschenseele“. In insgesamt 10 Vorträgen wurden die modernen Ergebnisse der Verhaltensphysiologie und der Soziobiologie dargestellt und weiterhin herausgearbeitet, ob und inwieweit sich hier Übereinstimmungen mit den Erkenntnissen der Philosophie von M. Ludendorff ergeben. Für die Teilnehmer war es eine faszinierende Erfahrung, anhand von detaillierten Beispielen zu sehen, daß sich die naturwissenschaftlichen und die philosophischen Erkenntnisse zu einer Gesamtaussage ergänzen und in einem Übergangsbereich miteinander übereinstimmen.
Aus der eingangs gebrachten Vortragsmitschrift kann recht gut rekonstruiert werden, über was auf der genannten Tagung in zentralen Teilen vorgetragen worden ist. Diese Mitschrift hat über weite Strecken die wesentlichsten Inhalte so gut festgehalten, daß jemand, der den Vortragenden und sein Denken kannte, aus ihr vieles weitere gedanklich ergänzen und nachvollziehen konnte, was in diesem Vortrag vor allem auch an völlig Neuem gegeben worden war. Schon diese Mitschrift konnte deshalb solche Leser, die den Vortrag selbst nicht gehört hatten, ähnlich ins Herz treffen, als wären sie selbst bei dem Vortrag anwesend gewesen.
Die Evolution der menschlichen Seelenfähigkeiten
Für die mündliche Vortragsreihe auf der Tagung wurde in der Mitschrift keine Überschrift festgehalten. Sie könnte benannt gewesen sein „Die Evolution des menschlichen Verantwortungsbewußtseins“ oder "Die Evolution der Gruppenverantwortung". Zwar wird in den Vorträgen auch wieder die Elternliebe erwähnt. Und der mit ihr verbundene Altruismus wird auch ständig mit behandelt. Aber die Überschneidungen zwischen philosophischer und naturwissenschaftlicher Aussage, bzw. gegenseitige Ergänzungen und Erläuterungen sind ja hinsichtlich der Brutfürsorge und Elternliebe bei Menschen, Tieren und Pflanzen vergleichsweise leicht zueinander in Bezug zu setzen, was auch in vielen deutschsprachigen Veröffentlichungen geschehen ist, zum Beispiel von Seiten von Autoren wie Wolfgang Wickler oder Eckart Voland. Das wird einer der Gründe sein, weshalb auf den elterlichen Altruismus in diesem Vortrag nicht der Schwerpunkt der Ausführungen gelegt wurde. Es gibt in der Evolution ja außerdem weite Übergangsbereiche was die Evolution von der Brutfürsorge hin zur Gruppenverantwortung betrifft. Jedenfalls kreisten die Ausführungen rund um jenen Altruismus, der hier mit „Gruppenverantwortung“ benannt worden ist.
Es wird zunächst an die Aussage der Philosophie von Mathilde Ludendorff erinnert, daß das Göttliche in der Menschenseele Eingang fände über die „göttlichen Wünsche“. Es sind damit angesprochen die vier göttlichen Wünsche zum Wahren, Guten und Schönen, sowie zum göttlich gerichteten Fühlen von Liebe und Haß, die das menschliche Denken, das Handeln, die Wahrnehmung und das Fühlen überstrahlen.
Es wird hierbei eine (auch sonst) wichtige Unterscheidung getroffen. Es wird ausgeführt, daß das Erleben des Göttlichen im Menschen auf zweierlei Art stattfinden könne. Einmal über eine starke seelische Erschütterung - hier als „tiefstes Erlebnis“ notiert. Diese kann ausgelöst werden durch große Freude oder großes Leid, durch Erschütterungen. Gerne wird die Musik Beethovens als kennzeichnend für diese Art des Erlebens herangezogen. (Das kann auch gekennzeichnet sein durch starke Hormonausschüttungen - Streßhormone, Glückshormone etc..) Diesem "aufwühlenden" Erleben könne nun ein andersartiges Gotterleben gegenüber gestellt werden, hierbei handele es sich um ein „stilles, ruhiges Besinnen“. Nämlich auf diese göttlichen Wünsche hin (gegebenenfalls auch auf damit verbundene Gewissens-Wertungen). Gerne wird die Musik von Johann Sebastian Bach als kennzeichnend für ein solches "stilles, ruhiges Besinnen" herangezogen. - Laut Mitschrift fragt der Vortragende dann:
„Wie sind die Ausstrahlungen des Göttlichen entstanden?“
Man kann sich denken, wie die hier in Kurzform festgehaltene Frage eigentlich gelautet haben muß: Wie ist evolutiv die Möglichkeit entstanden, daß sich Ausstrahlungen des Göttlichen bis in die menschliche Seele hinein auswirken können, bzw. dort wahrgenommen und bewußt erlebt werden können? Der Vortragende antwortet auf die von ihm gestellte Frage, daß die „Wurzeln (hierfür) bereits im Tierreich“ angelegt gewesen seien.
Neben die eben genannten vier göttlichen Wünsche, die von der erwachsenen Menschenseele zunächst nur unklar und diffus erlebt werden (und zu denen es von Seiten der soziobiologischen Forschung zahlreiche Erklärungsansätze gibt, die von dem Verfasser in der genannten Aufsatzreihe auch erläutert werden), setzt, bzw. postuliert die philosophische Psychologie Mathilde Ludendorffs zusätzlich noch das Erleben des „Gottesstolzes“ und der "Mutter-" bzw. "Elternliebe“ als starke, nun sogar sehr direkt und unverfälscht erlebte „Strahlen des Göttlichen“ in die Menschenseele hinein.
Der Vortragende übersetzt diese beiden Begriffe der Ludendorff'schen Philosophie nun in Begriffe, die heute eher verwendet werden können: „Elternliebe“ und
„Gottverantwortung“.
Elternliebe und Gottverantwortung
Der Vortragende führt aus, daß es in diesen Bereichen des menschlichen Erlebens und Handelns - aus Sicht der Philosophie von Mathilde Ludendorff - eine „freie Entscheidung“ gibt, sich diesen Ausstrahlungen des Göttlichen hinzuwenden und sie zu entfalten oder aber sie verkümmern und absterben zu lassen im Laufe des Lebens.
Der Vortragende referiert damit zentrale Aussagen der Philosophie von Mathilde Ludendorff. Dann findet er Worte über die Gottverantwortung, die - zumindest im Jahr 1993 - auch bei Menschen, die sich mit der Philosophie Mathilde Ludendorffs schon beschäftigt hatten, ein ganz neues Verständnis dieser Ludendorff'schen Art, über diese Bereiche zu denken, erschließen konnten. Es wird deutlich, daß dieses neue Verständnis vor allem auch aus der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der neuesten Forschungsrichtung der Soziobiologie entsprang. Das neue Verständnis ist enthalten in der folgenden, aufzählenden Kurzform der Mitschrift:
... Wie sind die Ausstrahlungen des „Göttlichen“ entstanden?
Wurzeln bereits im Tierreich.
Elternliebe:
Freie Entscheidung, wie es ausgeübt wird. Gottesstolz (besser Gottverantwortung). Kern: Verantwortung. Selbstverantwortung Grund zum Handeln
Wurzel: Abwehr von Feinden und Gefahren
Verantwortung höherer Wert als Verpflichtung
ist verbunden mit Altruismus
z. B. Herdenboß, Patriarch
Naturwissenschaftliche Befunde zu bisher o.g. ....
Die Begriffe Herdenboß und Patriarch spielen auf Alpha-Männchen zum Beispiel in einer Gruppe von Schimpansen oder Gorillas oder anderer in Gruppen lebender Affen an. Diese verteidigen ihre Stellung oft über Rangkämpfe und über Koalitionen untereinander innerhalb der Gruppe. Die Verhaltensforscherin Jane Goodall hat dies eindrucksvoll in ihren Büchern geschildert.
Commitment
Der ausgesprochene Gedanke ist natürlich sofort einleuchtend, daß eine aus dem inneren heraus übernommene Verantwortung einen noch höheren Wert in sich birgt als eine von außen auferlegte Verpflichtung. Verpflichtungen werden dem einzelnen auferlegt im Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften. Wir müssen uns an die Verkehrsordnung halten und ähnliches. Verpflichtungen können schon Kinder übernehmen, Verantwortung ist eher etwas, in das man mehr und mehr als erwachsener Mensch "hinein wächst".
Vielleicht kann man sich die hier vorliegenden Bedeutungsfelder auch verdeutlichen durch die Art, wie diese Begriffe vom Englische ins Deutsche und zurück übersetzt werden. Sich damit auseinanderzusetzen, ist nämlich sowieso notwendig, da die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Erforschung der evolutionären Herkunft dieser menschlichen Seelenfähigkeiten vornehmlich in englischer Sprache veröffentlicht werden. Der Begriff "Verantwortung" wird aus dem Deutschen fast durchgängig mit "responsibility" ins Englische übersetzt. Umgekehrt wird "responsibility" fast durchgängig vom Englischen aus ins Deutsche "Verantwortung" mit übersetzt. Also eine einfache 1:1-Entsprechung. Allerdings werden für den Begriff "Verpflichtung" mehrere englische Worte zur Übersetzung ins Englische vorgeschlagen, darunter als erste die beiden Begriffe "obligation" und "commitment" (Dict.cc).
Und nun ist es so, daß es in der Evolutionären Anthropologie (Soziobiologie) seit etwa dem Jahr 2001 eine Forschungsrichtung gibt, die sich mit der Evolution von "commitment" befaßt (4). Dieser Begriff wird nun umgekehrt aus dem Englischen ins Deutsche wiederum mit einem erheblich größeren Begriffsfeld übersetzt (Dict.cc). Um den Begriff "commitment" ins Deutsche zu übersetzen, werden eine Fülle von deutschen Begriffen vorgeschlagen wie (Dict.cc): Hingabe, Verpflichtung, Engagement, Einsatz, Zusage, Bindung, Verbindlichkeit, Festlegung, Selbstverpflichtung, Verbundenheit, bindende Verpflichtung, Bekenntnis.
Es wird deutlich, daß "commitment" damit für das deutschsprachige Verständnis in einen Übergangsbereich zwischen Verantwortung und Verpflichtung fällt. "commitment" ist auch mitbestimmt von Gefühlen der Verbundenheit mit jenen Menschen oder Gruppen, denen man sich gegenüber "verpflichtet" oder "verbunden" fühlt, es sei dies innerhalb einer Ehe, einer Familie, es sei dies im Zusammenhang mit ehrenamtlichen Verpflichtungen, im Zusammenhang mit einer Firma, einer Religionsgemeinschaft, einer politischen Partei oder im Zusammenhang mit einem Volk, einem Land oder einer weltanschaulichen Ausrichtung, Gruppierung.
Hingabe, Verpflichtung, Engagement, Einsatz, Zusage, Bindung, Verbindlichkeit, Festlegung, Selbstverpflichtung, Verbundenheit, bindende Verpflichtung, Bekenntnis
Der vielleicht abstraktere Begriff Verantwortung muß für sich selbst genommen mit einem solchen emotionalen Bindungsgefühl nicht verbunden sein, kann es aber durchaus. "Commitment" ist eine Festlegung, eine Zusage, zu bestimmten Personen, zu bestimmten Angelegenheiten, Aufgaben zu stehen, auch wenn es einmal schwierig oder turbulent wird, wenn es größere Veränderungen gibt, und wenn gegebenenfalls deshalb von allen Beteiligten Prioritäten neu gesetzt werden mögen. "Commitment" schließt also Zuverlässigkeit, "Festigkeit", "Beständigkeit" ein. Es fließt wohl noch eher aus einem Zusammengehörigkeitsgefühl mit anderen Menschen denn "Verantwortung".
Wenn man nun die evolutionäre Wurzel des Verantwortungsgefühls aus den Zusammenhängen der Gruppenzugehörigkeit heraus erklären will, macht es natürlich viel Sinn, mit dem Begriff "commitment" zu arbeiten. Dementsprechend erbringt die Bildersuche zu "commitment" im Internet oft auch zusammenhaltende Hände, während die Bildersuche zu "responsibility" eher die Verantwortlichkeit des einzelnen für sich selbst in den Vordergrund stellt, zum Beispiel auch für die Erhaltung der natürlichen Lebenswelt auf unserer Erde. Man könnte auch sagen: Verantwortung ist "unmittelbar zu Gott", während Verpflichtung noch eher in einem Bezug zu menschlichen Gemeinschaften steht.
Ebenso ist der Begriff "commitment" mehr Gemeinschafts-bezogen, während der Begriff "responsibility" mehr die individuelle Haltung (unabhängig von einer Gemeinschaft, auf die diese Haltung bezogen sein kann) in den Vordergrund stellt. Vielleicht kann der Unterschied auch anhand der Hauptfigur des Schiller'schen Dramas "Wilhelm Tell" veranschaulicht werden. Wilhelm Tell sagt "Der Starke ist am mächstigsten allein" und fühlt durchaus eine starke, selbst gewählte Verantwortung. Diese ist aus dem eigenen Inneren abgeleitet, nicht - oder zumindest nicht vordergründig - aus dem Bezug zu der Gemeinschaft, dem Volk, dem er angehört.
Schaut man sich Erörterungen über die Unterschiede zwischen beiden Begriffen (commitment und responsibility) im Englischen an, so wird deutlich, daß sich auch Muttersprachler letztlich nicht besonders leicht auf eine klare Trennung der Bedeutungsfelder der beiden Begriffe einigen können (s. Philosophy).
"Die Aufwärtsentwicklung des Menschen ist durch konkurrierende Gruppen zu Stande gekommen"
Weiter sagt der Vortragende dann:
Die Aufwärtsentwicklung des Menschen ist durch konkurrierende Gruppen entstanden.
Diese Aussage war eine zentrale These des Zoologen Richard D. Alexander (8). Zwischenzeitlich hat sich innerhalb der Forschung viel verändert. Es kam zu einer Wiederbelebung des zuvor verdammten Konzeptes der "Gruppenselektion", es wurden neue Konzepte formuliert wie die sogenannte "Mehrere-Ebenen-Selektion" (multi-level-selection). Es kam zur "Superorganismus-Theorie". Keine derselben hat bis heute vollständige Anerkennung verschaffen können, aber jede ist heute ein wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Diskussion. In diesem Forschungsbereich gibt es weiterhin viel Bewegung (Stg25).
Auch durch die Monogamie-These von Jacobus Boomsma (s. Stg2018).
Es sei hier abschließend nur noch ein weiteres Beispiel von vielen bezüglich dieser Thematik genannt, aber sicherlich eines der anschaulichsten: Man kann von der Intelligenz-Evolution des aschkenasischen Judentums in den letzten tausend Jahren (Wiki) sagen, daß sie in einer Konkurrenzsituation erfolgt ist innerhalb eines Minderheitenvolkes, das bestrebt war, gegenüber einer Mehrheitsbevölkerung seine kulturellen und genetischen Eigenschaften zu erhalten und damit zugleich seinen religiösen Ziele treu zu bleiben.
Ein anderer Bereich, zu dem die hier erörterten Inhalte in Bezug gesetzt werden können, sind die in den letzten Jahrzehnten von Seiten der Philosophie thematisierten "thymotischen Energien", bzw. der "thymotische Zorn" (5-7). Auch diese Energien können ja - nach der Philosophie Mathilde Ludendorffs - unter anderem auch als Abwehr von Entwicklungen angesehen werden, die ganzen großen Gesellschaften abträglich sind, und damit als ein Ausfluß des Gottesstolzes, der Gottverantwortung, sowie der Gruppenverantwortung.
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- Bading, Ingo: 1979 - Die Zeitschrift "Die Deutsche Volkshochschule" wird gegründet. Auf: Die Deutsche Volkshochschule, Digitale Zeitschrift, 25.3.2017, http://fuerkultur.blogspot.de/1979/05/1979-die-zeitschrift-die-deutsche.html
- Leupold, Hermin: Der wesentliche Schritt vom Tier zum Menschen. Eine philosophische Psychologie. Erster Aufsatz um Rahmenthema „Die stammesgeschichtliche Entstehung des Menschen aus der Sicht der Naturwissenschaft und der Philosophie“. In: Die Deutsche Volkshochschule (Ratekau), Folge 89, Januar 1994, S. 1-11
- Ludendorff, Mathilde: Aus der Gotterkenntnis meiner Werke. Ludendorffs Verlag, München 1935
- Boyd, Robert; Richerson, Peter J.: The Evolution of Subjective Commitment to Groups: A Tribal Instincts Hypothesis. Randolph M. Nesse (ed.): Evolution and the Capacity for Commitment. New York 2001, 186-220
- Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
- Bading, Ingo: "Müssen wir zur eigenen Verteidigung selbst zorniger werden?" Auf: Studium generale, 11. April 2007, http://studgendeutsch.blogspot.de/2007/04/mssen-wir-zur-eigenen-verteidigung.html
- Bading, Ingo: Peter Sloterdijk - "thymotische Energien" zu Ende denken. Auf: Studium generale, 4. Juli 2007, http://studgendeutsch.blogspot.de/2007/07/peter-sloterdijk-thymotische-energien.html
- Alexander, Richard D.: Evolution of the Human Psyche. In: Paul Mellars, C. Stringer (Ed.): The Human Revolution. Behavioral and Biological Perspecitves on the Origins of Modern Humans. Edinburgh 1989, S. 455-514
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